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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

schlecht geht, und daß ihre Not stellenweise viel größer ist, als die der am
schlechtesten bezahlten Fabrikarbeiter. Allein das liegt nicht an der Haus¬
industrie an sich, sondern an Umständen, die man nicht als unabänderlich an¬
sehen darf. Zum Beispiel daran, daß sie, wie die Handweber, an einer Art
des Betriebes festhalten, der nicht mehr konkurrenzfähig ist, oder weil sie in
Abhängigkeit von Unternehmern geraten sind, oder weil der Markt mit ihren
Erzeugnissen überfüllt ist. Wäre die Rückbildung eines Teiles des Gewerbes
zu diesen ältern Zuständen möglich, so würde damit offenbar ein Teil der
sozialen Frage wegfallen.

Schäffle ist bekanntlich ein sehr entschiedner Gegner der Kapitalswirtschaft,
will aber dennoch von der Wiederherstellung des Kleingewerbes nichts wissen,
weil sie seiner Ansicht uach ein Rückschritt wäre. Diese Abneigung würde
begründet sein, wenn die Vernichtung der Großindustrie und die Aufhebung
der Fortschritte, die wir ihr verdanken, gefordert würde; aber das fällt ja
keinem verständigen Freunde des Kleingewerbes ein. Daß im Hinterstübchen
weder Kanonen gegossen, noch Schiffe, Lokomotiven und Dampfkrahue gebaut
werden können, liegt auf der Hand. Werkzeuge und Beförderungsmittel vou
gewaltigem Umfange können nur in den Werkstätten der Großindustrie her¬
gestellt werden. Daß es aber ein Rückschritt wäre, wenn die Herstellung kleiner
Gegenstände teilweise dem Kleingewerbe wiedergegeben würde, vermögen wir
nicht anzuerkennen. Der Fortschritt besteht nicht darin, daß man in derselben
Richtung ins Maßlose fortschreitet und etwa, nachdem die Leistungen des
Hochbaues durch die Anwendung des Eisens gesteigert worden sind, die Paläste
in Eifelturmform baut: alle Gemächer über statt neben einander legend. Sehr
hünfig verläßt der Kulturfortschritt die gerade herrschende Form, nachdem diese
ihre Aufgabe erfüllt hat, und kehrt zu ältern Formen zurück, sie mit den
mittlerweile erworbenen Hilfsmitteln verjüngend. Gerade als die nächste Auf¬
gabe des technischen Fortschrittes hat es Werner Siemers auf der Berliner
Naturforscherversammlung bezeichnet, das Kleingewerbe dnrch Kleinmotoren
und durch Kraftübertragung von Großmotoren aus wieder lebensfähig zu
"wehen; und er hat diese neue Entwicklung mit dem Sinken des Zinsfußes
in Zusammenhang gebracht, das schließlich der Kapitalanlage im heutigen
Sinne ein Ende machen werde. Was der größte Techniker Deutschlands auf
diesem Gebiete für möglich und für einen Fortschritt hält, das ist kein Laie
berechtigt für unmöglich und für einen Rückschritt zu erklären.

Daß der Kleinbetrieb dein Großbetriebe einfach zu weichen habe, das
gehört gewissermaßen zu den Glaubenssätzen des Liberalismus. Aber was
wirklich ist, das ist auch möglich; und da ich persönlich kleine Handwerker der
verschiedensten Gattungen kenne, die sich ganz gut nähren, darunter sogar
Schneider, so glaube ich nicht an die Unmöglichkeit des Kleinbetriebes. Die
günstigen Bedingungen, die jenen einzelnen den Fortbestand ermöglichen, lassen


Grenzboten 11 1890 46
Die soziale Frage

schlecht geht, und daß ihre Not stellenweise viel größer ist, als die der am
schlechtesten bezahlten Fabrikarbeiter. Allein das liegt nicht an der Haus¬
industrie an sich, sondern an Umständen, die man nicht als unabänderlich an¬
sehen darf. Zum Beispiel daran, daß sie, wie die Handweber, an einer Art
des Betriebes festhalten, der nicht mehr konkurrenzfähig ist, oder weil sie in
Abhängigkeit von Unternehmern geraten sind, oder weil der Markt mit ihren
Erzeugnissen überfüllt ist. Wäre die Rückbildung eines Teiles des Gewerbes
zu diesen ältern Zuständen möglich, so würde damit offenbar ein Teil der
sozialen Frage wegfallen.

