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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Die soziale Frage

leben besser als indische Fürsten. Mag sein, daß der Berliner Feuerarbeiter
bei auskömmlichen Verdienste die Nationalzeitung liest, Parlaments- und
Bereinsreden anhört, auf gut gekehrten Straßen einherschreitet und seiner
Frau eine Kochmaschine neuester Konstruktion zum Geburtstage schenkt, was
alles der indische Fürst vielleicht nicht kann; ob er sich aber im Mitgenuß
unsrer Kulturschätze wohler fühlt als der Nabob in seinen rohen Genüssen, ist
doch fraglich. Und aufs Wohlfühlen kommts an, nicht darauf, was ein Philo¬
soph oder Parlamentarier sür Glück erklärt. Und dann: es ist nicht jeder¬
mann Feuerarbeiter bei Krupp oder Borsig; es giebt auch weniger gut ein¬
gerichtete Werkstätten. Es ist überhaupt nicht sedermann Feuerarbeiter: es
giebt Schuster und Schneider, Weber und Strcichhölzchenmacher, Bergarbeiter
und Weichensteller. Gestern fragte ich meinen Schuster, wie viel seine Ge¬
sellen verdienen. Antwort: bei Stückarbeit höchstens zwölf Mark; durchschnitt¬
licher Wochenlohn acht Mark; wenn beim Meister in Kost, drei Mark. Es
giebt hier am Orte (es ist eine ostdeutsche Stadt von 20000 Einwohnern)
eine Anzahl verheirateter Meister, die für größere Schuhmacher arbeiten und
auch nicht höher kommen. Wenn sich ein Gesinnungsgenosse Lasters gefälligst
Mi Jahr lang auf deu Schusterschemel setzen, täglich von früh fünf bis abends
acht Uhr arbeiten, mit höchstens zweihundert Thalern jährlich Wohnung, Klei¬
dung, Feuerung, Rührung für sich, seine Frau und drei Kinder und endlich
seine -- Erholnngsgenüsse bestreiten will, und wenn er nach Ablauf dieses
Prüfungsjnhres dabei bleibt, daß er sich wie ein indischer Fürst fühlt, so ge¬
stehe ich ihm dann zu: es giebt keine soziale Frage.

Es war ja immer so. Es hat ja immer Arme und Reiche gegeben; im
Mittelalter außerdem noch wirkliche Hungersnöte, die wir heute nicht mehr
kennen, mit der angenehmen Zugabe von gelegentlichem Gefoltert-, Gespießt-
und Lebendiggebratenwerden. Aber gewaltige Unterschiede bestehen doch zwischen
heut und früher. Der mittelalterliche Gutsherr lebte, den Müßiggang abge¬
rechnet, der ein zweifelhaftes Vergnügen ist, nicht viel besser als seine Hörigen,
^on Komfort keine Spur. Zinnner mit Steinfliesen ohne Teppiche, ohne
Ofen und ohne Glasfenster. Im Winter fror er wie ein Hund. Möhte ich
verslafen des winters z!t! singt Walther von der Vogelweide. Zog so ein
Ritter gen Rom, zum heiligen Grabe oder gegen die wendischen Heiden, so
reiste er uicht im Salonwagen, sondern ritt zu Pferde auf Wegen, die keine
Wege waren; auch wenn er krank, auch wenn er verwundet war, vielleicht ein
^ein gebrochen hatte, gab es kein andres Transportmittel für ihn. Und in
welch bequemer Kleidung! Nicht in weicher Watte, sondern in hartem Eisen.
Sein Luxus bestand vorzugsweise darin, daß er bei jedem Feste so und so
viele Ochsen, Schafe, Schweine, Hirsche und Fässer Wein zum besten gab,
woran sich nicht allein seine Gesippten, sondern anch seine und ihre Diener¬
schaft, und manchmal alle seine Gutsunterthanen und Hörigen drei oder sieben


