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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus der Stadt des Reichsklimmergerichts

fehlt auch auf den Weitgereisten ihre Wirkung nicht. Kühn klettern die schmucken
schiefergedeckten Häuser der Stadt deu Bergrücken hinan, der sich ans dein
Thal zwischen dem Lahnberg und der Höhe des Kalsmunt erhebt, allesamt
überragt von dem stattlichen Dom, der mit seinen mannichfachen, vom roma¬
ttischen zum gothischen Stil übergehenden Bauformen ein Abbild der Jahr¬
hunderte seiner Erbauung ist. Einer der Türme, ein plumper Rundbau aus
blauschwarzeiu Basalt, soll nach sagenhafter Überlieferung noch aus der Römer¬
zeit stammen; wenigstens hat mau behauptet, daß gewisse roh gemeißelte Stein-
metzarbeiteu in seinem Mauerwerk, angeblich Widderhörner, den Turm als
ehemalige" Tempel des Juppiter Ammon kennzeichneten. In neuerer Zeit ist
zwar mit ziemlicher Sicherheit dargethan worden, daß der Bau erst dem achten
oder neunten Jahrhundert n. Chr. angehört, im Volksmunde heißt er aber
trotzdem uach wie vor der Heideuturm. Leider ist der Wetzlarer Dom gleich
so vielen andern Baudenkmälern des Mittelalters unvollendet geblieben und
geht jetzt laugsam dem Verfall entgegen, da seit der großherzigen Spende
König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen nichts mehr sür seine Erhaltung
geschieht.

Jenseits der Stadt steht auf schroffem Bergkegel die alte Burgfeste Kals¬
munt, ehemals der Sitz stattlicher Burgmänner, denen der Schutz der Stadt
anvertraut war. Einzelne Chronisten haben auch in ihr einen Überrest aus
römischer Zeit erblicken wollen; jetzt betrachtet man die Burg mit mehr Grund
als eine der Befestigungen, die Karl der Große zum Schutz gegen die Einfälle
räuberischer Sachsen an den Marken des Reiches errichtete: daher der Name
Kalsmnnt, d. h. Karls Schutz. Ju deu unruhigen Zeiten des frühern Mittel¬
alters war die Feste oft berufen, ihre schützende Hand über die Stadt auszu¬
breiten. Denn nicht immer genügte die Mauer der Stadt, um die Bürger
vor Kriegsnvt zu wahren. Jetzt sind Burg und Mauer zerfallen; die Burg
ist von Feindeshand zerstört, die Stadtmauer hat der Baulust der Neuzeit
weichen müssen, die überall über das Weichbild der mittelalterlichen Städte
hinausgreift. Einst hatte die Mauer sieben Türme, entsprechend der Zahl der
Zünfte, die zu ihrer Verteidigung bestimmt waren; aber nur einer von ihnen
fristet noch ein kümmerliches Dasein, der sogenannte Säuturm; seinen letzten
Genossen, den Schneiderturm, den die ehrsame Zunft von der Nadel be¬
wachen mußte, hat man vor einigen Jahren niedergerissen.

Rings um die Stadt zieht sich ein Kranz wohlgepflegter Gärten, aus
deren lauschigen Grille die barocken Häuser der alten Neichskantinergerichts-
beisitzer im Sommer freundlich hervorblicken. Über die Stadt hinaus aber
schweift der Blick in die fruchtbaren Gefilde des weiten Lahnthales. Zu beiden
Seiten erheben sich sauftgeformte Höhenzttge, zur Rechten der Westerwald, zur
Linken der bäderreiche Taunus, gekrönt von romantisch gelegenen Burgen und
Klöstern. Da ist zur Rechten, dem Kalsmunt schräg gegenüber, das frühere


Aus der Stadt des Reichsklimmergerichts

fehlt auch auf den Weitgereisten ihre Wirkung nicht. Kühn klettern die schmucken
schiefergedeckten Häuser der Stadt deu Bergrücken hinan, der sich ans dein
Thal zwischen dem Lahnberg und der Höhe des Kalsmunt erhebt, allesamt
überragt von dem stattlichen Dom, der mit seinen mannichfachen, vom roma¬
ttischen zum gothischen Stil übergehenden Bauformen ein Abbild der Jahr¬
hunderte seiner Erbauung ist. Einer der Türme, ein plumper Rundbau aus
blauschwarzeiu Basalt, soll nach sagenhafter Überlieferung noch aus der Römer¬
zeit stammen; wenigstens hat mau behauptet, daß gewisse roh gemeißelte Stein-
metzarbeiteu in seinem Mauerwerk, angeblich Widderhörner, den Turm als
ehemalige» Tempel des Juppiter Ammon kennzeichneten. In neuerer Zeit ist
zwar mit ziemlicher Sicherheit dargethan worden, daß der Bau erst dem achten
oder neunten Jahrhundert n. Chr. angehört, im Volksmunde heißt er aber
trotzdem uach wie vor der Heideuturm. Leider ist der Wetzlarer Dom gleich
so vielen andern Baudenkmälern des Mittelalters unvollendet geblieben und
geht jetzt laugsam dem Verfall entgegen, da seit der großherzigen Spende
König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen nichts mehr sür seine Erhaltung
geschieht.

