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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Neue Novellen

weiter: "Tewes schlich sich zu Nike und sagte in teilnehmender Bekümmernis:
"War jewiß ein naher Verwandter von ihr, der Herr Klopfstock!" Nike sah
ihn mit Angen an, die vor Verwunderung rollten, dann lachte sie ziemlich
laut und wandte, darüber erschreckend, ihr freundliches Gesicht zu Hannchen
hin seiner Vrant, ihrer Schwester^, ob die wohl die Frage gehört habe. Nein,
es war noch gut abgegangen. Tewes stellte sich, etwas gelangweilt, an den
Stamm der Linde, schlug mit seinem gelben Stöckchen daran lind sagte, nach¬
dem er anch die Arme probeweise um den gewaltigen Baum gelegt hatte:
"Wenn der richtig jeschnitten wird, kam? er mindestens eine halbe Million
Hammerstiele liefern." Betroffen sahen die Geschwister in die prächtige Krone
hinauf, in all die Tausende von leise schwankenden grünen Herzen, in deren
jedem der geheimnisvolle Lebenssaft von Zelle zu Zelle stieg und feinen vollen
frischen Odem über die stillen Grabsteine und die noch im Tageslicht wan¬
delnden ausgoß. Hannchen fühlte plötzlich eine Thräne ihr (ihr?) ins Auge
treten, sie senkte den Kopf und kehrte nach dem Wagen zurück" u. f. w.

Dies ein Beispiel von der großen Kunst Ilse Frapans, durch Handlung
zu charakterisiren. Sie ist lakonisch oder wortreich, je nachdem es ihr zur
Charakteristik der Figur Paßt; aber die seltne Kunst, mit einem Ausruf, mit
einem Wörtchen eine Sache abzuthun, eine Natur sich verraten zu lassen, besitzt
sie in ungewöhnlichem Maße. In derselben Novelle findet folgender kleine
Dialog zwischen den altmodischen Geschwistern statt. "Einmal kam Johann zu
Nike in die Küche und fragte ohne alle Einleitung: "Hör, wie lauge ist sie
eigentlich tot?" -- "Tot? wer soll tot sein?" rief Nike erschrocken. "Seht!
Tewes' Frau!" erwiderte er, sich ängstlich umsehend. "Ein halbes Jahr,
glaub ich," stotterte die Schwester. "Oha!" machte Johann und sah sie mit
so ausdrucksvoller Miene an, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg. Als sie
sich auf eine Antwort besonnen hatte, war der Bruder schon weg." Dieses
"Oha!" spricht mehr als eine lange Auseinandersetzung über den Manu, der
nach kaum sechsmonatlicher Witwerschaft schon wieder auf Freiersfüßeu wandelt;
und die Erzählerin fügt auch weiter nichts hinzu. Das sind Stileigenheiten,
wie sie nur bedeutende Dichter aufweise".

Die acht Novellen des Bandes sind von ungleicher Größe, auch vou un¬
gleichem Werte. "Das Vrosämle," "Der Erste," "Vou der Straße," "Die
Liebe ist gerettet" sind kleinern Umfanges, Skizzen tragischer und heiterer Art,
die mit einer oder zwei Situationen den Stoff erschöpfen. Das Meisterstück
unter diesen Kleinigkeiten ist ohne Zweifel "Von der Straße." Die Erzählerin
fängt im Vorübergehen einen unfreundlichen Wortwechsel zwischen zwei Liebes¬
leuten auf, die sie nie gesehen hat: der Dialog allein erzählt genug von dieser
Liebe eines wenig klugen Mädchens zu einem rohen Manne. Nach einiger
Zeit trifft die Erzählerin dasselbe Paar in einer dramatisch bewegten Szene:
der Mann wird, vermutlich wegen eines schweren Diebstahls, von der Polizei


Neue Novellen

weiter: „Tewes schlich sich zu Nike und sagte in teilnehmender Bekümmernis:
»War jewiß ein naher Verwandter von ihr, der Herr Klopfstock!« Nike sah
ihn mit Angen an, die vor Verwunderung rollten, dann lachte sie ziemlich
laut und wandte, darüber erschreckend, ihr freundliches Gesicht zu Hannchen
hin seiner Vrant, ihrer Schwester^, ob die wohl die Frage gehört habe. Nein,
es war noch gut abgegangen. Tewes stellte sich, etwas gelangweilt, an den
Stamm der Linde, schlug mit seinem gelben Stöckchen daran lind sagte, nach¬
dem er anch die Arme probeweise um den gewaltigen Baum gelegt hatte:
»Wenn der richtig jeschnitten wird, kam? er mindestens eine halbe Million
Hammerstiele liefern.« Betroffen sahen die Geschwister in die prächtige Krone
hinauf, in all die Tausende von leise schwankenden grünen Herzen, in deren
jedem der geheimnisvolle Lebenssaft von Zelle zu Zelle stieg und feinen vollen
frischen Odem über die stillen Grabsteine und die noch im Tageslicht wan¬
delnden ausgoß. Hannchen fühlte plötzlich eine Thräne ihr (ihr?) ins Auge
treten, sie senkte den Kopf und kehrte nach dem Wagen zurück" u. f. w.

