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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ledingen und andre Modewörter

wenigsten in solcher Aussprache. Ja, wenn man Schulrat wird! Unsre
Juristen erörtern jetzt sehr eifrig das Thema von den langzeitigen und
kurzzeitigen Freiheitsstrafen, als ob lang und kurz uicht mehr die Zeit
bedeuten könnte! Wie Habens die Leute nnr früher verstanden, wenn von
trugen und kurzen Freiheitsstrafen die Rede war? Oder von hohem
Fieber, an dessen Stelle die Mediziner jetzt nur noch vou hochgradigen reden?
Mode, nichts als Mode, wohin man hört, immer fchwatzts einer dem andern
gedankenlos nach.

Unter den Adverbien sind reine Modewörter, die sicher über kurz oder
lang wieder verschwinden werden: bislang, selbstredend, uaturgemüß
(statt natürlich) und das herrliche voll und ganz. Bislang (statt bis¬
her) wurde in den siebziger Jahren, wenn ich nicht irre, von Hannover aus
verbreitet und war binnen wenigen Jahren Modewort. Aber es wurde den
Leuten bald zu viel, und heute hat es ziemlich wieder abgewirtschaftet.
Ähnlich ist es mit selbstredend gegangen (statt selbstverständlich); es ist
nnr noch das Lieblingswort der Wein- und Zigarrenreisenden und der Laden¬
schwengel. Auch voll und ganz hat seinen Höhepunkt wohl hinter sich; es
ist auch schon zu oft mit Gänsefüßchen gedruckt und -- gesprochen worden
(man kann es wirklich mit Gänsefüßchen sprechen, man braucht sich nur recht
in die Vrust zu werfen, die Unterkehle herauszudrücken und statt o ein schönes
Gaumen-a zu sprechen: pati und ganz!), als daß es noch unbefangen ver¬
wendet werden könnte. Aus dem Wortschätze des Ministers und des Reichs-
tagsabgeordneten ist es allmählich hinabgerutscht in den des kleinstädtischen
Bürgermeisters und des Kriegervcreinsvorstehers; die wirken noch damit bei
ihrem Publikum. Inzwischen versnchens andre noch eine Zeit lang mit Um¬
stellung: ganz und voll, oder mit voll allein: dieser Ausfassung kann ich
nicht voll beipflichten -- überall deckt der Ausdruck voll deu Gedanken
"in die Tiefe seiner Auffassung voll zu würdigen -- die deutschen Gemälde
hielten den Vergleich mit den französischen voll aus u. s. w. Aber auch das
will nicht mehr recht ziehen, ganz wie eine Kleidermode, die vorbei ist, und
die man durch Umslicken noch eine Weile zu halten sucht. Naturgemäß, oder
vielmehr naturjemäß (denn es stammt unzweifelhaft aus Berlin) scheint noch
im Aufsteigen begriffen zu sein. Es ist ganz komisch, mit welcher Schnelligkeit
sich dieses Wort, das noch vor kurzer Zeit uur in seiner eigentlichen Be¬
deutung gebraucht wurde (naturgemäße Lebensweise), an den Platz des ein¬
fachen natürlich gedrängt hat. Naturgemäß ist die Studentenzeit zum
Lernen bestimmt - bei dem Fehlen einer eigentlichen Metropole nimmt natur¬
gemäß die Ortsfrage deu breitesten Raum ein -- die ans dem Arbeitsmarkte
herrschende Selbstsucht sucht naturgemäß den Lob" möglichst hinabzu¬
drücken -- die Wiedergabe durch Lichtdruck läßt naturgemäß manches
unklar -- die Sorge beginnt naturgemäß bei der Aufnahme der Lehrlinge ^


Ledingen und andre Modewörter

wenigsten in solcher Aussprache. Ja, wenn man Schulrat wird! Unsre
Juristen erörtern jetzt sehr eifrig das Thema von den langzeitigen und
kurzzeitigen Freiheitsstrafen, als ob lang und kurz uicht mehr die Zeit
bedeuten könnte! Wie Habens die Leute nnr früher verstanden, wenn von
trugen und kurzen Freiheitsstrafen die Rede war? Oder von hohem
Fieber, an dessen Stelle die Mediziner jetzt nur noch vou hochgradigen reden?
Mode, nichts als Mode, wohin man hört, immer fchwatzts einer dem andern
gedankenlos nach.