Jenseits der Stadt steht auf schroffem Bergkegel die alte Burgfeste Kals¬
munt, ehemals der Sitz stattlicher Burgmänner, denen der Schutz der Stadt
anvertraut war. Einzelne Chronisten haben auch in ihr einen Überrest aus
römischer Zeit erblicken wollen; jetzt betrachtet man die Burg mit mehr Grund
als eine der Befestigungen, die Karl der Große zum Schutz gegen die Einfälle
räuberischer Sachsen an den Marken des Reiches errichtete: daher der Name
Kalsmnnt, d. h. Karls Schutz. Ju deu unruhigen Zeiten des frühern Mittel¬
alters war die Feste oft berufen, ihre schützende Hand über die Stadt auszu¬
breiten. Denn nicht immer genügte die Mauer der Stadt, um die Bürger
vor Kriegsnvt zu wahren. Jetzt sind Burg und Mauer zerfallen; die Burg
ist von Feindeshand zerstört, die Stadtmauer hat der Baulust der Neuzeit
weichen müssen, die überall über das Weichbild der mittelalterlichen Städte
hinausgreift. Einst hatte die Mauer sieben Türme, entsprechend der Zahl der
Zünfte, die zu ihrer Verteidigung bestimmt waren; aber nur einer von ihnen
fristet noch ein kümmerliches Dasein, der sogenannte Säuturm; seinen letzten
Genossen, den Schneiderturm, den die ehrsame Zunft von der Nadel be¬
wachen mußte, hat man vor einigen Jahren niedergerissen.

Rings um die Stadt zieht sich ein Kranz wohlgepflegter Gärten, aus
deren lauschigen Grille die barocken Häuser der alten Neichskantinergerichts-
beisitzer im Sommer freundlich hervorblicken. Über die Stadt hinaus aber
schweift der Blick in die fruchtbaren Gefilde des weiten Lahnthales. Zu beiden
Seiten erheben sich sauftgeformte Höhenzttge, zur Rechten der Westerwald, zur
Linken der bäderreiche Taunus, gekrönt von romantisch gelegenen Burgen und
Klöstern. Da ist zur Rechten, dem Kalsmunt schräg gegenüber, das frühere


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[0418] Aus der Stadt des Reichsklimmergerichts fehlt auch auf den Weitgereisten ihre Wirkung nicht. Kühn klettern die schmucken schiefergedeckten Häuser der Stadt deu Bergrücken hinan, der sich ans dein Thal zwischen dem Lahnberg und der Höhe des Kalsmunt erhebt, allesamt überragt von dem stattlichen Dom, der mit seinen mannichfachen, vom roma¬ ttischen zum gothischen Stil übergehenden Bauformen ein Abbild der Jahr¬ hunderte seiner Erbauung ist. Einer der Türme, ein plumper Rundbau aus blauschwarzeiu Basalt, soll nach sagenhafter Überlieferung noch aus der Römer¬ zeit stammen; wenigstens hat mau behauptet, daß gewisse roh gemeißelte Stein- metzarbeiteu in seinem Mauerwerk, angeblich Widderhörner, den Turm als ehemalige» Tempel des Juppiter Ammon kennzeichneten. In neuerer Zeit ist zwar mit ziemlicher Sicherheit dargethan worden, daß der Bau erst dem achten oder neunten Jahrhundert n. Chr. angehört, im Volksmunde heißt er aber trotzdem uach wie vor der Heideuturm. Leider ist der Wetzlarer Dom gleich so vielen andern Baudenkmälern des Mittelalters unvollendet geblieben und geht jetzt laugsam dem Verfall entgegen, da seit der großherzigen Spende König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen nichts mehr sür seine Erhaltung geschieht. Jenseits der Stadt steht auf schroffem Bergkegel die alte Burgfeste Kals¬ munt, ehemals der Sitz stattlicher Burgmänner, denen der Schutz der Stadt anvertraut war. Einzelne Chronisten haben auch in ihr einen Überrest aus römischer Zeit erblicken wollen; jetzt betrachtet man die Burg mit mehr Grund als eine der Befestigungen, die Karl der Große zum Schutz gegen die Einfälle räuberischer Sachsen an den Marken des Reiches errichtete: daher der Name Kalsmnnt, d. h. Karls Schutz. Ju deu unruhigen Zeiten des frühern Mittel¬ alters war die Feste oft berufen, ihre schützende Hand über die Stadt auszu¬ breiten. Denn nicht immer genügte die Mauer der Stadt, um die Bürger vor Kriegsnvt zu wahren. Jetzt sind Burg und Mauer zerfallen; die Burg ist von Feindeshand zerstört, die Stadtmauer hat der Baulust der Neuzeit weichen müssen, die überall über das Weichbild der mittelalterlichen Städte hinausgreift. Einst hatte die Mauer sieben Türme, entsprechend der Zahl der Zünfte, die zu ihrer Verteidigung bestimmt waren; aber nur einer von ihnen fristet noch ein kümmerliches Dasein, der sogenannte Säuturm; seinen letzten Genossen, den Schneiderturm, den die ehrsame Zunft von der Nadel be¬ wachen mußte, hat man vor einigen Jahren niedergerissen. Rings um die Stadt zieht sich ein Kranz wohlgepflegter Gärten, aus deren lauschigen Grille die barocken Häuser der alten Neichskantinergerichts- beisitzer im Sommer freundlich hervorblicken. Über die Stadt hinaus aber schweift der Blick in die fruchtbaren Gefilde des weiten Lahnthales. Zu beiden Seiten erheben sich sauftgeformte Höhenzttge, zur Rechten der Westerwald, zur Linken der bäderreiche Taunus, gekrönt von romantisch gelegenen Burgen und Klöstern. Da ist zur Rechten, dem Kalsmunt schräg gegenüber, das frühere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/418>, abgerufen am 28.09.2024.