Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Vie Aufgabe der Gegenwart

das Gefüge der Ämter, die Verzweigung der Verwaltung, das System der
Sicherheits- nud Bremsvorrichtungen einen, meisterlichen Eindruck. Bon unten
besehen, nimmt man von alledem nichts gewahr, man sieht nur die Enden,
und die entbehren, wie gesagt, der nötigen Festigkeit. Der Verfasser des Aus¬
satzes in Nummer 17 beklagt es mit Recht, daß die großen Stadtgemeinden
innerhalb des Staates aristokratische Republiken darstellen; aber die kleinen
Stadtgemeinden sind Demokratien, in denen die kleinen Kleons mit "nnent-
wegtem" Mannesmute ihr großes Maul aufthun, wahrend die Bürger in ihrem
kleinen, feigen Eigennutz ins Mauseloch kriechen. Und auf dem Lande herrscht
-- man kann sagen an vielen Orten -- polnische Wirtschaft. Da ist jeder auf
seinem Misthaufen ein kleiner König, dn macht jeder, was er will, vorausgesetzt,
daß er sich nicht vor seinem eignen Knechte ducken muß. Eine Gemeindeordnung
ist nicht vorhanden, die Gemeindebeschlüsse geschehen nnter endlosem Gezänk
und nach den verkehrtesten Gesichtspunkten, die Gemeindewahlen sind oft der
reine Spott. Die staatliche Aufsicht erstreckt sich auf Geldsachen, als ob die
Paar Groschen das höchste Gut des Volkes wäre; sie wird nach den Regeln
der Kunst ausgeübt, verhindert aber nicht, daß, wo ein geriebener Schulze und
ein geriebener Dorfschreiber vorhanden sind, dem Herrn Landrat ein .L für
ein U gemacht wird. Ich könnte erbauliche Geschichten erzählen. Wenns einmal
schlimm wird, so ist es nicht schwer, zu entschlüpfen. Man hat zu den land-
rntlicheu Bureaus seine Hinterthüren, und der Herr Landrat, der mit Geschäften
überbürdet ist und dem jedes neue Gesetz die Hauptlast bringt, muß sich auf
seine Unterbeamten verlassen.

In den untern Volksschichten ist das Gefühl der Unterthänigkeit, das
Bewußtsein, daß man außer Dienen und Steuerzahler überhaupt noch etwas
müsse, daß man der Allgemeinheit irgend etwas schuldig sei, ganz verloren
gegangen. Die Steuererlasse haben dabei nicht günstig gewirkt. Bor dem
Herrn Staatsanwalt und dem Herrn Gendarmen hat man allen möglichen
Respekt, hier tritt die Staatsgewalt mit ungeschwächter Kraft auf; aber ihre
Wirksamkeit beginnt erst mit dem Vergehen, also jenseits der Grenze des Ge¬
bietes, das hier in Frage kommt. Man überschätze die ländliche Bevölkerung
nicht, auch die nicht, die konservativ wählt. Sie ist tief angefressen, es bedarf
w'ehe erst der Berührung mit den Städten, um sie zu verderben. Die zu Tage
tretenden Erscheinungen der Volkskrankheit sehen dort anders ans als die der
reinen Sozialdemokratie, darum werden sie leicht verkannt, aber beide sind nahe
'uit einander verwandt. Wir stehen unmittelbar vor dein Beginne der ländlichen
Streiks, vielleicht, daß sie schou während der diesjährigen Nübeuarbeit -- dem
^wpfindlichsteu Punkte des Landwirtes -- ausbrechen.

