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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Es ist eine Thatsache, daß sich die gesetzgeberische Kraft nach unten zu
verflüchtigt, und daß sich die staatliche Autorität gerade da unwirksam zeigt,
wo sie am meisten wirken sollte, in der breiten Masse des Volkes. Denkt
man sich das staatliche Regiment als eine Anzahl von Zügeln, die in einer
Hand beisammen liegen und sich weiterhin teilen und verzweigen, so ist das
Ende der Verzweigungen so dünn und schlaff, daß sich der kräftige Zug in
ein gelindes Wackeln auflöst -- eben da, wo er wirken sollte.

Machen wir uns keine Illusionen. Die obern Zehntausend sind nicht das
Volk, die Ministerien und Regierungen sind nicht der Staat. Der Schwer¬
punkt der Staatsregierung ruht nicht einmal bei ihnen, sondern - so wunderbar
es klingt -- bei der Lokalbehörde. Was ein Bergwerk gewinnt, wird "vor
Ort" erarbeitet. Die Herren im Bureau, "die es wissen, aber nicht können,"
sind ja auch nötig, aber ein bureaukratisch geleitetes Bergwerk macht keine Ge¬
schäfte. So geht es dem Staate auch. "Bor Ort" wird gearbeitet. Die
beste Regierung, die schönste Verwaltung bleibt wirkungslos, wenn den Loknl-
behörden die Aufgabe verkümmert oder das Werkzeug entzogen wird. Darum
hat der Herr Berichterstatter über die hessischen Zustände recht, wenn er sagt:
Die Lokalbehörden müssen gestärkt werden. Man kann unmöglich einen Körper
mit großem Kopfe und kümmerliche" Armen und Füßen für normal erklären;
einen Staatskörper mit ausgebildeten Zentralbehörden und verkümmerten Lvknl-
behörden wird mau auch nicht normal nennen können.

Ich muß hier einige Fragen auswerfen, die den Freunden der Gesetzgebung
der letzten Jahrzehnte als gar nicht aufwerfbar erscheinen, deren Beantwortung
in unserm Sinne als ganz unmöglich bezeichnet wird. Es ist nur merkwürdig,
daß so vieles, was später nicht allein möglich, sondern auch wirklich ge¬
worden ist, seinerzeit als unmöglich bekämpft wurde. Ich frage also: Ist es
richtig, daß sich der Staat seinen unmittelbaren Einfluß auf die Behörde bei
der obern Instanz vorbehalten hat, daß er aber bei der untern Instanz nur
noch einen mittelbaren Einfluß ausübt? Ist es richtig, die ober" Instanzen
zu ernennen, aber die untern Instanzen wählbar zu machen? Ist es richtig,
neben die Provinzial- und Kreisregierung Selbstverwaltungs-Körperschaften mit
solcher Selbständigkeit zu stellen, daß die unmittelbaren Staatsbehörden in ihrer
Thätigkeit arg beeinträchtigt werden? Ist es richtig, den Amtskreis der Selbst¬
verwaltung ans Gegenstände auszudehnen, die sich der Staat vorbehalten müßte?
ich meine unter anderm die Polizeiverwaltnng, ich meine die so sehr gerühmte
Einrichtung der Amtsvorsteher. Ist es richtig, den städtischen und ländlichen
Gemeinden -- um "gute Wahlen" zu haben und um das Verwaltuugsstreit-
verfahren und andre Unbequemlichkeiten zu vermeiden -......ein Entgegenkommen
zu zeigen, das an Schwachheit grenzt?

Der Staat von oben besehen sieht ganz anders ans als von unten besehen,
und leider kennen die Herren ebeu meist nnr den Anblick von oben. Da macht


Es ist eine Thatsache, daß sich die gesetzgeberische Kraft nach unten zu
verflüchtigt, und daß sich die staatliche Autorität gerade da unwirksam zeigt,
wo sie am meisten wirken sollte, in der breiten Masse des Volkes. Denkt
man sich das staatliche Regiment als eine Anzahl von Zügeln, die in einer
Hand beisammen liegen und sich weiterhin teilen und verzweigen, so ist das
Ende der Verzweigungen so dünn und schlaff, daß sich der kräftige Zug in
ein gelindes Wackeln auflöst — eben da, wo er wirken sollte.

Machen wir uns keine Illusionen. Die obern Zehntausend sind nicht das
Volk, die Ministerien und Regierungen sind nicht der Staat. Der Schwer¬
punkt der Staatsregierung ruht nicht einmal bei ihnen, sondern - so wunderbar
es klingt — bei der Lokalbehörde. Was ein Bergwerk gewinnt, wird „vor
Ort" erarbeitet. Die Herren im Bureau, „die es wissen, aber nicht können,"
sind ja auch nötig, aber ein bureaukratisch geleitetes Bergwerk macht keine Ge¬
schäfte. So geht es dem Staate auch. „Bor Ort" wird gearbeitet. Die
beste Regierung, die schönste Verwaltung bleibt wirkungslos, wenn den Loknl-
behörden die Aufgabe verkümmert oder das Werkzeug entzogen wird. Darum
hat der Herr Berichterstatter über die hessischen Zustände recht, wenn er sagt:
Die Lokalbehörden müssen gestärkt werden. Man kann unmöglich einen Körper
mit großem Kopfe und kümmerliche» Armen und Füßen für normal erklären;
einen Staatskörper mit ausgebildeten Zentralbehörden und verkümmerten Lvknl-
behörden wird mau auch nicht normal nennen können.

