Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Neue Novellen

sondern in dem aller Freunde Nischers erobert. Wer min weiß, wie alle
Vorurteile, ja schon hochgespannte Erwartungen einem Dichter schädlich zu sein
pflegen (denn man setzt sich von vornherein in eine kritische Positur, und die
große Mehrzahl der Menschen empfindet keine größere Frende als die, solcher
Voreingenommenheit mit selbstgefälligen Nasenrümpfen entgegentreten zu können,
sie kommen sich da gescheiter vor, als in irgend einem andern Falle), der wird
uns wohl die Freude nachempfinden, mit der wir uus schon nach dem Lesen
der ersten Novelle: "Altmodische Leute" gestanden: wahrlich, da ist wieder
einmal ein Dichter, ein echter, gesunder, seine Kunst verstehender Dichter er¬
schienen.

Es wird ja in unsrer Belletristik jetzt fort und fort Moral gepredigt.
Es geht ein so liebloser Ton, eine so katzenjämmerliche Lebensstimmung, ein
ewiges Tadeln und Schelten, eine Unzufriedenheit mit Gott und Welt durch
unsre neuen Erzählungen, daß man in ihnen alles mögliche, uur keinen reinen
Genuß finden kann. In einem fort werden wir belehrt über die Schlechtigkeit
der Gegenwart und über die der Vergangenheit, daß die Welt ein Zuchthaus
oder auch ein Narrenhaus sei, worin der einzig Reine und Vernünftige der
Erzähler selbst ist, dem jeder Humor dabei verloren gegangen ist, und dabei
geht schließlich auch dem Leser der Humor aus und er verzichtet auf das Ver¬
gnügen, neue Bücher zu lesen. Deal auch die Form, in der sie das sagen,
ist so eintönig, so kunstlos, weil sie so freudlos ist, weil sie nicht dichterisch ist.

Da wird man wohl verstehen, was wir mit dem Freudenansrus: "Ilse
Frapan ist ein Dichter" alles sagen wollen. Es heißt das so viel als: Hier
spricht ein Mensch, der sich in allen Wandlungen und Schmerzen des Daseins,
bei allen Erfahrungen mit und an den Menschen ein reines und gesundes
Fühlen, ein Mitfühlen mit den andern, eine Frende am Leben bewahrt hat.
Er stellt sich nicht nüchtern, mit kalter Ironie über sie, sondern teilnehmend
neben sie. Er hat eine so klare, so lebhafte, so sinnlich warme Phantasie, daß
er alle Zustünde, jeden Augenblick, jede Situation tief und stark empfindet,
jeden in seinem eignen Stimmungsgehalt. Er ist nicht einseitig, sondern hat
ein empfängliches Gemüt für die verschiedensten menschlichen Charaktere. Er
kann liebevoll lächeln über die Thorheit, er kaun elegisch in die Vergangenheit
zurückschauen, ohne der Gegenwart Unrecht zu thun, er versteht die Sprache
der Natur und die Sprache der Leidenschaft, er schaut mit unmittelbarer Er¬
kenntnis in die Herzen hinein, darum kann er die Sprache des naiven Kindes
sprechen, und er sieht seine Charaktere in einer solchen Fülle von Äußerungen,
daß er nicht erst ihr Inneres analysiren muß, um es uus begreiflich zu machen,
er ist nie in Verlegenheit, durch sichtbare Handlungen und Vorgänge alles
verständlich zu macheu, was er braucht. Sicherlich hat Ilse Frapan mit großem
Fleiß und mit gutem Erfolg Theodor Storm studirt. Denn wie dieser, hebt
sie mit aller Sorgfalt ein oder zwei Situationen in jeder Fabel hervor und


Neue Novellen

sondern in dem aller Freunde Nischers erobert. Wer min weiß, wie alle
Vorurteile, ja schon hochgespannte Erwartungen einem Dichter schädlich zu sein
pflegen (denn man setzt sich von vornherein in eine kritische Positur, und die
große Mehrzahl der Menschen empfindet keine größere Frende als die, solcher
Voreingenommenheit mit selbstgefälligen Nasenrümpfen entgegentreten zu können,
sie kommen sich da gescheiter vor, als in irgend einem andern Falle), der wird
uns wohl die Freude nachempfinden, mit der wir uus schon nach dem Lesen
der ersten Novelle: „Altmodische Leute" gestanden: wahrlich, da ist wieder
einmal ein Dichter, ein echter, gesunder, seine Kunst verstehender Dichter er¬
schienen.

Es wird ja in unsrer Belletristik jetzt fort und fort Moral gepredigt.
Es geht ein so liebloser Ton, eine so katzenjämmerliche Lebensstimmung, ein
ewiges Tadeln und Schelten, eine Unzufriedenheit mit Gott und Welt durch
unsre neuen Erzählungen, daß man in ihnen alles mögliche, uur keinen reinen
Genuß finden kann. In einem fort werden wir belehrt über die Schlechtigkeit
der Gegenwart und über die der Vergangenheit, daß die Welt ein Zuchthaus
oder auch ein Narrenhaus sei, worin der einzig Reine und Vernünftige der
Erzähler selbst ist, dem jeder Humor dabei verloren gegangen ist, und dabei
geht schließlich auch dem Leser der Humor aus und er verzichtet auf das Ver¬
gnügen, neue Bücher zu lesen. Deal auch die Form, in der sie das sagen,
ist so eintönig, so kunstlos, weil sie so freudlos ist, weil sie nicht dichterisch ist.