Es ist dem Einzelnen ein großes Maß persönlicher Freiheit gegeben, aber
dabei übersehen worden, dem Staate das nötige Gegengewicht zu bewahren.
Der Staat selbst hat sich hinter die Kulissen zurückgezogen in dein übergroßen


Vie Aufgabe der Gegenwart

das Gefüge der Ämter, die Verzweigung der Verwaltung, das System der
Sicherheits- nud Bremsvorrichtungen einen, meisterlichen Eindruck. Bon unten
besehen, nimmt man von alledem nichts gewahr, man sieht nur die Enden,
und die entbehren, wie gesagt, der nötigen Festigkeit. Der Verfasser des Aus¬
satzes in Nummer 17 beklagt es mit Recht, daß die großen Stadtgemeinden
innerhalb des Staates aristokratische Republiken darstellen; aber die kleinen
Stadtgemeinden sind Demokratien, in denen die kleinen Kleons mit „nnent-
wegtem" Mannesmute ihr großes Maul aufthun, wahrend die Bürger in ihrem
kleinen, feigen Eigennutz ins Mauseloch kriechen. Und auf dem Lande herrscht
— man kann sagen an vielen Orten — polnische Wirtschaft. Da ist jeder auf
seinem Misthaufen ein kleiner König, dn macht jeder, was er will, vorausgesetzt,
daß er sich nicht vor seinem eignen Knechte ducken muß. Eine Gemeindeordnung
ist nicht vorhanden, die Gemeindebeschlüsse geschehen nnter endlosem Gezänk
und nach den verkehrtesten Gesichtspunkten, die Gemeindewahlen sind oft der
reine Spott. Die staatliche Aufsicht erstreckt sich auf Geldsachen, als ob die
Paar Groschen das höchste Gut des Volkes wäre; sie wird nach den Regeln
der Kunst ausgeübt, verhindert aber nicht, daß, wo ein geriebener Schulze und
ein geriebener Dorfschreiber vorhanden sind, dem Herrn Landrat ein .L für
ein U gemacht wird. Ich könnte erbauliche Geschichten erzählen. Wenns einmal
schlimm wird, so ist es nicht schwer, zu entschlüpfen. Man hat zu den land-
rntlicheu Bureaus seine Hinterthüren, und der Herr Landrat, der mit Geschäften
überbürdet ist und dem jedes neue Gesetz die Hauptlast bringt, muß sich auf
seine Unterbeamten verlassen.

In den untern Volksschichten ist das Gefühl der Unterthänigkeit, das
Bewußtsein, daß man außer Dienen und Steuerzahler überhaupt noch etwas
müsse, daß man der Allgemeinheit irgend etwas schuldig sei, ganz verloren
gegangen. Die Steuererlasse haben dabei nicht günstig gewirkt. Bor dem
Herrn Staatsanwalt und dem Herrn Gendarmen hat man allen möglichen
Respekt, hier tritt die Staatsgewalt mit ungeschwächter Kraft auf; aber ihre
Wirksamkeit beginnt erst mit dem Vergehen, also jenseits der Grenze des Ge¬
bietes, das hier in Frage kommt. Man überschätze die ländliche Bevölkerung
nicht, auch die nicht, die konservativ wählt. Sie ist tief angefressen, es bedarf
w'ehe erst der Berührung mit den Städten, um sie zu verderben. Die zu Tage
tretenden Erscheinungen der Volkskrankheit sehen dort anders ans als die der
reinen Sozialdemokratie, darum werden sie leicht verkannt, aber beide sind nahe
'uit einander verwandt. Wir stehen unmittelbar vor dein Beginne der ländlichen
Streiks, vielleicht, daß sie schou während der diesjährigen Nübeuarbeit — dem
^wpfindlichsteu Punkte des Landwirtes — ausbrechen.

