Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Neue Novellen "begeht rasch das minder wesentliche, von ihm mag sie auch ihre Kunst des Über eine solche Erscheinung muß man doch seine Freude haben. Ihre Neue Novellen "begeht rasch das minder wesentliche, von ihm mag sie auch ihre Kunst des Über eine solche Erscheinung muß man doch seine Freude haben. Ihre <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0431" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207726"/> <fw type="header" place="top"> Neue Novellen</fw><lb/> <p xml:id="ID_1187" prev="#ID_1186"> "begeht rasch das minder wesentliche, von ihm mag sie auch ihre Kunst des<lb/> Helldunkels gelernt haben. Auch ihre Absicht ist immer, Stimmung hervor¬<lb/> zurufen, das satte Bild und Gefühl eines Zustandes zu erzeugen. Dabei ist<lb/> sie Meister in der Charakteristik. Sie, der Erzähler, spricht scheinbar gar nichts,<lb/> sie kritisirt nicht ihre Figuren, sondern alles wird durch kleine oder größere,<lb/> mehr oder weniger symbolisch bedeutsame Züge vor Augen gestellt. Es wird<lb/> wahrhaft erzählt. Damit erreicht sie eine fesselnde Gegenständlichkeit, erzeugt<lb/> in uns die rein ästhetische Stimmung des Beschauers, und wenn sie uns auch<lb/> Furchtbares erzählt - - das Entsetzlichste erspart sie uns so ist das noch<lb/> lange nicht so nervenzerreißend, wie es heutzutage Mode ist. Sie gestaltet,<lb/> sie bildet eben lind redet nicht. Charakteristik und Handlung sind in vor¬<lb/> trefflichem Gleichgewichte, man kann die eine nicht von der andern trennen,<lb/> kaum anders nacherzählen, als wie sie es selbst gethan hat, weil alle Schönheit<lb/> in der Form liegt. So durchaus Form, d. h. so künstlerisch durchgebildet aus<lb/> jeder Seite ist uicht so bald ein modernes Novellenbnch. Die Folge davon<lb/> ist, daß man die Geschichten nicht atemlos liest, sondern behaglich bei jeder<lb/> Seite verweilt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1188" next="#ID_1189"> Über eine solche Erscheinung muß man doch seine Freude haben. Ihre<lb/> Menschen wählt die Erzählerin aus der bürgerlichen Sphäre, dein Arbeiter-, Kauf¬<lb/> manns-, Lehrer-, Gewerbestand, auch die Theaterwelt kennt sie. Es sind meist<lb/> lveuig komplizirte Naturen, die in voller Harmonie mit sich selbst und ihrem<lb/> Zustande leben, den Blick auf naheliegende bescheidne Ziele gerichtet. Auch sie<lb/> verhält sich kritisch gegen die Gegenwart, aber man vergleiche doch ihre „Alt-<lb/> Modischen Leute" mit irgend einem an französischen Mustern großgezogenen<lb/> Berliner Realisten. Ma» sollte es kaum glauben, daß moderne Figuren in so<lb/> Poetischer Satire dargestellt werden können. Da stellt sie uns einen solchen<lb/> Charakter neuesten Schlages mit seinem rohen Nützlichkeitssinn, mit seiner un-<lb/> lvählerischen Genußsucht, mit seinem Mangel an Pietät, mit seinein patzigen,<lb/> Protzigen Auftreten voller Selbstgefühl, weil er so und so viel tausend Mark<lb/> besitzt, in Gestalt ihres Möbelhändlers Tewes hin und kontrastirt ihn mit<lb/> ^>nem „altmodischen" Geschwisterpaar, uns dem ein Hauch liebevollen Humors<lb/> liegt. Jener Tewes weiß z. B. mit einem sommerlichen Feiertag im Freien<lb/> nichts anzusaugen, er ist in Verzweiflung darüber, wie man die Zeit „totschlagen"<lb/> soll; er muß Karten spielen, und wäre es auch mit dein ersten besten fremden<lb/> Menschen, der ihm mi Biergarten gegenübersitzt. Indes gehen die „altmodischen"<lb/> ^nee ans nahe Ufer der Elbe und genießen das schöne Strvmbild, den Sonnen¬<lb/> untergang. Tewes ist als Tischlergeselle durch ganz Europa gewandert; er<lb/> kennt alles; aber die Klopstocklinde in der Heimatstadt, an der er hundertmal<lb/> vorübergefahren ist, kennt er nicht. Die „altmodischen" Leute bleiben andächtig<lb/> vor ihr stehen, um mit leiser Stimme die Inschrift des Grabes zu lesen:<lb/> "Saat vou Gott gesäet, dem Tage der Garben zu reifen." Dann heißt es</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0431]
