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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

heute deulgeübt genug, um aus den Thatsachen (z. B. Preisverzeichnissen, Lohn¬
tabellen, Fcstberichten u. s. w.) ihre Folgerungen zu ziehen, gleichviel ob diese
Thatsachen in einer sozialdemokratischen oder einer fortschrittlichen oder einer
konservativen Brühe aufgetischt werden. Auch darauf, daß die Presse im
großen und ganzen an der Vernichtung der Religion arbeitet, ist nach dem
oben gesagten kein übertriebenes Gewicht zu legen, obwohl man es natürlich
bedauern muß. Nehmen wir dazu die Verkehrsmittel unsrer Zeit und die
Zusammendrängung der ärmern Leute in Proletariervierteln und Industrie-
bezirken, so sehen wir deutlich: jede Werkstätte, jedes Wohnhaus mit Proletarier-
Wohnungen, jede Kneipe, jeder Ort für Volksbelustigung und Erholung ver¬
wandelt sich unter diesen Umstünden notwendigerweise in eine Akademie, in der
soziale Fragen aufgeworfen, erörtert und studirt werden. Es kann nicht anders
sein. Es ist eine physische Unmöglichkeit, das zu ändern. Wer es ändern will,
der muß entweder die Volksschule schließen, oder die Presse vernichten, oder
alle Personen unter 2000 Mark Einkommen in Jsolirhaft arbeiten lassen, oder
sie in empfindungslose Maschinen verwandeln. Mit der allgemeinen Volks¬
bildung und der allseitigen Berührung jedes mit jeden: im Weltverkehr ist die
soziale Frage gegeben, und falls diese Bedingungen bis zum jüngsten Tage
fortbestehen, werden auch bis dahin die Herrschenden dem fragenden Volke Rede
und Autwort stehen müssen. Ob sich die Fragenden dieses oder jenes Zukuufts-
ideal träumen, ob ihre Führer dieser oder jener Theorie huldigen, ob sich die
Unzufrieduen Bundschuh, Jacques Bonhomme, Chartisten, Nihilisten, Kom¬
munisten oder Sozialdemokraten nennen, darauf kommt gar nichts an. Sozial-
demokratie ist ein Name, weiter nichts. Ein Name, der seine Zeit hat und
dann vergessen wird; die Sache wird bleiben. Hört blutrot einmal auf, die
Farbe der Unzufriedenen zu sein, so wird vielleicht kornblumenblau oder grün,
die Farbe der Hoffnung, Mode.

Am wenigsten darf sich der Staatsmann verleiten lassen, die soziale Frage
mit der Svzialdemokratenfrage zu verwechseln. Gegen Demokraten helfen
Soldaten, so oft die Demokraten rebellisch werden; in dem Punkte giebts nichts
zu frage", der ist von jeher und für alle Zeiten entschieden. Auch das be¬
drohte "Kapital" wird dein erleuchteten Staatsmanne keine Schmerzen machen.
Es ist stärker als je; es ist in mehr als einem Staate, in Deutschland zum
Glück noch nicht, so stark, daß es fragen darf: Was kostet der Staat? Es hat
nichts zu fürchten. Haben die Arbeiter lange genug gestreikt, so zwingt sie der
Hunger wieder weiter zu arbeiten. Gehen in den Streiknuruhen einige Unter¬
nehmer zu gründe, so sind das allemal kleinere und mittlere; sie werden bei
dieser Gelegenheit rascher von den großen verspeist, als es sonst der Fall ge¬
wesen wäre, und das "Kapital" wird dadurch nnr umso stärker. Auch nach
den Leiden der Armut hat der Staatsmann nicht zu fragen; das ist Sache der
Geistlichen, der barmherzigen Schwestern und der menschenfreundlichen Privat-


Die soziale Frage

heute deulgeübt genug, um aus den Thatsachen (z. B. Preisverzeichnissen, Lohn¬
tabellen, Fcstberichten u. s. w.) ihre Folgerungen zu ziehen, gleichviel ob diese
Thatsachen in einer sozialdemokratischen oder einer fortschrittlichen oder einer
konservativen Brühe aufgetischt werden. Auch darauf, daß die Presse im
großen und ganzen an der Vernichtung der Religion arbeitet, ist nach dem
oben gesagten kein übertriebenes Gewicht zu legen, obwohl man es natürlich
bedauern muß. Nehmen wir dazu die Verkehrsmittel unsrer Zeit und die
Zusammendrängung der ärmern Leute in Proletariervierteln und Industrie-
bezirken, so sehen wir deutlich: jede Werkstätte, jedes Wohnhaus mit Proletarier-
Wohnungen, jede Kneipe, jeder Ort für Volksbelustigung und Erholung ver¬
wandelt sich unter diesen Umstünden notwendigerweise in eine Akademie, in der
soziale Fragen aufgeworfen, erörtert und studirt werden. Es kann nicht anders
sein. Es ist eine physische Unmöglichkeit, das zu ändern. Wer es ändern will,
der muß entweder die Volksschule schließen, oder die Presse vernichten, oder
alle Personen unter 2000 Mark Einkommen in Jsolirhaft arbeiten lassen, oder
sie in empfindungslose Maschinen verwandeln. Mit der allgemeinen Volks¬
bildung und der allseitigen Berührung jedes mit jeden: im Weltverkehr ist die
soziale Frage gegeben, und falls diese Bedingungen bis zum jüngsten Tage
fortbestehen, werden auch bis dahin die Herrschenden dem fragenden Volke Rede
und Autwort stehen müssen. Ob sich die Fragenden dieses oder jenes Zukuufts-
ideal träumen, ob ihre Führer dieser oder jener Theorie huldigen, ob sich die
Unzufrieduen Bundschuh, Jacques Bonhomme, Chartisten, Nihilisten, Kom¬
munisten oder Sozialdemokraten nennen, darauf kommt gar nichts an. Sozial-
demokratie ist ein Name, weiter nichts. Ein Name, der seine Zeit hat und
dann vergessen wird; die Sache wird bleiben. Hört blutrot einmal auf, die
Farbe der Unzufriedenen zu sein, so wird vielleicht kornblumenblau oder grün,
die Farbe der Hoffnung, Mode.

