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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Ans der Stadt des Reichskaminergenchts

konzipirte Parteischriften von Ano'alten, die in ihrer wunderlichen, mit zahllosen
lateinischen Brocken gespickter Sprache kaum dein heutigen Juristen verständlich
sind, wurden in großen Pakete" zusammengeschnürt vorgefunden, so wie sie
eingeschickt worden waren; niemand hatte die Zeit gesunden, sie auch nur zu
öffnen.

Neben den Akten bewahrt das Archiv noch eine Anzahl von Merkwürdig¬
keiten aus der Reich skammergerichtszeit- die erwähnte Matrikel und die große
vergoldete Sanduhr, die bei den Sitzungen des Gerichts benutzt wurde und
in vier verschiednen Gläsern Zeitabschnitte von einer Viertel-, einer halben,
drei Viertel- und einer ganzen Stunde maß. Der Gerichtsstab, den der
Vorsitzende als Zeichen seiner Würde bei öffentlichen Sitzungen in der Hand
hielt -- ein Geschenk Kaiser Maximilians I. an den ersten Knmmerrichtcr,
Grafen Eitel Friedrich von Hohenzollern --, ist leider in den Wirren der Zeit
verloren gegangen. Er war ungefähr einen Meter lang, von braunem Holze,
am schwarzen Griff mit zwei elfenbeinernen Ringen versehen.

Wetzlar empfand den Verlust des Reichskammergerichts zuerst sehr schwer.
Zwar war der Großherzog von Frankfurt, Fürstprimas von Dalberg. an den
die Staat bei Auflösung des Reiches fiel, nach Kräften bemüht, den Wohlstand
der Stadt zu erhalten und für das Reichskammergericht Ersatz zu schaffen.
Er gründete zu diesem Zweck eine Rechtsschule. Diese kam aber nie zu be¬
sondern: Ansehen, obwohl Dalberg, um möglichst viele Studenten anzuziehen,
die Vorlesungen umsonst halten ließ; sie hatte auch nie hervorragende Lehrer.
Bei der bald duro.uf folgenden Umwälzung starb die neuerrichtete Akademie
eines sanften Todes.

Erst in netterer Zeit hat sich Wetzlar wieder gehoben. Eine mächtig auf¬
blühende Industrie hat die Bürger für den Verlust der Freiheit und des
höchsten deutschen Gerichtshofes in reichem Maße entschädigt. Wetzlars
Mikroskope gehen in alle Welt hinaus, seine Hochöfen schmelzen täglich unge¬
heure Eiseumcissen, die das metallreiche Lahngebirge zu Tage fördert, Walzwerke
vollenden den Prozeß und senden die glatten Eisenbarren nach allen Richtungen.
So ist, wo früher das ganze geschäftliche Leben auf allzu leichten und deshalb
unsolider Erwerb gegründet war, ein gesunder Zustand wiedergekehrt.

Der große Reiseverkehr hat Wetzlar bisher ungebührlich Vernachlässigt.
Die alte Reichsstadt ist eines Besuches wohl wert. Nicht nur, daß ein Schatz
allgemein- und litterargeschichtlicher Erinnerungen sich n" sie knüpft -- anch
das Landschaftsbild ist voll malerischen Reizes. Goethe spricht von ihr in
Ausdrücken des höchsten Entzückens' "Rings umher ist eine unaussprechliche
Schönheit der Natur" -- "Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese
Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen
'se, die mir alles ringsum gar so paradiesisch macht." Die Aussicht von
dem die Stadt beherrschenden Lahnberge ist in der That sehr schön und ver-


Grenzlwte" II IN'et ^
Ans der Stadt des Reichskaminergenchts

konzipirte Parteischriften von Ano'alten, die in ihrer wunderlichen, mit zahllosen
lateinischen Brocken gespickter Sprache kaum dein heutigen Juristen verständlich
sind, wurden in großen Pakete» zusammengeschnürt vorgefunden, so wie sie
eingeschickt worden waren; niemand hatte die Zeit gesunden, sie auch nur zu
öffnen.

Neben den Akten bewahrt das Archiv noch eine Anzahl von Merkwürdig¬
keiten aus der Reich skammergerichtszeit- die erwähnte Matrikel und die große
vergoldete Sanduhr, die bei den Sitzungen des Gerichts benutzt wurde und
in vier verschiednen Gläsern Zeitabschnitte von einer Viertel-, einer halben,
drei Viertel- und einer ganzen Stunde maß. Der Gerichtsstab, den der
Vorsitzende als Zeichen seiner Würde bei öffentlichen Sitzungen in der Hand
hielt — ein Geschenk Kaiser Maximilians I. an den ersten Knmmerrichtcr,
Grafen Eitel Friedrich von Hohenzollern —, ist leider in den Wirren der Zeit
verloren gegangen. Er war ungefähr einen Meter lang, von braunem Holze,
am schwarzen Griff mit zwei elfenbeinernen Ringen versehen.

Wetzlar empfand den Verlust des Reichskammergerichts zuerst sehr schwer.
Zwar war der Großherzog von Frankfurt, Fürstprimas von Dalberg. an den
die Staat bei Auflösung des Reiches fiel, nach Kräften bemüht, den Wohlstand
der Stadt zu erhalten und für das Reichskammergericht Ersatz zu schaffen.
Er gründete zu diesem Zweck eine Rechtsschule. Diese kam aber nie zu be¬
sondern: Ansehen, obwohl Dalberg, um möglichst viele Studenten anzuziehen,
die Vorlesungen umsonst halten ließ; sie hatte auch nie hervorragende Lehrer.
Bei der bald duro.uf folgenden Umwälzung starb die neuerrichtete Akademie
eines sanften Todes.

Erst in netterer Zeit hat sich Wetzlar wieder gehoben. Eine mächtig auf¬
blühende Industrie hat die Bürger für den Verlust der Freiheit und des
höchsten deutschen Gerichtshofes in reichem Maße entschädigt. Wetzlars
Mikroskope gehen in alle Welt hinaus, seine Hochöfen schmelzen täglich unge¬
heure Eiseumcissen, die das metallreiche Lahngebirge zu Tage fördert, Walzwerke
vollenden den Prozeß und senden die glatten Eisenbarren nach allen Richtungen.
So ist, wo früher das ganze geschäftliche Leben auf allzu leichten und deshalb
unsolider Erwerb gegründet war, ein gesunder Zustand wiedergekehrt.

Der große Reiseverkehr hat Wetzlar bisher ungebührlich Vernachlässigt.
Die alte Reichsstadt ist eines Besuches wohl wert. Nicht nur, daß ein Schatz
allgemein- und litterargeschichtlicher Erinnerungen sich n» sie knüpft — anch
das Landschaftsbild ist voll malerischen Reizes. Goethe spricht von ihr in
Ausdrücken des höchsten Entzückens' „Rings umher ist eine unaussprechliche
Schönheit der Natur" — „Ich weiß nicht, ob täuschende Geister um diese
Gegend schweben, oder ob die warme, himmlische Phantasie in meinem Herzen
'se, die mir alles ringsum gar so paradiesisch macht." Die Aussicht von
dem die Stadt beherrschenden Lahnberge ist in der That sehr schön und ver-


Grenzlwte» II IN'et ^
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/417>, abgerufen am 22.07.2024.