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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

Tage lang gütlich thaten. Herren und Knechte lebten in einer solchen Ge¬
meinschaft des Entbehrens und Genießens, wie sie heute nur noch bei Offi¬
zieren und Soldaten im Felde, bei Expeditionen an den Nordpol und in
Jnnerafrika vorkommt. Die großstädtische Nähterin unsrer Tage dagegen,
wenn sie abends in ihr Dachstübchen hinaufsteigt, kommt bei so viel Paradiesen
vorüber -- zuweilen quillt ihr daraus durch einen Thürspalt ein Bächlein
Farbenpracht, Vlnmcn- und Bratenduft entgegen -- als das Haus Stockwerke
hat, und droben findet sie die Hölle; im Sommer die gewöhnliche heiße und
im Winter die Eishölle/ Leben aber alle Proletarier aus den feinen Stadt¬
teilen hinausverbannt in Arbeitervierteln beisammen, dann wirkt der Gegensatz
erst recht grell auf sie ein, so oft sie früh morgens aus den Höhlen des Massen¬
elends hereinkommen in die lichten Hallen des Massenluxns, um an der Her¬
stellung, Ausbesserung oder Erhöhung dieses Luxus zu arbeiten. Luxus gab
es ja auch schon in den alten Kulturstaaten, und der Gegensatz zwischen Reich
und Arm war daher dort fühlbarer als im mittelalterlichen Deutschland. Aber
doch nicht so fühlbar wie bei uns heute. Einmal liegen alle jene Länder im
Süden, und das begründet einen gewaltigen Unterschied; erst der Winter macht
im Norden das Leben der Armen zur Hölle. Sodann wirkten stets Kriege
und Laster zusammen, die Übervölkerung zu verhüten; man kannte nicht den
gewerblichen Kampf ums Dasein und seine beständige Angst. Endlich fehlte
der Druck, den heute Sitte, Mode und Gesetz im Verein ausüben, den zwar
alle empfinden, die Armen aber doch am meisten. Die Armen der alten Kultur-
welt waren teils hauptstädtischer Pöbel, der auf Unkosten des Staates nicht
allein gefüttert, sondern auch belustigt wurde, teils Sklaven der Großem, ein
manchmal geplagtes, meist aber vergnügt lebendes und immer liederliches Ge-
sindel, das an den Genüssen und am Müßiggange der Herren teilnahm. Heute
ist die Zahl der Leibdienerschaft großer Herren gering; aber eben diese mit
Recht sogenannten "Bedienten" (sie werden nämlich weit mehr bedient als sie
selber dienen) sind die einzigen sorglos lebenden wirklichen Freiherren unsrer
modernen Gesellschaft. Heute dagegen ist die Armut nicht bloß ein Unglück,
sondern ein Verbrechen. Wer sein Elend öffentlich zeigt, wer bettelt, wer sich
obdachlos umhertreibt, wird bestraft, auch wenn es ihm völlig unmöglich ist,
Arbeit zu bekommen und sich ein Obdach zu verschaffen.

Das Vergleichen arabes! Aus dem Vergleichen der verschiednen Lebens¬
lagen steigen die Fragen auf: warum? wozu? muß es so sein? kann es nicht
geändert werden? Und damit ist die soziale Frage gegeben. Wir haben heute
eine die ganze Kulturwelt erfüllende soziale Frage, während die früher" Zeiten
nur örtliche soziale Fragen kannten, weil heute im Weltchvr gefragt wird, was
früher nicht der Fall war. Früher gab es much in Europa Bevölkerungen,
wie sie heute nur noch in Asien und Afrika vorkommen, die da hungerten,
froren, schwitzten, sich plackten, sich prügeln und auch wohl das Fell über die


Die soziale Frage

Tage lang gütlich thaten. Herren und Knechte lebten in einer solchen Ge¬
meinschaft des Entbehrens und Genießens, wie sie heute nur noch bei Offi¬
zieren und Soldaten im Felde, bei Expeditionen an den Nordpol und in
Jnnerafrika vorkommt. Die großstädtische Nähterin unsrer Tage dagegen,
wenn sie abends in ihr Dachstübchen hinaufsteigt, kommt bei so viel Paradiesen
vorüber — zuweilen quillt ihr daraus durch einen Thürspalt ein Bächlein
Farbenpracht, Vlnmcn- und Bratenduft entgegen — als das Haus Stockwerke
hat, und droben findet sie die Hölle; im Sommer die gewöhnliche heiße und
im Winter die Eishölle/ Leben aber alle Proletarier aus den feinen Stadt¬
teilen hinausverbannt in Arbeitervierteln beisammen, dann wirkt der Gegensatz
erst recht grell auf sie ein, so oft sie früh morgens aus den Höhlen des Massen¬
elends hereinkommen in die lichten Hallen des Massenluxns, um an der Her¬
stellung, Ausbesserung oder Erhöhung dieses Luxus zu arbeiten. Luxus gab
es ja auch schon in den alten Kulturstaaten, und der Gegensatz zwischen Reich
und Arm war daher dort fühlbarer als im mittelalterlichen Deutschland. Aber
doch nicht so fühlbar wie bei uns heute. Einmal liegen alle jene Länder im
Süden, und das begründet einen gewaltigen Unterschied; erst der Winter macht
im Norden das Leben der Armen zur Hölle. Sodann wirkten stets Kriege
und Laster zusammen, die Übervölkerung zu verhüten; man kannte nicht den
gewerblichen Kampf ums Dasein und seine beständige Angst. Endlich fehlte
der Druck, den heute Sitte, Mode und Gesetz im Verein ausüben, den zwar
alle empfinden, die Armen aber doch am meisten. Die Armen der alten Kultur-
welt waren teils hauptstädtischer Pöbel, der auf Unkosten des Staates nicht
allein gefüttert, sondern auch belustigt wurde, teils Sklaven der Großem, ein
manchmal geplagtes, meist aber vergnügt lebendes und immer liederliches Ge-
sindel, das an den Genüssen und am Müßiggange der Herren teilnahm. Heute
ist die Zahl der Leibdienerschaft großer Herren gering; aber eben diese mit
Recht sogenannten „Bedienten" (sie werden nämlich weit mehr bedient als sie
selber dienen) sind die einzigen sorglos lebenden wirklichen Freiherren unsrer
modernen Gesellschaft. Heute dagegen ist die Armut nicht bloß ein Unglück,
sondern ein Verbrechen. Wer sein Elend öffentlich zeigt, wer bettelt, wer sich
obdachlos umhertreibt, wird bestraft, auch wenn es ihm völlig unmöglich ist,
Arbeit zu bekommen und sich ein Obdach zu verschaffen.

