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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale .frage

Ohren ziehen ließen, ohne zu fragen. Sie fragten nicht, weil sie entweder zu
stumpfsinnig dazu waren, oder weil ihnen durch irgend einen religiösen Glauben
oder Aberglauben die Überzeugung eingeprägt worden war, daß dieser ihr
elender Zustand eine unabänderliche Einrichtung Gottes sei, und daß sie im
Jenseits für ihre diesseitigen Leiden würden entschädigt werden. Diese Wir¬
kung des religiösen Glaubens darf man übrigens nicht überschätzen; sie hängt
vom Temperamente des Volkes ab. Vollständig tritt sie nur bei den schlaffen
Orientalen und den halborientalischcn Slawen ein. Die lebhaften Italiener
haben in der Zeit naiver Gläubigkeit uach der Berechnung eines ihrer Geschicht¬
schreiber über siebentausend Revolutionen unternommen, deren meiste sozialer
Natur waren.

Also wir haben eine soziale Frage, aus dem ganz einfachen Grunde, weil
die Leute fragen, lind wir warten nicht einmal, bis sie von selber damit an¬
fangen, sondern wir drillen sie dazu; wir erziehen sie dazu. Wir zwingen die
Kinder der Armen, in die Schule zu gehen. Wir lehren sie dort denken, Nur
schärfen ihr Urteil, wir sperren ihnen die Augen auf und zeigen ihnen alle
Herrlichkeiten der Welt; wir lehren sie über alles räsonniren (der alte Fritz,
der kein Freund vom Räsonniren der Untergebenen war, wollte, daß der Schul¬
unterricht der ärmern Klassen auf das Notdürftigste beschränkt bleibe), und wenn
sie nicht schnell genug fortschreiten in der Kunst des Denkens, Näsvnnircns und
Fragens, so treiben wir sie aus Furcht vor dem gestrengen Herrn Schulrat
mit Prügeln dazu an. So viel allerdings wie die frühern Schulmeister dürfen
wir nicht mehr prügeln, das leidet wieder der Schulrat nicht. Denn wir
sollen jn die Kinder auch verfeinern, ihre Manieren und ihre Empfindung ver¬
edeln. Das letztere durch Poesie und moralische Betrachtungen und rührende
Geschichten und Tierschutzkalender; damit sie nur ja das Leiden jedes hart an¬
gefaßten Würmleins und jedes geprügelten Pferdes mit- und demzufolge dann
ihre eignen Leiden, Strapazen und Entbehrungen, wirkliche wie eingebildete,
zehnfach empfinden. Ein Tierarzt -- er hat es mir selbst erzählt -- stellte
kürzlich einen Maun zur Rede, der ein abgetriebenes Pferd vor seinen Wagen
gespannt hatte. Der Mann antwortete: Nun, untersuchen Sie mal gefälligst
Meinen Körper, und sagen Sie dann, ob es nicht die ärgste Tierquälerei ist,
wenn ich noch arbeiten muß? Und wovon sollte ich leben, wenn ich nicht
arbeitete?

Und nachdem N'ir die armen Leute in der Schule fragen gelehrt haben,
Lesern wir ihnen in der Presse das Material zum Fragen. Wir thun das
uicht absichtlich, sondern wir thun es, weil wirs nicht lassen können. Wir
können es nicht hindern, daß Zeitungen und Wochenblätter gedruckt werden,
und daß alle Leute lesen, die lesen gelernt haben. Die Beschaffenheit der
Presse ist nicht ganz gleichgültig, aber in Beziehung auf die Sache, um die es
sich hier handelt, spielt sie doch nur eine untergeordnete Rolle. Die Leute siud


Die soziale .frage

Ohren ziehen ließen, ohne zu fragen. Sie fragten nicht, weil sie entweder zu
stumpfsinnig dazu waren, oder weil ihnen durch irgend einen religiösen Glauben
oder Aberglauben die Überzeugung eingeprägt worden war, daß dieser ihr
elender Zustand eine unabänderliche Einrichtung Gottes sei, und daß sie im
Jenseits für ihre diesseitigen Leiden würden entschädigt werden. Diese Wir¬
kung des religiösen Glaubens darf man übrigens nicht überschätzen; sie hängt
vom Temperamente des Volkes ab. Vollständig tritt sie nur bei den schlaffen
Orientalen und den halborientalischcn Slawen ein. Die lebhaften Italiener
haben in der Zeit naiver Gläubigkeit uach der Berechnung eines ihrer Geschicht¬
schreiber über siebentausend Revolutionen unternommen, deren meiste sozialer
Natur waren.

