Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung

daß die Arbeitgeber in der Regel Arbeiter unter sechzehn Jahren nicht an¬
nehmen, und daß die letzter", verdienstlos und allen? Gefahren des Müßig¬
ganges ausgesetzt, ihren Eltern zur Last liegen." Was die Förderung der
Sittlichkeit durch Trennung der Geschlechter in verschiednen Arbeitsränmen
anlangt, so meint er, auch hier lägen Anschauungen zu Grunde, die nicht dem
Praktischen Leben entstammten. Wahrend der Arbeit selbst sei keine Gelegenheit
zu unsittlicher Annäherung; man müßte dann eher das gemeinsame Verlassen
der Lokale beaufsichtigen; aber dann hätte man noch viel mehr Anlaß, in jeder
Landwirtschaft die gemeinsamen Arbeiten beider Geschlechter in dunkeln Scheunen
und Heubodenräumen zu verhindern. Daß Bismnrck hier andre Beschäftigungs¬
arten mit der Thätigkeit des Fabrikarbeiters vergleicht, ist sehr verständig.
Er hätte auch da, wo er von den gesetzgeberischen und administrativen Ma߬
nahmen spricht, die darauf abzielen, von der Industrie alle Gefahren fern zu
halten, mit denen sie die Sicherheit und die Gesundheit deS Arbeiters be¬
drohen kann, darauf hinweisen können, wie ans audern Gebieten solche ängst¬
liche Sorge ganz unbekannt ist. Man braucht nnr an den Arzt oder an
die Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten zu denken, ganz zu schweige"
von dem, was der Marine und dem Landsoldaten zugemutet wird und tag¬
täglich zugemutet werdeu muß. Vismarck hat ganz Recht, wenn er sagt: "Ich
habe kein rechtes Verständnis dafür, warum unter allen Zweigen menschlicher
Thätigkeit gerade bei dem schwierigsten und von fremder Konkurrenz am meisten
abhängigen die Bevormundung zur Verhütung einiger der Gefahren, die das
menschliche Leben überall bedrohen, bis zu dem hier gewollten Maße
getrieben werden soll." Es ist das einer von den Sätzen, in denen sich
Bismarcks großes und starkes Wahrheitsgefühl zeigt; Schmeicheln und Hätscheln
kann er nicht übers Herz bringen, auch der Arbeiterwelt gegenüber nicht. Als
das wirksamste Schutzmittel fiir die Arbeiter betrachtet er "die Haftpflicht für
Unfälle, wenn nötig, eine Verschärfung derselben, und ihre mögliche Ausdehnung
auf die Invalidität, die aus Erschöpfung durch Arbeit und aus Krankheit im
Dienste hervorgeht."

Mit diesem letzten Satze giebt der Kanzler den Kern des ganzen svzial-
Pvlitischen Programms, wie es später in der kaiserlichen Botschaft vom
17. November 1881 verkündet wurden ist. Bereits im Jahre 1877 stand es
bei ihm fest, daß zu Gunsten der wirtschaftlich schwachen der Weg der sozialen
Gesetzgebung im Sinne eines Kranken-, Unfall- und Jnvaliditätsgesetzes zu
betreten sei. Daß die seit lauge schon von ihm geplante Altersversicherung
mich mit in dieses Programm gehörte, versteht sich von selbst. Damit, kann
man sagen, hatte er seine sozialpolitischen Lehrjahre wie auch seine volkswirt¬
schaftlichen, deren Beginn er selbst in das Jahr 1875 verlegt, hinter sich. Er
^ in seine Meisterjahre eingetreten. In dem Schreiben an den Handels¬
minister, das wir soeben besprochen haben, spricht er bereits seine Bereitwilligkeit


Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung

daß die Arbeitgeber in der Regel Arbeiter unter sechzehn Jahren nicht an¬
nehmen, und daß die letzter», verdienstlos und allen? Gefahren des Müßig¬
ganges ausgesetzt, ihren Eltern zur Last liegen." Was die Förderung der
Sittlichkeit durch Trennung der Geschlechter in verschiednen Arbeitsränmen
anlangt, so meint er, auch hier lägen Anschauungen zu Grunde, die nicht dem
Praktischen Leben entstammten. Wahrend der Arbeit selbst sei keine Gelegenheit
zu unsittlicher Annäherung; man müßte dann eher das gemeinsame Verlassen
der Lokale beaufsichtigen; aber dann hätte man noch viel mehr Anlaß, in jeder
Landwirtschaft die gemeinsamen Arbeiten beider Geschlechter in dunkeln Scheunen
und Heubodenräumen zu verhindern. Daß Bismnrck hier andre Beschäftigungs¬
arten mit der Thätigkeit des Fabrikarbeiters vergleicht, ist sehr verständig.
Er hätte auch da, wo er von den gesetzgeberischen und administrativen Ma߬
nahmen spricht, die darauf abzielen, von der Industrie alle Gefahren fern zu
halten, mit denen sie die Sicherheit und die Gesundheit deS Arbeiters be¬
drohen kann, darauf hinweisen können, wie ans audern Gebieten solche ängst¬
liche Sorge ganz unbekannt ist. Man braucht nnr an den Arzt oder an
die Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten zu denken, ganz zu schweige»
von dem, was der Marine und dem Landsoldaten zugemutet wird und tag¬
täglich zugemutet werdeu muß. Vismarck hat ganz Recht, wenn er sagt: „Ich
habe kein rechtes Verständnis dafür, warum unter allen Zweigen menschlicher
Thätigkeit gerade bei dem schwierigsten und von fremder Konkurrenz am meisten
abhängigen die Bevormundung zur Verhütung einiger der Gefahren, die das
menschliche Leben überall bedrohen, bis zu dem hier gewollten Maße
getrieben werden soll." Es ist das einer von den Sätzen, in denen sich
Bismarcks großes und starkes Wahrheitsgefühl zeigt; Schmeicheln und Hätscheln
kann er nicht übers Herz bringen, auch der Arbeiterwelt gegenüber nicht. Als
das wirksamste Schutzmittel fiir die Arbeiter betrachtet er „die Haftpflicht für
Unfälle, wenn nötig, eine Verschärfung derselben, und ihre mögliche Ausdehnung
auf die Invalidität, die aus Erschöpfung durch Arbeit und aus Krankheit im
Dienste hervorgeht."