Da wird man wohl verstehen, was wir mit dem Freudenansrus: „Ilse
Frapan ist ein Dichter" alles sagen wollen. Es heißt das so viel als: Hier
spricht ein Mensch, der sich in allen Wandlungen und Schmerzen des Daseins,
bei allen Erfahrungen mit und an den Menschen ein reines und gesundes
Fühlen, ein Mitfühlen mit den andern, eine Frende am Leben bewahrt hat.
Er stellt sich nicht nüchtern, mit kalter Ironie über sie, sondern teilnehmend
neben sie. Er hat eine so klare, so lebhafte, so sinnlich warme Phantasie, daß
er alle Zustünde, jeden Augenblick, jede Situation tief und stark empfindet,
jeden in seinem eignen Stimmungsgehalt. Er ist nicht einseitig, sondern hat
ein empfängliches Gemüt für die verschiedensten menschlichen Charaktere. Er
kann liebevoll lächeln über die Thorheit, er kaun elegisch in die Vergangenheit
zurückschauen, ohne der Gegenwart Unrecht zu thun, er versteht die Sprache
der Natur und die Sprache der Leidenschaft, er schaut mit unmittelbarer Er¬
kenntnis in die Herzen hinein, darum kann er die Sprache des naiven Kindes
sprechen, und er sieht seine Charaktere in einer solchen Fülle von Äußerungen,
daß er nicht erst ihr Inneres analysiren muß, um es uus begreiflich zu machen,
er ist nie in Verlegenheit, durch sichtbare Handlungen und Vorgänge alles
verständlich zu macheu, was er braucht. Sicherlich hat Ilse Frapan mit großem
Fleiß und mit gutem Erfolg Theodor Storm studirt. Denn wie dieser, hebt
sie mit aller Sorgfalt ein oder zwei Situationen in jeder Fabel hervor und