Die soziale Frage

leben besser als indische Fürsten. Mag sein, daß der Berliner Feuerarbeiter
bei auskömmlichen Verdienste die Nationalzeitung liest, Parlaments- und
Bereinsreden anhört, auf gut gekehrten Straßen einherschreitet und seiner
Frau eine Kochmaschine neuester Konstruktion zum Geburtstage schenkt, was
alles der indische Fürst vielleicht nicht kann; ob er sich aber im Mitgenuß
unsrer Kulturschätze wohler fühlt als der Nabob in seinen rohen Genüssen, ist
doch fraglich. Und aufs Wohlfühlen kommts an, nicht darauf, was ein Philo¬
soph oder Parlamentarier sür Glück erklärt. Und dann: es ist nicht jeder¬
mann Feuerarbeiter bei Krupp oder Borsig; es giebt auch weniger gut ein¬
gerichtete Werkstätten. Es ist überhaupt nicht sedermann Feuerarbeiter: es
giebt Schuster und Schneider, Weber und Strcichhölzchenmacher, Bergarbeiter
und Weichensteller. Gestern fragte ich meinen Schuster, wie viel seine Ge¬
sellen verdienen. Antwort: bei Stückarbeit höchstens zwölf Mark; durchschnitt¬
licher Wochenlohn acht Mark; wenn beim Meister in Kost, drei Mark. Es
giebt hier am Orte (es ist eine ostdeutsche Stadt von 20000 Einwohnern)
eine Anzahl verheirateter Meister, die für größere Schuhmacher arbeiten und
auch nicht höher kommen. Wenn sich ein Gesinnungsgenosse Lasters gefälligst
Mi Jahr lang auf deu Schusterschemel setzen, täglich von früh fünf bis abends
acht Uhr arbeiten, mit höchstens zweihundert Thalern jährlich Wohnung, Klei¬
dung, Feuerung, Rührung für sich, seine Frau und drei Kinder und endlich
seine — Erholnngsgenüsse bestreiten will, und wenn er nach Ablauf dieses
Prüfungsjnhres dabei bleibt, daß er sich wie ein indischer Fürst fühlt, so ge¬
stehe ich ihm dann zu: es giebt keine soziale Frage.

Es war ja immer so. Es hat ja immer Arme und Reiche gegeben; im
Mittelalter außerdem noch wirkliche Hungersnöte, die wir heute nicht mehr
kennen, mit der angenehmen Zugabe von gelegentlichem Gefoltert-, Gespießt-
und Lebendiggebratenwerden. Aber gewaltige Unterschiede bestehen doch zwischen
heut und früher. Der mittelalterliche Gutsherr lebte, den Müßiggang abge¬
rechnet, der ein zweifelhaftes Vergnügen ist, nicht viel besser als seine Hörigen,
^on Komfort keine Spur. Zinnner mit Steinfliesen ohne Teppiche, ohne
Ofen und ohne Glasfenster. Im Winter fror er wie ein Hund. Möhte ich
verslafen des winters z!t! singt Walther von der Vogelweide. Zog so ein
Ritter gen Rom, zum heiligen Grabe oder gegen die wendischen Heiden, so
reiste er uicht im Salonwagen, sondern ritt zu Pferde auf Wegen, die keine
Wege waren; auch wenn er krank, auch wenn er verwundet war, vielleicht ein
^ein gebrochen hatte, gab es kein andres Transportmittel für ihn. Und in
welch bequemer Kleidung! Nicht in weicher Watte, sondern in hartem Eisen.
Sein Luxus bestand vorzugsweise darin, daß er bei jedem Feste so und so
viele Ochsen, Schafe, Schweine, Hirsche und Fässer Wein zum besten gab,
woran sich nicht allein seine Gesippten, sondern anch seine und ihre Diener¬
schaft, und manchmal alle seine Gutsunterthanen und Hörigen drei oder sieben


