Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.Aus der Stadt des Reichskammergerichts löste sich das Reichskammergericht von selbst auf. Die Mehrzahl der Assessoren Die Gebunde, in denen das Gericht seine ersten und seine letzten Sitzungen Von den tausend und abertausend Akten, die das Reichskammergericht bei Unwillkürlich drängt sich einem die Frage auf, ob denn nicht die Streit¬ Aus der Stadt des Reichskammergerichts löste sich das Reichskammergericht von selbst auf. Die Mehrzahl der Assessoren Die Gebunde, in denen das Gericht seine ersten und seine letzten Sitzungen Von den tausend und abertausend Akten, die das Reichskammergericht bei Unwillkürlich drängt sich einem die Frage auf, ob denn nicht die Streit¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0416" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207711"/> <fw type="header" place="top"> Aus der Stadt des Reichskammergerichts</fw><lb/> <p xml:id="ID_1144" prev="#ID_1143"> löste sich das Reichskammergericht von selbst auf. Die Mehrzahl der Assessoren<lb/> kehrte in die Heimat zurück, nur einzelne behielten ihren Wohnsitz in Wetzlar<lb/> bei und führten dort ein Scheindasein. Ihrer letzten einer war der Neichs-<lb/> generalfiskal, d. h. der erste Anwalt des Kaisers, Franz Albert Konstantin<lb/> Werner. Man begrub diesen letzten Zeugen einer dahingeschwundener Zeit im<lb/> Jahre 1834 auf dem Kirchhofe zu Wetzlar.</p><lb/> <p xml:id="ID_1145"> Die Gebunde, in denen das Gericht seine ersten und seine letzten Sitzungen<lb/> abgehalten hat, sind verschwunden. Das eine — das alte Rathaus — ist<lb/> im vorigen Jahrhundert niedergebrannt, das andre hat unlängst dem neuen<lb/> Pvstgebäude weichen müssen, nachdem es zuerst als Kaserne und dann, in<lb/> seinen untern Räumlichkeiten, gegen wenige Mark Miete einem Weinhändler als<lb/> Lager gedient hatte. Lio drinne, g'loren muruii. Nur eines der vom Reichs-<lb/> t'ammergericht zu seinen Sitzungen benutzten Häuser ist noch erhalten: ein<lb/> Doppeladler auf blutrotem Felde verkündet noch seine ehemalige Bestimmung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1146"> Von den tausend und abertausend Akten, die das Reichskammergericht bei<lb/> seiner Auflösung unerledigt zurückgelassen hat, ist nur ein Teil im Staats¬<lb/> archiv zu Wetzlar geblieben; alle nichtpreußischen Sachen, also anch die han-<lb/> növerschen, hessischen n. s. w., sind in den fünfziger Jahren an die betreffenden<lb/> Bundesstaaten abgegeben und von diesen wohl zum Teil längst eingestampft<lb/> worden. Schade darum, denn manche Akten enthalten wertvolles geschichtliches<lb/> Material. Vielleicht führt ein günstiges Geschick wenigstens alle jetzt preußi¬<lb/> schen Akten wieder zusammen, und zwar an einem Ort, der nicht so fern von<lb/> der großen Heerstraße liegt wie Wetzlar; denn dorthin verirrt sich selten jemand,<lb/> um archivalische Forschungen zu macheu.</p><lb/> <p xml:id="ID_1147" next="#ID_1148"> Unwillkürlich drängt sich einem die Frage auf, ob denn nicht die Streit¬<lb/> teile nach Aufhebung des Reichskamniergerichts auf Beendigung der Prozesse<lb/> gedrängt haben? Sehr selten! Einzelne der Landesregierungen erließen damals<lb/> entsprechende Aufforderungen, aber der Erfolg war mäßig, nur wenige der<lb/> Neichskannuergerichtsprozesfe wurden auf Betreiben der Parteien von den<lb/> höchsten Laudesgerichteu zu Ende geführt. Die Parteien waren im Laufe des<lb/> Rechtsstreits verdorben, gestorben. War es doch schon zur Zeit des Bestehens<lb/> des Neichskammergerichts oft vorgekommen, daß ein Urteil, an dem Geschlechter<lb/> von Assessoren gearbeitet hatten, schließlich nicht eingelöst wurde. Dies hatte<lb/> den Anlaß gegeben, die Sitte des Sollizitirens einzuführen: die Parteien sollten<lb/> ein stetes Interesse an der Förderung des Prozesses zeigen. Der Arbeitsstoff<lb/> war zu groß für die wenigen Richter, daher mußten sie aus dem vorhandnen<lb/> Prozeßmaterial das dringendste wählen und zur Entscheidung zu bringen suchen.<lb/> Alljährlich gingen über hundert neue Sache» ein, erledigt wurden uur etwa<lb/> fünfzig. So sammelten sich allmählich ungeheure Altenberge. Manche der im<lb/> Wetzlarer Staatsarchiv schlummernden Akten sind von den Richtern überhaupt<lb/> nicht berührt worden; umfangreiche Urteile von Untergerichten, mühsam</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0416]
Aus der Stadt des Reichskammergerichts
löste sich das Reichskammergericht von selbst auf. Die Mehrzahl der Assessoren
kehrte in die Heimat zurück, nur einzelne behielten ihren Wohnsitz in Wetzlar
bei und führten dort ein Scheindasein. Ihrer letzten einer war der Neichs-
generalfiskal, d. h. der erste Anwalt des Kaisers, Franz Albert Konstantin
Werner. Man begrub diesen letzten Zeugen einer dahingeschwundener Zeit im
Jahre 1834 auf dem Kirchhofe zu Wetzlar.