Am wenigsten darf sich der Staatsmann verleiten lassen, die soziale Frage
mit der Svzialdemokratenfrage zu verwechseln. Gegen Demokraten helfen
Soldaten, so oft die Demokraten rebellisch werden; in dem Punkte giebts nichts
zu frage«, der ist von jeher und für alle Zeiten entschieden. Auch das be¬
drohte „Kapital" wird dein erleuchteten Staatsmanne keine Schmerzen machen.
Es ist stärker als je; es ist in mehr als einem Staate, in Deutschland zum
Glück noch nicht, so stark, daß es fragen darf: Was kostet der Staat? Es hat
nichts zu fürchten. Haben die Arbeiter lange genug gestreikt, so zwingt sie der
Hunger wieder weiter zu arbeiten. Gehen in den Streiknuruhen einige Unter¬
nehmer zu gründe, so sind das allemal kleinere und mittlere; sie werden bei
dieser Gelegenheit rascher von den großen verspeist, als es sonst der Fall ge¬
wesen wäre, und das „Kapital" wird dadurch nnr umso stärker. Auch nach
den Leiden der Armut hat der Staatsmann nicht zu fragen; das ist Sache der
Geistlichen, der barmherzigen Schwestern und der menschenfreundlichen Privat-


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[0366] Die soziale Frage heute deulgeübt genug, um aus den Thatsachen (z. B. Preisverzeichnissen, Lohn¬ tabellen, Fcstberichten u. s. w.) ihre Folgerungen zu ziehen, gleichviel ob diese Thatsachen in einer sozialdemokratischen oder einer fortschrittlichen oder einer konservativen Brühe aufgetischt werden. Auch darauf, daß die Presse im großen und ganzen an der Vernichtung der Religion arbeitet, ist nach dem oben gesagten kein übertriebenes Gewicht zu legen, obwohl man es natürlich bedauern muß. Nehmen wir dazu die Verkehrsmittel unsrer Zeit und die Zusammendrängung der ärmern Leute in Proletariervierteln und Industrie- bezirken, so sehen wir deutlich: jede Werkstätte, jedes Wohnhaus mit Proletarier- Wohnungen, jede Kneipe, jeder Ort für Volksbelustigung und Erholung ver¬ wandelt sich unter diesen Umstünden notwendigerweise in eine Akademie, in der soziale Fragen aufgeworfen, erörtert und studirt werden. Es kann nicht anders sein. Es ist eine physische Unmöglichkeit, das zu ändern. Wer es ändern will, der muß entweder die Volksschule schließen, oder die Presse vernichten, oder alle Personen unter 2000 Mark Einkommen in Jsolirhaft arbeiten lassen, oder sie in empfindungslose Maschinen verwandeln. Mit der allgemeinen Volks¬ bildung und der allseitigen Berührung jedes mit jeden: im Weltverkehr ist die soziale Frage gegeben, und falls diese Bedingungen bis zum jüngsten Tage fortbestehen, werden auch bis dahin die Herrschenden dem fragenden Volke Rede und Autwort stehen müssen. Ob sich die Fragenden dieses oder jenes Zukuufts- ideal träumen, ob ihre Führer dieser oder jener Theorie huldigen, ob sich die Unzufrieduen Bundschuh, Jacques Bonhomme, Chartisten, Nihilisten, Kom¬ munisten oder Sozialdemokraten nennen, darauf kommt gar nichts an. Sozial- demokratie ist ein Name, weiter nichts. Ein Name, der seine Zeit hat und dann vergessen wird; die Sache wird bleiben. Hört blutrot einmal auf, die Farbe der Unzufriedenen zu sein, so wird vielleicht kornblumenblau oder grün, die Farbe der Hoffnung, Mode. Am wenigsten darf sich der Staatsmann verleiten lassen, die soziale Frage mit der Svzialdemokratenfrage zu verwechseln. Gegen Demokraten helfen Soldaten, so oft die Demokraten rebellisch werden; in dem Punkte giebts nichts zu frage«, der ist von jeher und für alle Zeiten entschieden. Auch das be¬ drohte „Kapital" wird dein erleuchteten Staatsmanne keine Schmerzen machen. Es ist stärker als je; es ist in mehr als einem Staate, in Deutschland zum Glück noch nicht, so stark, daß es fragen darf: Was kostet der Staat? Es hat nichts zu fürchten. Haben die Arbeiter lange genug gestreikt, so zwingt sie der Hunger wieder weiter zu arbeiten. Gehen in den Streiknuruhen einige Unter¬ nehmer zu gründe, so sind das allemal kleinere und mittlere; sie werden bei dieser Gelegenheit rascher von den großen verspeist, als es sonst der Fall ge¬ wesen wäre, und das „Kapital" wird dadurch nnr umso stärker. Auch nach den Leiden der Armut hat der Staatsmann nicht zu fragen; das ist Sache der Geistlichen, der barmherzigen Schwestern und der menschenfreundlichen Privat-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/366>, abgerufen am 28.09.2024.