Dies ein Beispiel von der großen Kunst Ilse Frapans, durch Handlung
zu charakterisiren. Sie ist lakonisch oder wortreich, je nachdem es ihr zur
Charakteristik der Figur Paßt; aber die seltne Kunst, mit einem Ausruf, mit
einem Wörtchen eine Sache abzuthun, eine Natur sich verraten zu lassen, besitzt
sie in ungewöhnlichem Maße. In derselben Novelle findet folgender kleine
Dialog zwischen den altmodischen Geschwistern statt. „Einmal kam Johann zu
Nike in die Küche und fragte ohne alle Einleitung: »Hör, wie lauge ist sie
eigentlich tot?« — »Tot? wer soll tot sein?« rief Nike erschrocken. »Seht!
Tewes' Frau!« erwiderte er, sich ängstlich umsehend. »Ein halbes Jahr,
glaub ich,« stotterte die Schwester. »Oha!« machte Johann und sah sie mit
so ausdrucksvoller Miene an, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg. Als sie
sich auf eine Antwort besonnen hatte, war der Bruder schon weg." Dieses
„Oha!" spricht mehr als eine lange Auseinandersetzung über den Manu, der
nach kaum sechsmonatlicher Witwerschaft schon wieder auf Freiersfüßeu wandelt;
und die Erzählerin fügt auch weiter nichts hinzu. Das sind Stileigenheiten,
wie sie nur bedeutende Dichter aufweise».

Die acht Novellen des Bandes sind von ungleicher Größe, auch vou un¬
gleichem Werte. „Das Vrosämle," „Der Erste," „Vou der Straße," „Die
Liebe ist gerettet" sind kleinern Umfanges, Skizzen tragischer und heiterer Art,
die mit einer oder zwei Situationen den Stoff erschöpfen. Das Meisterstück
unter diesen Kleinigkeiten ist ohne Zweifel „Von der Straße." Die Erzählerin
fängt im Vorübergehen einen unfreundlichen Wortwechsel zwischen zwei Liebes¬
leuten auf, die sie nie gesehen hat: der Dialog allein erzählt genug von dieser
Liebe eines wenig klugen Mädchens zu einem rohen Manne. Nach einiger
Zeit trifft die Erzählerin dasselbe Paar in einer dramatisch bewegten Szene:
der Mann wird, vermutlich wegen eines schweren Diebstahls, von der Polizei


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[0432] Neue Novellen weiter: „Tewes schlich sich zu Nike und sagte in teilnehmender Bekümmernis: »War jewiß ein naher Verwandter von ihr, der Herr Klopfstock!« Nike sah ihn mit Angen an, die vor Verwunderung rollten, dann lachte sie ziemlich laut und wandte, darüber erschreckend, ihr freundliches Gesicht zu Hannchen hin seiner Vrant, ihrer Schwester^, ob die wohl die Frage gehört habe. Nein, es war noch gut abgegangen. Tewes stellte sich, etwas gelangweilt, an den Stamm der Linde, schlug mit seinem gelben Stöckchen daran lind sagte, nach¬ dem er anch die Arme probeweise um den gewaltigen Baum gelegt hatte: »Wenn der richtig jeschnitten wird, kam? er mindestens eine halbe Million Hammerstiele liefern.« Betroffen sahen die Geschwister in die prächtige Krone hinauf, in all die Tausende von leise schwankenden grünen Herzen, in deren jedem der geheimnisvolle Lebenssaft von Zelle zu Zelle stieg und feinen vollen frischen Odem über die stillen Grabsteine und die noch im Tageslicht wan¬ delnden ausgoß. Hannchen fühlte plötzlich eine Thräne ihr (ihr?) ins Auge treten, sie senkte den Kopf und kehrte nach dem Wagen zurück" u. f. w. Dies ein Beispiel von der großen Kunst Ilse Frapans, durch Handlung zu charakterisiren. Sie ist lakonisch oder wortreich, je nachdem es ihr zur Charakteristik der Figur Paßt; aber die seltne Kunst, mit einem Ausruf, mit einem Wörtchen eine Sache abzuthun, eine Natur sich verraten zu lassen, besitzt sie in ungewöhnlichem Maße. In derselben Novelle findet folgender kleine Dialog zwischen den altmodischen Geschwistern statt. „Einmal kam Johann zu Nike in die Küche und fragte ohne alle Einleitung: »Hör, wie lauge ist sie eigentlich tot?« — »Tot? wer soll tot sein?« rief Nike erschrocken. »Seht! Tewes' Frau!« erwiderte er, sich ängstlich umsehend. »Ein halbes Jahr, glaub ich,« stotterte die Schwester. »Oha!« machte Johann und sah sie mit so ausdrucksvoller Miene an, daß ihr das Blut ins Gesicht stieg. Als sie sich auf eine Antwort besonnen hatte, war der Bruder schon weg." Dieses „Oha!" spricht mehr als eine lange Auseinandersetzung über den Manu, der nach kaum sechsmonatlicher Witwerschaft schon wieder auf Freiersfüßeu wandelt; und die Erzählerin fügt auch weiter nichts hinzu. Das sind Stileigenheiten, wie sie nur bedeutende Dichter aufweise». Die acht Novellen des Bandes sind von ungleicher Größe, auch vou un¬ gleichem Werte. „Das Vrosämle," „Der Erste," „Vou der Straße," „Die Liebe ist gerettet" sind kleinern Umfanges, Skizzen tragischer und heiterer Art, die mit einer oder zwei Situationen den Stoff erschöpfen. Das Meisterstück unter diesen Kleinigkeiten ist ohne Zweifel „Von der Straße." Die Erzählerin fängt im Vorübergehen einen unfreundlichen Wortwechsel zwischen zwei Liebes¬ leuten auf, die sie nie gesehen hat: der Dialog allein erzählt genug von dieser Liebe eines wenig klugen Mädchens zu einem rohen Manne. Nach einiger Zeit trifft die Erzählerin dasselbe Paar in einer dramatisch bewegten Szene: der Mann wird, vermutlich wegen eines schweren Diebstahls, von der Polizei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/432>, abgerufen am 03.07.2024.