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0430" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207725"/>
          <fw type="header" place="top"> Neue Novellen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1184" prev="#ID_1183"> sondern in dem aller Freunde Nischers erobert. Wer min weiß, wie alle<lb/>
Vorurteile, ja schon hochgespannte Erwartungen einem Dichter schädlich zu sein<lb/>
pflegen (denn man setzt sich von vornherein in eine kritische Positur, und die<lb/>
große Mehrzahl der Menschen empfindet keine größere Frende als die, solcher<lb/>
Voreingenommenheit mit selbstgefälligen Nasenrümpfen entgegentreten zu können,<lb/>
sie kommen sich da gescheiter vor, als in irgend einem andern Falle), der wird<lb/>
uns wohl die Freude nachempfinden, mit der wir uus schon nach dem Lesen<lb/>
der ersten Novelle: &#x201E;Altmodische Leute" gestanden: wahrlich, da ist wieder<lb/>
einmal ein Dichter, ein echter, gesunder, seine Kunst verstehender Dichter er¬<lb/>
schienen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1185"> Es wird ja in unsrer Belletristik jetzt fort und fort Moral gepredigt.<lb/>
Es geht ein so liebloser Ton, eine so katzenjämmerliche Lebensstimmung, ein<lb/>
ewiges Tadeln und Schelten, eine Unzufriedenheit mit Gott und Welt durch<lb/>
unsre neuen Erzählungen, daß man in ihnen alles mögliche, uur keinen reinen<lb/>
Genuß finden kann. In einem fort werden wir belehrt über die Schlechtigkeit<lb/>
der Gegenwart und über die der Vergangenheit, daß die Welt ein Zuchthaus<lb/>
oder auch ein Narrenhaus sei, worin der einzig Reine und Vernünftige der<lb/>
Erzähler selbst ist, dem jeder Humor dabei verloren gegangen ist, und dabei<lb/>
geht schließlich auch dem Leser der Humor aus und er verzichtet auf das Ver¬<lb/>
gnügen, neue Bücher zu lesen. Deal auch die Form, in der sie das sagen,<lb/>
ist so eintönig, so kunstlos, weil sie so freudlos ist, weil sie nicht dichterisch ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1186" next="#ID_1187"> Da wird man wohl verstehen, was wir mit dem Freudenansrus: &#x201E;Ilse<lb/>
Frapan ist ein Dichter" alles sagen wollen. Es heißt das so viel als: Hier<lb/>
spricht ein Mensch, der sich in allen Wandlungen und Schmerzen des Daseins,<lb/>
bei allen Erfahrungen mit und an den Menschen ein reines und gesundes<lb/>
Fühlen, ein Mitfühlen mit den andern, eine Frende am Leben bewahrt hat.<lb/>
Er stellt sich nicht nüchtern, mit kalter Ironie über sie, sondern teilnehmend<lb/>
neben sie. Er hat eine so klare, so lebhafte, so sinnlich warme Phantasie, daß<lb/>
er alle Zustünde, jeden Augenblick, jede Situation tief und stark empfindet,<lb/>
jeden in seinem eignen Stimmungsgehalt. Er ist nicht einseitig, sondern hat<lb/>
ein empfängliches Gemüt für die verschiedensten menschlichen Charaktere. Er<lb/>
kann liebevoll lächeln über die Thorheit, er kaun elegisch in die Vergangenheit<lb/>
zurückschauen, ohne der Gegenwart Unrecht zu thun, er versteht die Sprache<lb/>
der Natur und die Sprache der Leidenschaft, er schaut mit unmittelbarer Er¬<lb/>
kenntnis in die Herzen hinein, darum kann er die Sprache des naiven Kindes<lb/>
sprechen, und er sieht seine Charaktere in einer solchen Fülle von Äußerungen,<lb/>
daß er nicht erst ihr Inneres analysiren muß, um es uus begreiflich zu machen,<lb/>
er ist nie in Verlegenheit, durch sichtbare Handlungen und Vorgänge alles<lb/>
verständlich zu macheu, was er braucht. Sicherlich hat Ilse Frapan mit großem<lb/>
Fleiß und mit gutem Erfolg Theodor Storm studirt. Denn wie dieser, hebt<lb/>
sie mit aller Sorgfalt ein oder zwei Situationen in jeder Fabel hervor und</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0430] Neue Novellen sondern in dem aller Freunde Nischers erobert. Wer min weiß, wie alle Vorurteile, ja schon hochgespannte Erwartungen einem Dichter schädlich zu sein pflegen (denn man setzt sich von vornherein in eine kritische Positur, und die große Mehrzahl der Menschen empfindet keine größere Frende als die, solcher Voreingenommenheit mit selbstgefälligen Nasenrümpfen entgegentreten zu können, sie kommen sich da gescheiter vor, als in irgend einem andern Falle), der wird uns wohl die Freude nachempfinden, mit der wir uus schon nach dem Lesen der ersten Novelle: „Altmodische Leute" gestanden: wahrlich, da ist wieder einmal ein Dichter, ein echter, gesunder, seine Kunst verstehender Dichter er¬ schienen. Es wird ja in unsrer Belletristik jetzt fort und fort Moral gepredigt. Es geht ein so liebloser Ton, eine so katzenjämmerliche Lebensstimmung, ein ewiges Tadeln und Schelten, eine Unzufriedenheit mit Gott und Welt durch unsre neuen Erzählungen, daß man in ihnen alles mögliche, uur keinen reinen Genuß finden kann. In einem fort werden wir belehrt über die Schlechtigkeit der Gegenwart und über die der Vergangenheit, daß die Welt ein Zuchthaus oder auch ein Narrenhaus sei, worin der einzig Reine und Vernünftige der Erzähler selbst ist, dem jeder Humor dabei verloren gegangen ist, und dabei geht schließlich auch dem Leser der Humor aus und er verzichtet auf das Ver¬ gnügen, neue Bücher zu lesen. Deal auch die Form, in der sie das sagen, ist so eintönig, so kunstlos, weil sie so freudlos ist, weil sie nicht dichterisch ist. Da wird man wohl verstehen, was wir mit dem Freudenansrus: „Ilse Frapan ist ein Dichter" alles sagen wollen. Es heißt das so viel als: Hier spricht ein Mensch, der sich in allen Wandlungen und Schmerzen des Daseins, bei allen Erfahrungen mit und an den Menschen ein reines und gesundes Fühlen, ein Mitfühlen mit den andern, eine Frende am Leben bewahrt hat. Er stellt sich nicht nüchtern, mit kalter Ironie über sie, sondern teilnehmend neben sie. Er hat eine so klare, so lebhafte, so sinnlich warme Phantasie, daß er alle Zustünde, jeden Augenblick, jede Situation tief und stark empfindet, jeden in seinem eignen Stimmungsgehalt. Er ist nicht einseitig, sondern hat ein empfängliches Gemüt für die verschiedensten menschlichen Charaktere. Er kann liebevoll lächeln über die Thorheit, er kaun elegisch in die Vergangenheit zurückschauen, ohne der Gegenwart Unrecht zu thun, er versteht die Sprache der Natur und die Sprache der Leidenschaft, er schaut mit unmittelbarer Er¬ kenntnis in die Herzen hinein, darum kann er die Sprache des naiven Kindes sprechen, und er sieht seine Charaktere in einer solchen Fülle von Äußerungen, daß er nicht erst ihr Inneres analysiren muß, um es uus begreiflich zu machen, er ist nie in Verlegenheit, durch sichtbare Handlungen und Vorgänge alles verständlich zu macheu, was er braucht. Sicherlich hat Ilse Frapan mit großem Fleiß und mit gutem Erfolg Theodor Storm studirt. Denn wie dieser, hebt sie mit aller Sorgfalt ein oder zwei Situationen in jeder Fabel hervor und

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/430
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/430>, abgerufen am 29.06.2024.