Es ist dem Einzelnen ein großes Maß persönlicher Freiheit gegeben, aber
dabei übersehen worden, dem Staate das nötige Gegengewicht zu bewahren.
Der Staat selbst hat sich hinter die Kulissen zurückgezogen in dein übergroßen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0395" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207690"/>
          <fw type="header" place="top"> Vie Aufgabe der Gegenwart</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1073" prev="#ID_1072"> das Gefüge der Ämter, die Verzweigung der Verwaltung, das System der<lb/>
Sicherheits- nud Bremsvorrichtungen einen, meisterlichen Eindruck. Bon unten<lb/>
besehen, nimmt man von alledem nichts gewahr, man sieht nur die Enden,<lb/>
und die entbehren, wie gesagt, der nötigen Festigkeit. Der Verfasser des Aus¬<lb/>
satzes in Nummer 17 beklagt es mit Recht, daß die großen Stadtgemeinden<lb/>
innerhalb des Staates aristokratische Republiken darstellen; aber die kleinen<lb/>
Stadtgemeinden sind Demokratien, in denen die kleinen Kleons mit &#x201E;nnent-<lb/>
wegtem" Mannesmute ihr großes Maul aufthun, wahrend die Bürger in ihrem<lb/>
kleinen, feigen Eigennutz ins Mauseloch kriechen. Und auf dem Lande herrscht<lb/>
&#x2014; man kann sagen an vielen Orten &#x2014; polnische Wirtschaft. Da ist jeder auf<lb/>
seinem Misthaufen ein kleiner König, dn macht jeder, was er will, vorausgesetzt,<lb/>
daß er sich nicht vor seinem eignen Knechte ducken muß. Eine Gemeindeordnung<lb/>
ist nicht vorhanden, die Gemeindebeschlüsse geschehen nnter endlosem Gezänk<lb/>
und nach den verkehrtesten Gesichtspunkten, die Gemeindewahlen sind oft der<lb/>
reine Spott. Die staatliche Aufsicht erstreckt sich auf Geldsachen, als ob die<lb/>
Paar Groschen das höchste Gut des Volkes wäre; sie wird nach den Regeln<lb/>
der Kunst ausgeübt, verhindert aber nicht, daß, wo ein geriebener Schulze und<lb/>
ein geriebener Dorfschreiber vorhanden sind, dem Herrn Landrat ein .L für<lb/>
ein U gemacht wird. Ich könnte erbauliche Geschichten erzählen. Wenns einmal<lb/>
schlimm wird, so ist es nicht schwer, zu entschlüpfen. Man hat zu den land-<lb/>
rntlicheu Bureaus seine Hinterthüren, und der Herr Landrat, der mit Geschäften<lb/>
überbürdet ist und dem jedes neue Gesetz die Hauptlast bringt, muß sich auf<lb/>
seine Unterbeamten verlassen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1074"> In den untern Volksschichten ist das Gefühl der Unterthänigkeit, das<lb/>
Bewußtsein, daß man außer Dienen und Steuerzahler überhaupt noch etwas<lb/>
müsse, daß man der Allgemeinheit irgend etwas schuldig sei, ganz verloren<lb/>
gegangen. Die Steuererlasse haben dabei nicht günstig gewirkt. Bor dem<lb/>
Herrn Staatsanwalt und dem Herrn Gendarmen hat man allen möglichen<lb/>
Respekt, hier tritt die Staatsgewalt mit ungeschwächter Kraft auf; aber ihre<lb/>
Wirksamkeit beginnt erst mit dem Vergehen, also jenseits der Grenze des Ge¬<lb/>
bietes, das hier in Frage kommt. Man überschätze die ländliche Bevölkerung<lb/>
nicht, auch die nicht, die konservativ wählt. Sie ist tief angefressen, es bedarf<lb/>
w'ehe erst der Berührung mit den Städten, um sie zu verderben. Die zu Tage<lb/>
tretenden Erscheinungen der Volkskrankheit sehen dort anders ans als die der<lb/>
reinen Sozialdemokratie, darum werden sie leicht verkannt, aber beide sind nahe<lb/>
'uit einander verwandt. Wir stehen unmittelbar vor dein Beginne der ländlichen<lb/>
Streiks, vielleicht, daß sie schou während der diesjährigen Nübeuarbeit &#x2014; dem<lb/>