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[0363] Die soziale Frage leben besser als indische Fürsten. Mag sein, daß der Berliner Feuerarbeiter bei auskömmlichen Verdienste die Nationalzeitung liest, Parlaments- und Bereinsreden anhört, auf gut gekehrten Straßen einherschreitet und seiner Frau eine Kochmaschine neuester Konstruktion zum Geburtstage schenkt, was alles der indische Fürst vielleicht nicht kann; ob er sich aber im Mitgenuß unsrer Kulturschätze wohler fühlt als der Nabob in seinen rohen Genüssen, ist doch fraglich. Und aufs Wohlfühlen kommts an, nicht darauf, was ein Philo¬ soph oder Parlamentarier sür Glück erklärt. Und dann: es ist nicht jeder¬ mann Feuerarbeiter bei Krupp oder Borsig; es giebt auch weniger gut ein¬ gerichtete Werkstätten. Es ist überhaupt nicht sedermann Feuerarbeiter: es giebt Schuster und Schneider, Weber und Strcichhölzchenmacher, Bergarbeiter und Weichensteller. Gestern fragte ich meinen Schuster, wie viel seine Ge¬ sellen verdienen. Antwort: bei Stückarbeit höchstens zwölf Mark; durchschnitt¬ licher Wochenlohn acht Mark; wenn beim Meister in Kost, drei Mark. Es giebt hier am Orte (es ist eine ostdeutsche Stadt von 20000 Einwohnern) eine Anzahl verheirateter Meister, die für größere Schuhmacher arbeiten und auch nicht höher kommen. Wenn sich ein Gesinnungsgenosse Lasters gefälligst Mi Jahr lang auf deu Schusterschemel setzen, täglich von früh fünf bis abends acht Uhr arbeiten, mit höchstens zweihundert Thalern jährlich Wohnung, Klei¬ dung, Feuerung, Rührung für sich, seine Frau und drei Kinder und endlich seine — Erholnngsgenüsse bestreiten will, und wenn er nach Ablauf dieses Prüfungsjnhres dabei bleibt, daß er sich wie ein indischer Fürst fühlt, so ge¬ stehe ich ihm dann zu: es giebt keine soziale Frage. Es war ja immer so. Es hat ja immer Arme und Reiche gegeben; im Mittelalter außerdem noch wirkliche Hungersnöte, die wir heute nicht mehr kennen, mit der angenehmen Zugabe von gelegentlichem Gefoltert-, Gespießt- und Lebendiggebratenwerden. Aber gewaltige Unterschiede bestehen doch zwischen heut und früher. Der mittelalterliche Gutsherr lebte, den Müßiggang abge¬ rechnet, der ein zweifelhaftes Vergnügen ist, nicht viel besser als seine Hörigen, ^on Komfort keine Spur. Zinnner mit Steinfliesen ohne Teppiche, ohne Ofen und ohne Glasfenster. Im Winter fror er wie ein Hund. Möhte ich verslafen des winters z!t! singt Walther von der Vogelweide. Zog so ein Ritter gen Rom, zum heiligen Grabe oder gegen die wendischen Heiden, so reiste er uicht im Salonwagen, sondern ritt zu Pferde auf Wegen, die keine Wege waren; auch wenn er krank, auch wenn er verwundet war, vielleicht ein ^ein gebrochen hatte, gab es kein andres Transportmittel für ihn. Und in welch bequemer Kleidung! Nicht in weicher Watte, sondern in hartem Eisen. Sein Luxus bestand vorzugsweise darin, daß er bei jedem Feste so und so viele Ochsen, Schafe, Schweine, Hirsche und Fässer Wein zum besten gab, woran sich nicht allein seine Gesippten, sondern anch seine und ihre Diener¬ schaft, und manchmal alle seine Gutsunterthanen und Hörigen drei oder sieben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/363>, abgerufen am 27.12.2024.