Schäffle ist bekanntlich ein sehr entschiedner Gegner der Kapitalswirtschaft,
will aber dennoch von der Wiederherstellung des Kleingewerbes nichts wissen,
weil sie seiner Ansicht uach ein Rückschritt wäre. Diese Abneigung würde
begründet sein, wenn die Vernichtung der Großindustrie und die Aufhebung
der Fortschritte, die wir ihr verdanken, gefordert würde; aber das fällt ja
keinem verständigen Freunde des Kleingewerbes ein. Daß im Hinterstübchen
weder Kanonen gegossen, noch Schiffe, Lokomotiven und Dampfkrahue gebaut
werden können, liegt auf der Hand. Werkzeuge und Beförderungsmittel vou
gewaltigem Umfange können nur in den Werkstätten der Großindustrie her¬
gestellt werden. Daß es aber ein Rückschritt wäre, wenn die Herstellung kleiner
Gegenstände teilweise dem Kleingewerbe wiedergegeben würde, vermögen wir
nicht anzuerkennen. Der Fortschritt besteht nicht darin, daß man in derselben
Richtung ins Maßlose fortschreitet und etwa, nachdem die Leistungen des
Hochbaues durch die Anwendung des Eisens gesteigert worden sind, die Paläste
in Eifelturmform baut: alle Gemächer über statt neben einander legend. Sehr
hünfig verläßt der Kulturfortschritt die gerade herrschende Form, nachdem diese
ihre Aufgabe erfüllt hat, und kehrt zu ältern Formen zurück, sie mit den
mittlerweile erworbenen Hilfsmitteln verjüngend. Gerade als die nächste Auf¬
gabe des technischen Fortschrittes hat es Werner Siemers auf der Berliner
Naturforscherversammlung bezeichnet, das Kleingewerbe dnrch Kleinmotoren
und durch Kraftübertragung von Großmotoren aus wieder lebensfähig zu
"wehen; und er hat diese neue Entwicklung mit dem Sinken des Zinsfußes
in Zusammenhang gebracht, das schließlich der Kapitalanlage im heutigen
Sinne ein Ende machen werde. Was der größte Techniker Deutschlands auf
diesem Gebiete für möglich und für einen Fortschritt hält, das ist kein Laie
berechtigt für unmöglich und für einen Rückschritt zu erklären.

Daß der Kleinbetrieb dein Großbetriebe einfach zu weichen habe, das
gehört gewissermaßen zu den Glaubenssätzen des Liberalismus. Aber was
wirklich ist, das ist auch möglich; und da ich persönlich kleine Handwerker der
verschiedensten Gattungen kenne, die sich ganz gut nähren, darunter sogar
Schneider, so glaube ich nicht an die Unmöglichkeit des Kleinbetriebes. Die
günstigen Bedingungen, die jenen einzelnen den Fortbestand ermöglichen, lassen


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[0369] Die soziale Frage schlecht geht, und daß ihre Not stellenweise viel größer ist, als die der am schlechtesten bezahlten Fabrikarbeiter. Allein das liegt nicht an der Haus¬ industrie an sich, sondern an Umständen, die man nicht als unabänderlich an¬ sehen darf. Zum Beispiel daran, daß sie, wie die Handweber, an einer Art des Betriebes festhalten, der nicht mehr konkurrenzfähig ist, oder weil sie in Abhängigkeit von Unternehmern geraten sind, oder weil der Markt mit ihren Erzeugnissen überfüllt ist. Wäre die Rückbildung eines Teiles des Gewerbes zu diesen ältern Zuständen möglich, so würde damit offenbar ein Teil der sozialen Frage wegfallen. Schäffle ist bekanntlich ein sehr entschiedner Gegner der Kapitalswirtschaft, will aber dennoch von der Wiederherstellung des Kleingewerbes nichts wissen, weil sie seiner Ansicht uach ein Rückschritt wäre. Diese Abneigung würde begründet sein, wenn die Vernichtung der Großindustrie und die Aufhebung der Fortschritte, die wir ihr verdanken, gefordert würde; aber das fällt ja keinem verständigen Freunde des Kleingewerbes ein. Daß im Hinterstübchen weder Kanonen gegossen, noch Schiffe, Lokomotiven und Dampfkrahue gebaut werden können, liegt auf der Hand. Werkzeuge und Beförderungsmittel vou gewaltigem Umfange können nur in den Werkstätten der Großindustrie her¬ gestellt werden. Daß es aber ein Rückschritt wäre, wenn die Herstellung kleiner Gegenstände teilweise dem Kleingewerbe wiedergegeben würde, vermögen wir nicht anzuerkennen. Der Fortschritt besteht nicht darin, daß man in derselben Richtung ins Maßlose fortschreitet und etwa, nachdem die Leistungen des Hochbaues durch die Anwendung des Eisens gesteigert worden sind, die Paläste in Eifelturmform baut: alle Gemächer über statt neben einander legend. Sehr hünfig verläßt der Kulturfortschritt die gerade herrschende Form, nachdem diese ihre Aufgabe erfüllt hat, und kehrt zu ältern Formen zurück, sie mit den mittlerweile erworbenen Hilfsmitteln verjüngend. Gerade als die nächste Auf¬ gabe des technischen Fortschrittes hat es Werner Siemers auf der Berliner Naturforscherversammlung bezeichnet, das Kleingewerbe dnrch Kleinmotoren und durch Kraftübertragung von Großmotoren aus wieder lebensfähig zu "wehen; und er hat diese neue Entwicklung mit dem Sinken des Zinsfußes in Zusammenhang gebracht, das schließlich der Kapitalanlage im heutigen Sinne ein Ende machen werde. Was der größte Techniker Deutschlands auf diesem Gebiete für möglich und für einen Fortschritt hält, das ist kein Laie berechtigt für unmöglich und für einen Rückschritt zu erklären. Daß der Kleinbetrieb dein Großbetriebe einfach zu weichen habe, das gehört gewissermaßen zu den Glaubenssätzen des Liberalismus. Aber was wirklich ist, das ist auch möglich; und da ich persönlich kleine Handwerker der verschiedensten Gattungen kenne, die sich ganz gut nähren, darunter sogar Schneider, so glaube ich nicht an die Unmöglichkeit des Kleinbetriebes. Die günstigen Bedingungen, die jenen einzelnen den Fortbestand ermöglichen, lassen Grenzboten 11 1890 46

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/369>, abgerufen am 01.07.2024.