Das Vergleichen arabes! Aus dem Vergleichen der verschiednen Lebens¬
lagen steigen die Fragen auf: warum? wozu? muß es so sein? kann es nicht
geändert werden? Und damit ist die soziale Frage gegeben. Wir haben heute
eine die ganze Kulturwelt erfüllende soziale Frage, während die früher» Zeiten
nur örtliche soziale Fragen kannten, weil heute im Weltchvr gefragt wird, was
früher nicht der Fall war. Früher gab es much in Europa Bevölkerungen,
wie sie heute nur noch in Asien und Afrika vorkommen, die da hungerten,
froren, schwitzten, sich plackten, sich prügeln und auch wohl das Fell über die


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[0364] Die soziale Frage Tage lang gütlich thaten. Herren und Knechte lebten in einer solchen Ge¬ meinschaft des Entbehrens und Genießens, wie sie heute nur noch bei Offi¬ zieren und Soldaten im Felde, bei Expeditionen an den Nordpol und in Jnnerafrika vorkommt. Die großstädtische Nähterin unsrer Tage dagegen, wenn sie abends in ihr Dachstübchen hinaufsteigt, kommt bei so viel Paradiesen vorüber — zuweilen quillt ihr daraus durch einen Thürspalt ein Bächlein Farbenpracht, Vlnmcn- und Bratenduft entgegen — als das Haus Stockwerke hat, und droben findet sie die Hölle; im Sommer die gewöhnliche heiße und im Winter die Eishölle/ Leben aber alle Proletarier aus den feinen Stadt¬ teilen hinausverbannt in Arbeitervierteln beisammen, dann wirkt der Gegensatz erst recht grell auf sie ein, so oft sie früh morgens aus den Höhlen des Massen¬ elends hereinkommen in die lichten Hallen des Massenluxns, um an der Her¬ stellung, Ausbesserung oder Erhöhung dieses Luxus zu arbeiten. Luxus gab es ja auch schon in den alten Kulturstaaten, und der Gegensatz zwischen Reich und Arm war daher dort fühlbarer als im mittelalterlichen Deutschland. Aber doch nicht so fühlbar wie bei uns heute. Einmal liegen alle jene Länder im Süden, und das begründet einen gewaltigen Unterschied; erst der Winter macht im Norden das Leben der Armen zur Hölle. Sodann wirkten stets Kriege und Laster zusammen, die Übervölkerung zu verhüten; man kannte nicht den gewerblichen Kampf ums Dasein und seine beständige Angst. Endlich fehlte der Druck, den heute Sitte, Mode und Gesetz im Verein ausüben, den zwar alle empfinden, die Armen aber doch am meisten. Die Armen der alten Kultur- welt waren teils hauptstädtischer Pöbel, der auf Unkosten des Staates nicht allein gefüttert, sondern auch belustigt wurde, teils Sklaven der Großem, ein manchmal geplagtes, meist aber vergnügt lebendes und immer liederliches Ge- sindel, das an den Genüssen und am Müßiggange der Herren teilnahm. Heute ist die Zahl der Leibdienerschaft großer Herren gering; aber eben diese mit Recht sogenannten „Bedienten" (sie werden nämlich weit mehr bedient als sie selber dienen) sind die einzigen sorglos lebenden wirklichen Freiherren unsrer modernen Gesellschaft. Heute dagegen ist die Armut nicht bloß ein Unglück, sondern ein Verbrechen. Wer sein Elend öffentlich zeigt, wer bettelt, wer sich obdachlos umhertreibt, wird bestraft, auch wenn es ihm völlig unmöglich ist, Arbeit zu bekommen und sich ein Obdach zu verschaffen. Das Vergleichen arabes! Aus dem Vergleichen der verschiednen Lebens¬ lagen steigen die Fragen auf: warum? wozu? muß es so sein? kann es nicht geändert werden? Und damit ist die soziale Frage gegeben. Wir haben heute eine die ganze Kulturwelt erfüllende soziale Frage, während die früher» Zeiten nur örtliche soziale Fragen kannten, weil heute im Weltchvr gefragt wird, was früher nicht der Fall war. Früher gab es much in Europa Bevölkerungen, wie sie heute nur noch in Asien und Afrika vorkommen, die da hungerten, froren, schwitzten, sich plackten, sich prügeln und auch wohl das Fell über die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/364>, abgerufen am 01.07.2024.