Die Gebunde, in denen das Gericht seine ersten und seine letzten Sitzungen
abgehalten hat, sind verschwunden. Das eine — das alte Rathaus — ist
im vorigen Jahrhundert niedergebrannt, das andre hat unlängst dem neuen
Pvstgebäude weichen müssen, nachdem es zuerst als Kaserne und dann, in
seinen untern Räumlichkeiten, gegen wenige Mark Miete einem Weinhändler als
Lager gedient hatte. Lio drinne, g'loren muruii. Nur eines der vom Reichs-
t'ammergericht zu seinen Sitzungen benutzten Häuser ist noch erhalten: ein
Doppeladler auf blutrotem Felde verkündet noch seine ehemalige Bestimmung.
Von den tausend und abertausend Akten, die das Reichskammergericht bei
seiner Auflösung unerledigt zurückgelassen hat, ist nur ein Teil im Staats¬
archiv zu Wetzlar geblieben; alle nichtpreußischen Sachen, also anch die han-
növerschen, hessischen n. s. w., sind in den fünfziger Jahren an die betreffenden
Bundesstaaten abgegeben und von diesen wohl zum Teil längst eingestampft
worden. Schade darum, denn manche Akten enthalten wertvolles geschichtliches
Material. Vielleicht führt ein günstiges Geschick wenigstens alle jetzt preußi¬
schen Akten wieder zusammen, und zwar an einem Ort, der nicht so fern von
der großen Heerstraße liegt wie Wetzlar; denn dorthin verirrt sich selten jemand,
um archivalische Forschungen zu macheu.
Unwillkürlich drängt sich einem die Frage auf, ob denn nicht die Streit¬
teile nach Aufhebung des Reichskamniergerichts auf Beendigung der Prozesse
gedrängt haben? Sehr selten! Einzelne der Landesregierungen erließen damals
entsprechende Aufforderungen, aber der Erfolg war mäßig, nur wenige der
Neichskannuergerichtsprozesfe wurden auf Betreiben der Parteien von den
höchsten Laudesgerichteu zu Ende geführt. Die Parteien waren im Laufe des
Rechtsstreits verdorben, gestorben. War es doch schon zur Zeit des Bestehens
des Neichskammergerichts oft vorgekommen, daß ein Urteil, an dem Geschlechter
von Assessoren gearbeitet hatten, schließlich nicht eingelöst wurde. Dies hatte
den Anlaß gegeben, die Sitte des Sollizitirens einzuführen: die Parteien sollten
ein stetes Interesse an der Förderung des Prozesses zeigen. Der Arbeitsstoff
war zu groß für die wenigen Richter, daher mußten sie aus dem vorhandnen
Prozeßmaterial das dringendste wählen und zur Entscheidung zu bringen suchen.
Alljährlich gingen über hundert neue Sache» ein, erledigt wurden uur etwa
fünfzig. So sammelten sich allmählich ungeheure Altenberge. Manche der im
Wetzlarer Staatsarchiv schlummernden Akten sind von den Richtern überhaupt
nicht berührt worden; umfangreiche Urteile von Untergerichten, mühsam
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