Ich muß hier einige Fragen auswerfen, die den Freunden der Gesetzgebung
der letzten Jahrzehnte als gar nicht aufwerfbar erscheinen, deren Beantwortung
in unserm Sinne als ganz unmöglich bezeichnet wird. Es ist nur merkwürdig,
daß so vieles, was später nicht allein möglich, sondern auch wirklich ge¬
worden ist, seinerzeit als unmöglich bekämpft wurde. Ich frage also: Ist es
richtig, daß sich der Staat seinen unmittelbaren Einfluß auf die Behörde bei
der obern Instanz vorbehalten hat, daß er aber bei der untern Instanz nur
noch einen mittelbaren Einfluß ausübt? Ist es richtig, die ober» Instanzen
zu ernennen, aber die untern Instanzen wählbar zu machen? Ist es richtig,
neben die Provinzial- und Kreisregierung Selbstverwaltungs-Körperschaften mit
solcher Selbständigkeit zu stellen, daß die unmittelbaren Staatsbehörden in ihrer
Thätigkeit arg beeinträchtigt werden? Ist es richtig, den Amtskreis der Selbst¬
verwaltung ans Gegenstände auszudehnen, die sich der Staat vorbehalten müßte?
ich meine unter anderm die Polizeiverwaltnng, ich meine die so sehr gerühmte
Einrichtung der Amtsvorsteher. Ist es richtig, den städtischen und ländlichen
Gemeinden — um „gute Wahlen" zu haben und um das Verwaltuugsstreit-
verfahren und andre Unbequemlichkeiten zu vermeiden -......ein Entgegenkommen
zu zeigen, das an Schwachheit grenzt?

Der Staat von oben besehen sieht ganz anders ans als von unten besehen,
und leider kennen die Herren ebeu meist nnr den Anblick von oben. Da macht


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[0394] Es ist eine Thatsache, daß sich die gesetzgeberische Kraft nach unten zu verflüchtigt, und daß sich die staatliche Autorität gerade da unwirksam zeigt, wo sie am meisten wirken sollte, in der breiten Masse des Volkes. Denkt man sich das staatliche Regiment als eine Anzahl von Zügeln, die in einer Hand beisammen liegen und sich weiterhin teilen und verzweigen, so ist das Ende der Verzweigungen so dünn und schlaff, daß sich der kräftige Zug in ein gelindes Wackeln auflöst — eben da, wo er wirken sollte. Machen wir uns keine Illusionen. Die obern Zehntausend sind nicht das Volk, die Ministerien und Regierungen sind nicht der Staat. Der Schwer¬ punkt der Staatsregierung ruht nicht einmal bei ihnen, sondern - so wunderbar es klingt — bei der Lokalbehörde. Was ein Bergwerk gewinnt, wird „vor Ort" erarbeitet. Die Herren im Bureau, „die es wissen, aber nicht können," sind ja auch nötig, aber ein bureaukratisch geleitetes Bergwerk macht keine Ge¬ schäfte. So geht es dem Staate auch. „Bor Ort" wird gearbeitet. Die beste Regierung, die schönste Verwaltung bleibt wirkungslos, wenn den Loknl- behörden die Aufgabe verkümmert oder das Werkzeug entzogen wird. Darum hat der Herr Berichterstatter über die hessischen Zustände recht, wenn er sagt: Die Lokalbehörden müssen gestärkt werden. Man kann unmöglich einen Körper mit großem Kopfe und kümmerliche» Armen und Füßen für normal erklären; einen Staatskörper mit ausgebildeten Zentralbehörden und verkümmerten Lvknl- behörden wird mau auch nicht normal nennen können. Ich muß hier einige Fragen auswerfen, die den Freunden der Gesetzgebung der letzten Jahrzehnte als gar nicht aufwerfbar erscheinen, deren Beantwortung in unserm Sinne als ganz unmöglich bezeichnet wird. Es ist nur merkwürdig, daß so vieles, was später nicht allein möglich, sondern auch wirklich ge¬ worden ist, seinerzeit als unmöglich bekämpft wurde. Ich frage also: Ist es richtig, daß sich der Staat seinen unmittelbaren Einfluß auf die Behörde bei der obern Instanz vorbehalten hat, daß er aber bei der untern Instanz nur noch einen mittelbaren Einfluß ausübt? Ist es richtig, die ober» Instanzen zu ernennen, aber die untern Instanzen wählbar zu machen? Ist es richtig, neben die Provinzial- und Kreisregierung Selbstverwaltungs-Körperschaften mit solcher Selbständigkeit zu stellen, daß die unmittelbaren Staatsbehörden in ihrer Thätigkeit arg beeinträchtigt werden? Ist es richtig, den Amtskreis der Selbst¬ verwaltung ans Gegenstände auszudehnen, die sich der Staat vorbehalten müßte? ich meine unter anderm die Polizeiverwaltnng, ich meine die so sehr gerühmte Einrichtung der Amtsvorsteher. Ist es richtig, den städtischen und ländlichen Gemeinden — um „gute Wahlen" zu haben und um das Verwaltuugsstreit- verfahren und andre Unbequemlichkeiten zu vermeiden -......ein Entgegenkommen zu zeigen, das an Schwachheit grenzt? Der Staat von oben besehen sieht ganz anders ans als von unten besehen, und leider kennen die Herren ebeu meist nnr den Anblick von oben. Da macht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/394>, abgerufen am 29.06.2024.