Neue Novellen
"begeht rasch das minder wesentliche, von ihm mag sie auch ihre Kunst des
Helldunkels gelernt haben. Auch ihre Absicht ist immer, Stimmung hervor¬
zurufen, das satte Bild und Gefühl eines Zustandes zu erzeugen. Dabei ist
sie Meister in der Charakteristik. Sie, der Erzähler, spricht scheinbar gar nichts,
sie kritisirt nicht ihre Figuren, sondern alles wird durch kleine oder größere,
mehr oder weniger symbolisch bedeutsame Züge vor Augen gestellt. Es wird
wahrhaft erzählt. Damit erreicht sie eine fesselnde Gegenständlichkeit, erzeugt
in uns die rein ästhetische Stimmung des Beschauers, und wenn sie uns auch
Furchtbares erzählt - - das Entsetzlichste erspart sie uns so ist das noch
lange nicht so nervenzerreißend, wie es heutzutage Mode ist. Sie gestaltet,
sie bildet eben lind redet nicht. Charakteristik und Handlung sind in vor¬
trefflichem Gleichgewichte, man kann die eine nicht von der andern trennen,
kaum anders nacherzählen, als wie sie es selbst gethan hat, weil alle Schönheit
in der Form liegt. So durchaus Form, d. h. so künstlerisch durchgebildet aus
jeder Seite ist uicht so bald ein modernes Novellenbnch. Die Folge davon
ist, daß man die Geschichten nicht atemlos liest, sondern behaglich bei jeder
Seite verweilt.
Über eine solche Erscheinung muß man doch seine Freude haben. Ihre
Menschen wählt die Erzählerin aus der bürgerlichen Sphäre, dein Arbeiter-, Kauf¬
manns-, Lehrer-, Gewerbestand, auch die Theaterwelt kennt sie. Es sind meist
lveuig komplizirte Naturen, die in voller Harmonie mit sich selbst und ihrem
Zustande leben, den Blick auf naheliegende bescheidne Ziele gerichtet. Auch sie
verhält sich kritisch gegen die Gegenwart, aber man vergleiche doch ihre „Alt-
Modischen Leute" mit irgend einem an französischen Mustern großgezogenen
Berliner Realisten. Ma» sollte es kaum glauben, daß moderne Figuren in so
Poetischer Satire dargestellt werden können. Da stellt sie uns einen solchen
Charakter neuesten Schlages mit seinem rohen Nützlichkeitssinn, mit seiner un-
lvählerischen Genußsucht, mit seinem Mangel an Pietät, mit seinein patzigen,
Protzigen Auftreten voller Selbstgefühl, weil er so und so viel tausend Mark
besitzt, in Gestalt ihres Möbelhändlers Tewes hin und kontrastirt ihn mit
^>nem „altmodischen" Geschwisterpaar, uns dem ein Hauch liebevollen Humors
liegt. Jener Tewes weiß z. B. mit einem sommerlichen Feiertag im Freien
nichts anzusaugen, er ist in Verzweiflung darüber, wie man die Zeit „totschlagen"
soll; er muß Karten spielen, und wäre es auch mit dein ersten besten fremden
Menschen, der ihm mi Biergarten gegenübersitzt. Indes gehen die „altmodischen"
^nee ans nahe Ufer der Elbe und genießen das schöne Strvmbild, den Sonnen¬
untergang. Tewes ist als Tischlergeselle durch ganz Europa gewandert; er
kennt alles; aber die Klopstocklinde in der Heimatstadt, an der er hundertmal
vorübergefahren ist, kennt er nicht. Die „altmodischen" Leute bleiben andächtig
vor ihr stehen, um mit leiser Stimme die Inschrift des Grabes zu lesen:
"Saat vou Gott gesäet, dem Tage der Garben zu reifen." Dann heißt es
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