Also wir haben eine soziale Frage, aus dem ganz einfachen Grunde, weil
die Leute fragen, lind wir warten nicht einmal, bis sie von selber damit an¬
fangen, sondern wir drillen sie dazu; wir erziehen sie dazu. Wir zwingen die
Kinder der Armen, in die Schule zu gehen. Wir lehren sie dort denken, Nur
schärfen ihr Urteil, wir sperren ihnen die Augen auf und zeigen ihnen alle
Herrlichkeiten der Welt; wir lehren sie über alles räsonniren (der alte Fritz,
der kein Freund vom Räsonniren der Untergebenen war, wollte, daß der Schul¬
unterricht der ärmern Klassen auf das Notdürftigste beschränkt bleibe), und wenn
sie nicht schnell genug fortschreiten in der Kunst des Denkens, Näsvnnircns und
Fragens, so treiben wir sie aus Furcht vor dem gestrengen Herrn Schulrat
mit Prügeln dazu an. So viel allerdings wie die frühern Schulmeister dürfen
wir nicht mehr prügeln, das leidet wieder der Schulrat nicht. Denn wir
sollen jn die Kinder auch verfeinern, ihre Manieren und ihre Empfindung ver¬
edeln. Das letztere durch Poesie und moralische Betrachtungen und rührende
Geschichten und Tierschutzkalender; damit sie nur ja das Leiden jedes hart an¬
gefaßten Würmleins und jedes geprügelten Pferdes mit- und demzufolge dann
ihre eignen Leiden, Strapazen und Entbehrungen, wirkliche wie eingebildete,
zehnfach empfinden. Ein Tierarzt — er hat es mir selbst erzählt — stellte
kürzlich einen Maun zur Rede, der ein abgetriebenes Pferd vor seinen Wagen
gespannt hatte. Der Mann antwortete: Nun, untersuchen Sie mal gefälligst
Meinen Körper, und sagen Sie dann, ob es nicht die ärgste Tierquälerei ist,
wenn ich noch arbeiten muß? Und wovon sollte ich leben, wenn ich nicht
arbeitete?

Und nachdem N'ir die armen Leute in der Schule fragen gelehrt haben,
Lesern wir ihnen in der Presse das Material zum Fragen. Wir thun das
uicht absichtlich, sondern wir thun es, weil wirs nicht lassen können. Wir
können es nicht hindern, daß Zeitungen und Wochenblätter gedruckt werden,
und daß alle Leute lesen, die lesen gelernt haben. Die Beschaffenheit der
Presse ist nicht ganz gleichgültig, aber in Beziehung auf die Sache, um die es
sich hier handelt, spielt sie doch nur eine untergeordnete Rolle. Die Leute siud


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[0365] Die soziale .frage Ohren ziehen ließen, ohne zu fragen. Sie fragten nicht, weil sie entweder zu stumpfsinnig dazu waren, oder weil ihnen durch irgend einen religiösen Glauben oder Aberglauben die Überzeugung eingeprägt worden war, daß dieser ihr elender Zustand eine unabänderliche Einrichtung Gottes sei, und daß sie im Jenseits für ihre diesseitigen Leiden würden entschädigt werden. Diese Wir¬ kung des religiösen Glaubens darf man übrigens nicht überschätzen; sie hängt vom Temperamente des Volkes ab. Vollständig tritt sie nur bei den schlaffen Orientalen und den halborientalischcn Slawen ein. Die lebhaften Italiener haben in der Zeit naiver Gläubigkeit uach der Berechnung eines ihrer Geschicht¬ schreiber über siebentausend Revolutionen unternommen, deren meiste sozialer Natur waren. Also wir haben eine soziale Frage, aus dem ganz einfachen Grunde, weil die Leute fragen, lind wir warten nicht einmal, bis sie von selber damit an¬ fangen, sondern wir drillen sie dazu; wir erziehen sie dazu. Wir zwingen die Kinder der Armen, in die Schule zu gehen. Wir lehren sie dort denken, Nur schärfen ihr Urteil, wir sperren ihnen die Augen auf und zeigen ihnen alle Herrlichkeiten der Welt; wir lehren sie über alles räsonniren (der alte Fritz, der kein Freund vom Räsonniren der Untergebenen war, wollte, daß der Schul¬ unterricht der ärmern Klassen auf das Notdürftigste beschränkt bleibe), und wenn sie nicht schnell genug fortschreiten in der Kunst des Denkens, Näsvnnircns und Fragens, so treiben wir sie aus Furcht vor dem gestrengen Herrn Schulrat mit Prügeln dazu an. So viel allerdings wie die frühern Schulmeister dürfen wir nicht mehr prügeln, das leidet wieder der Schulrat nicht. Denn wir sollen jn die Kinder auch verfeinern, ihre Manieren und ihre Empfindung ver¬ edeln. Das letztere durch Poesie und moralische Betrachtungen und rührende Geschichten und Tierschutzkalender; damit sie nur ja das Leiden jedes hart an¬ gefaßten Würmleins und jedes geprügelten Pferdes mit- und demzufolge dann ihre eignen Leiden, Strapazen und Entbehrungen, wirkliche wie eingebildete, zehnfach empfinden. Ein Tierarzt — er hat es mir selbst erzählt — stellte kürzlich einen Maun zur Rede, der ein abgetriebenes Pferd vor seinen Wagen gespannt hatte. Der Mann antwortete: Nun, untersuchen Sie mal gefälligst Meinen Körper, und sagen Sie dann, ob es nicht die ärgste Tierquälerei ist, wenn ich noch arbeiten muß? Und wovon sollte ich leben, wenn ich nicht arbeitete? Und nachdem N'ir die armen Leute in der Schule fragen gelehrt haben, Lesern wir ihnen in der Presse das Material zum Fragen. Wir thun das uicht absichtlich, sondern wir thun es, weil wirs nicht lassen können. Wir können es nicht hindern, daß Zeitungen und Wochenblätter gedruckt werden, und daß alle Leute lesen, die lesen gelernt haben. Die Beschaffenheit der Presse ist nicht ganz gleichgültig, aber in Beziehung auf die Sache, um die es sich hier handelt, spielt sie doch nur eine untergeordnete Rolle. Die Leute siud

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/365>, abgerufen am 28.12.2024.