Unter den Adverbien sind reine Modewörter, die sicher über kurz oder
lang wieder verschwinden werden: bislang, selbstredend, uaturgemüß
(statt natürlich) und das herrliche voll und ganz. Bislang (statt bis¬
her) wurde in den siebziger Jahren, wenn ich nicht irre, von Hannover aus
verbreitet und war binnen wenigen Jahren Modewort. Aber es wurde den
Leuten bald zu viel, und heute hat es ziemlich wieder abgewirtschaftet.
Ähnlich ist es mit selbstredend gegangen (statt selbstverständlich); es ist
nnr noch das Lieblingswort der Wein- und Zigarrenreisenden und der Laden¬
schwengel. Auch voll und ganz hat seinen Höhepunkt wohl hinter sich; es
ist auch schon zu oft mit Gänsefüßchen gedruckt und — gesprochen worden
(man kann es wirklich mit Gänsefüßchen sprechen, man braucht sich nur recht
in die Vrust zu werfen, die Unterkehle herauszudrücken und statt o ein schönes
Gaumen-a zu sprechen: pati und ganz!), als daß es noch unbefangen ver¬
wendet werden könnte. Aus dem Wortschätze des Ministers und des Reichs-
tagsabgeordneten ist es allmählich hinabgerutscht in den des kleinstädtischen
Bürgermeisters und des Kriegervcreinsvorstehers; die wirken noch damit bei
ihrem Publikum. Inzwischen versnchens andre noch eine Zeit lang mit Um¬
stellung: ganz und voll, oder mit voll allein: dieser Ausfassung kann ich
nicht voll beipflichten — überall deckt der Ausdruck voll deu Gedanken
»in die Tiefe seiner Auffassung voll zu würdigen — die deutschen Gemälde
hielten den Vergleich mit den französischen voll aus u. s. w. Aber auch das
will nicht mehr recht ziehen, ganz wie eine Kleidermode, die vorbei ist, und
die man durch Umslicken noch eine Weile zu halten sucht. Naturgemäß, oder
vielmehr naturjemäß (denn es stammt unzweifelhaft aus Berlin) scheint noch
im Aufsteigen begriffen zu sein. Es ist ganz komisch, mit welcher Schnelligkeit
sich dieses Wort, das noch vor kurzer Zeit uur in seiner eigentlichen Be¬
deutung gebraucht wurde (naturgemäße Lebensweise), an den Platz des ein¬
fachen natürlich gedrängt hat. Naturgemäß ist die Studentenzeit zum
Lernen bestimmt - bei dem Fehlen einer eigentlichen Metropole nimmt natur¬
gemäß die Ortsfrage deu breitesten Raum ein — die ans dem Arbeitsmarkte
herrschende Selbstsucht sucht naturgemäß den Lob» möglichst hinabzu¬
drücken — die Wiedergabe durch Lichtdruck läßt naturgemäß manches
unklar — die Sorge beginnt naturgemäß bei der Aufnahme der Lehrlinge ^


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[0422] Ledingen und andre Modewörter wenigsten in solcher Aussprache. Ja, wenn man Schulrat wird! Unsre Juristen erörtern jetzt sehr eifrig das Thema von den langzeitigen und kurzzeitigen Freiheitsstrafen, als ob lang und kurz uicht mehr die Zeit bedeuten könnte! Wie Habens die Leute nnr früher verstanden, wenn von trugen und kurzen Freiheitsstrafen die Rede war? Oder von hohem Fieber, an dessen Stelle die Mediziner jetzt nur noch vou hochgradigen reden? Mode, nichts als Mode, wohin man hört, immer fchwatzts einer dem andern gedankenlos nach. Unter den Adverbien sind reine Modewörter, die sicher über kurz oder lang wieder verschwinden werden: bislang, selbstredend, uaturgemüß (statt natürlich) und das herrliche voll und ganz. Bislang (statt bis¬ her) wurde in den siebziger Jahren, wenn ich nicht irre, von Hannover aus verbreitet und war binnen wenigen Jahren Modewort. Aber es wurde den Leuten bald zu viel, und heute hat es ziemlich wieder abgewirtschaftet. Ähnlich ist es mit selbstredend gegangen (statt selbstverständlich); es ist nnr noch das Lieblingswort der Wein- und Zigarrenreisenden und der Laden¬ schwengel. Auch voll und ganz hat seinen Höhepunkt wohl hinter sich; es ist auch schon zu oft mit Gänsefüßchen gedruckt und — gesprochen worden (man kann es wirklich mit Gänsefüßchen sprechen, man braucht sich nur recht in die Vrust zu werfen, die Unterkehle herauszudrücken und statt o ein schönes Gaumen-a zu sprechen: pati und ganz!), als daß es noch unbefangen ver¬ wendet werden könnte. Aus dem Wortschätze des Ministers und des Reichs- tagsabgeordneten ist es allmählich hinabgerutscht in den des kleinstädtischen Bürgermeisters und des Kriegervcreinsvorstehers; die wirken noch damit bei ihrem Publikum. Inzwischen versnchens andre noch eine Zeit lang mit Um¬ stellung: ganz und voll, oder mit voll allein: dieser Ausfassung kann ich nicht voll beipflichten — überall deckt der Ausdruck voll deu Gedanken »in die Tiefe seiner Auffassung voll zu würdigen — die deutschen Gemälde hielten den Vergleich mit den französischen voll aus u. s. w. Aber auch das will nicht mehr recht ziehen, ganz wie eine Kleidermode, die vorbei ist, und die man durch Umslicken noch eine Weile zu halten sucht. Naturgemäß, oder vielmehr naturjemäß (denn es stammt unzweifelhaft aus Berlin) scheint noch im Aufsteigen begriffen zu sein. Es ist ganz komisch, mit welcher Schnelligkeit sich dieses Wort, das noch vor kurzer Zeit uur in seiner eigentlichen Be¬ deutung gebraucht wurde (naturgemäße Lebensweise), an den Platz des ein¬ fachen natürlich gedrängt hat. Naturgemäß ist die Studentenzeit zum Lernen bestimmt - bei dem Fehlen einer eigentlichen Metropole nimmt natur¬ gemäß die Ortsfrage deu breitesten Raum ein — die ans dem Arbeitsmarkte herrschende Selbstsucht sucht naturgemäß den Lob» möglichst hinabzu¬ drücken — die Wiedergabe durch Lichtdruck läßt naturgemäß manches unklar — die Sorge beginnt naturgemäß bei der Aufnahme der Lehrlinge ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/422>, abgerufen am 22.07.2024.