^wpfindlichsteu Punkte des Landwirtes &#x2014; ausbrechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1075" next="#ID_1076"> Es ist dem Einzelnen ein großes Maß persönlicher Freiheit gegeben, aber<lb/>
dabei übersehen worden, dem Staate das nötige Gegengewicht zu bewahren.<lb/>
Der Staat selbst hat sich hinter die Kulissen zurückgezogen in dein übergroßen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0395] Vie Aufgabe der Gegenwart das Gefüge der Ämter, die Verzweigung der Verwaltung, das System der Sicherheits- nud Bremsvorrichtungen einen, meisterlichen Eindruck. Bon unten besehen, nimmt man von alledem nichts gewahr, man sieht nur die Enden, und die entbehren, wie gesagt, der nötigen Festigkeit. Der Verfasser des Aus¬ satzes in Nummer 17 beklagt es mit Recht, daß die großen Stadtgemeinden innerhalb des Staates aristokratische Republiken darstellen; aber die kleinen Stadtgemeinden sind Demokratien, in denen die kleinen Kleons mit „nnent- wegtem" Mannesmute ihr großes Maul aufthun, wahrend die Bürger in ihrem kleinen, feigen Eigennutz ins Mauseloch kriechen. Und auf dem Lande herrscht — man kann sagen an vielen Orten — polnische Wirtschaft. Da ist jeder auf seinem Misthaufen ein kleiner König, dn macht jeder, was er will, vorausgesetzt, daß er sich nicht vor seinem eignen Knechte ducken muß. Eine Gemeindeordnung ist nicht vorhanden, die Gemeindebeschlüsse geschehen nnter endlosem Gezänk und nach den verkehrtesten Gesichtspunkten, die Gemeindewahlen sind oft der reine Spott. Die staatliche Aufsicht erstreckt sich auf Geldsachen, als ob die Paar Groschen das höchste Gut des Volkes wäre; sie wird nach den Regeln der Kunst ausgeübt, verhindert aber nicht, daß, wo ein geriebener Schulze und ein geriebener Dorfschreiber vorhanden sind, dem Herrn Landrat ein .L für ein U gemacht wird. Ich könnte erbauliche Geschichten erzählen. Wenns einmal schlimm wird, so ist es nicht schwer, zu entschlüpfen. Man hat zu den land- rntlicheu Bureaus seine Hinterthüren, und der Herr Landrat, der mit Geschäften überbürdet ist und dem jedes neue Gesetz die Hauptlast bringt, muß sich auf seine Unterbeamten verlassen. In den untern Volksschichten ist das Gefühl der Unterthänigkeit, das Bewußtsein, daß man außer Dienen und Steuerzahler überhaupt noch etwas müsse, daß man der Allgemeinheit irgend etwas schuldig sei, ganz verloren gegangen. Die Steuererlasse haben dabei nicht günstig gewirkt. Bor dem Herrn Staatsanwalt und dem Herrn Gendarmen hat man allen möglichen Respekt, hier tritt die Staatsgewalt mit ungeschwächter Kraft auf; aber ihre Wirksamkeit beginnt erst mit dem Vergehen, also jenseits der Grenze des Ge¬ bietes, das hier in Frage kommt. Man überschätze die ländliche Bevölkerung nicht, auch die nicht, die konservativ wählt. Sie ist tief angefressen, es bedarf w'ehe erst der Berührung mit den Städten, um sie zu verderben. Die zu Tage tretenden Erscheinungen der Volkskrankheit sehen dort anders ans als die der reinen Sozialdemokratie, darum werden sie leicht verkannt, aber beide sind nahe 'uit einander verwandt. Wir stehen unmittelbar vor dein Beginne der ländlichen Streiks, vielleicht, daß sie schou während der diesjährigen Nübeuarbeit — dem ^wpfindlichsteu Punkte des Landwirtes — ausbrechen. Es ist dem Einzelnen ein großes Maß persönlicher Freiheit gegeben, aber dabei übersehen worden, dem Staate das nötige Gegengewicht zu bewahren. Der Staat selbst hat sich hinter die Kulissen zurückgezogen in dein übergroßen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/395
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/395>, abgerufen am 01.07.2024.