Mit diesem letzten Satze giebt der Kanzler den Kern des ganzen svzial-
Pvlitischen Programms, wie es später in der kaiserlichen Botschaft vom
17. November 1881 verkündet wurden ist. Bereits im Jahre 1877 stand es
bei ihm fest, daß zu Gunsten der wirtschaftlich schwachen der Weg der sozialen
Gesetzgebung im Sinne eines Kranken-, Unfall- und Jnvaliditätsgesetzes zu
betreten sei. Daß die seit lauge schon von ihm geplante Altersversicherung
mich mit in dieses Programm gehörte, versteht sich von selbst. Damit, kann
man sagen, hatte er seine sozialpolitischen Lehrjahre wie auch seine volkswirt¬
schaftlichen, deren Beginn er selbst in das Jahr 1875 verlegt, hinter sich. Er
^ in seine Meisterjahre eingetreten. In dem Schreiben an den Handels¬
minister, das wir soeben besprochen haben, spricht er bereits seine Bereitwilligkeit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0357" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207652"/>
          <fw type="header" place="top"> Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_967" prev="#ID_966"> daß die Arbeitgeber in der Regel Arbeiter unter sechzehn Jahren nicht an¬<lb/>
nehmen, und daß die letzter», verdienstlos und allen? Gefahren des Müßig¬<lb/>
ganges ausgesetzt, ihren Eltern zur Last liegen." Was die Förderung der<lb/>
Sittlichkeit durch Trennung der Geschlechter in verschiednen Arbeitsränmen<lb/>
anlangt, so meint er, auch hier lägen Anschauungen zu Grunde, die nicht dem<lb/>
Praktischen Leben entstammten. Wahrend der Arbeit selbst sei keine Gelegenheit<lb/>
zu unsittlicher Annäherung; man müßte dann eher das gemeinsame Verlassen<lb/>
der Lokale beaufsichtigen; aber dann hätte man noch viel mehr Anlaß, in jeder<lb/>
Landwirtschaft die gemeinsamen Arbeiten beider Geschlechter in dunkeln Scheunen<lb/>
und Heubodenräumen zu verhindern. Daß Bismnrck hier andre Beschäftigungs¬<lb/>
arten mit der Thätigkeit des Fabrikarbeiters vergleicht, ist sehr verständig.<lb/>
Er hätte auch da, wo er von den gesetzgeberischen und administrativen Ma߬<lb/>
nahmen spricht, die darauf abzielen, von der Industrie alle Gefahren fern zu<lb/>
halten, mit denen sie die Sicherheit und die Gesundheit deS Arbeiters be¬<lb/>
drohen kann, darauf hinweisen können, wie ans audern Gebieten solche ängst¬<lb/>
liche Sorge ganz unbekannt ist. Man braucht nnr an den Arzt oder an<lb/>
die Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten zu denken, ganz zu schweige»<lb/>
von dem, was der Marine und dem Landsoldaten zugemutet wird und tag¬<lb/>
täglich zugemutet werdeu muß. Vismarck hat ganz Recht, wenn er sagt: &#x201E;Ich<lb/>
habe kein rechtes Verständnis dafür, warum unter allen Zweigen menschlicher<lb/>
Thätigkeit gerade bei dem schwierigsten und von fremder Konkurrenz am meisten<lb/>
abhängigen die Bevormundung zur Verhütung einiger der Gefahren, die das<lb/>
menschliche Leben überall bedrohen, bis zu dem hier gewollten Maße<lb/>
getrieben werden soll." Es ist das einer von den Sätzen, in denen sich<lb/>
Bismarcks großes und starkes Wahrheitsgefühl zeigt; Schmeicheln und Hätscheln<lb/>
kann er nicht übers Herz bringen, auch der Arbeiterwelt gegenüber nicht. Als<lb/>
das wirksamste Schutzmittel fiir die Arbeiter betrachtet er &#x201E;die Haftpflicht für<lb/>
Unfälle, wenn nötig, eine Verschärfung derselben, und ihre mögliche Ausdehnung<lb/>
auf die Invalidität, die aus Erschöpfung durch Arbeit und aus Krankheit im<lb/>
Dienste hervorgeht."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_968" next="#ID_969"> Mit diesem letzten Satze giebt der Kanzler den Kern des ganzen svzial-<lb/>
Pvlitischen Programms, wie es später in der kaiserlichen Botschaft vom<lb/>
17. November 1881 verkündet wurden ist. Bereits im Jahre 1877 stand es<lb/>
bei ihm fest, daß zu Gunsten der wirtschaftlich schwachen der Weg der sozialen<lb/>
Gesetzgebung im Sinne eines Kranken-, Unfall- und Jnvaliditätsgesetzes zu<lb/>
betreten sei. Daß die seit lauge schon von ihm geplante Altersversicherung<lb/>
mich mit in dieses Programm gehörte, versteht sich von selbst. Damit, kann<lb/>
man sagen, hatte er seine sozialpolitischen Lehrjahre wie auch seine volkswirt¬<lb/>
schaftlichen, deren Beginn er selbst in das Jahr 1875 verlegt, hinter sich. Er<lb/>
^ in seine Meisterjahre eingetreten. In dem Schreiben an den Handels¬<lb/>
minister, das wir soeben besprochen haben, spricht er bereits seine Bereitwilligkeit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0357] Bismarck und die sozialpolitische Gesetzgebung daß die Arbeitgeber in der Regel Arbeiter unter sechzehn Jahren nicht an¬ nehmen, und daß die letzter», verdienstlos und allen? Gefahren des Müßig¬ ganges ausgesetzt, ihren Eltern zur Last liegen." Was die Förderung der Sittlichkeit durch Trennung der Geschlechter in verschiednen Arbeitsränmen anlangt, so meint er, auch hier lägen Anschauungen zu Grunde, die nicht dem Praktischen Leben entstammten. Wahrend der Arbeit selbst sei keine Gelegenheit zu unsittlicher Annäherung; man müßte dann eher das gemeinsame Verlassen der Lokale beaufsichtigen; aber dann hätte man noch viel mehr Anlaß, in jeder Landwirtschaft die gemeinsamen Arbeiten beider Geschlechter in dunkeln Scheunen und Heubodenräumen zu verhindern. Daß Bismnrck hier andre Beschäftigungs¬ arten mit der Thätigkeit des Fabrikarbeiters vergleicht, ist sehr verständig. Er hätte auch da, wo er von den gesetzgeberischen und administrativen Ma߬ nahmen spricht, die darauf abzielen, von der Industrie alle Gefahren fern zu halten, mit denen sie die Sicherheit und die Gesundheit deS Arbeiters be¬ drohen kann, darauf hinweisen können, wie ans audern Gebieten solche ängst¬ liche Sorge ganz unbekannt ist. Man braucht nnr an den Arzt oder an die Post-, Telegraphen- und Eisenbahnbeamten zu denken, ganz zu schweige» von dem, was der Marine und dem Landsoldaten zugemutet wird und tag¬ täglich zugemutet werdeu muß. Vismarck hat ganz Recht, wenn er sagt: „Ich habe kein rechtes Verständnis dafür, warum unter allen Zweigen menschlicher Thätigkeit gerade bei dem schwierigsten und von fremder Konkurrenz am meisten abhängigen die Bevormundung zur Verhütung einiger der Gefahren, die das menschliche Leben überall bedrohen, bis zu dem hier gewollten Maße getrieben werden soll." Es ist das einer von den Sätzen, in denen sich Bismarcks großes und starkes Wahrheitsgefühl zeigt; Schmeicheln und Hätscheln kann er nicht übers Herz bringen, auch der Arbeiterwelt gegenüber nicht. Als das wirksamste Schutzmittel fiir die Arbeiter betrachtet er „die Haftpflicht für Unfälle, wenn nötig, eine Verschärfung derselben, und ihre mögliche Ausdehnung auf die Invalidität, die aus Erschöpfung durch Arbeit und aus Krankheit im Dienste hervorgeht." Mit diesem letzten Satze giebt der Kanzler den Kern des ganzen svzial- Pvlitischen Programms, wie es später in der kaiserlichen Botschaft vom 17. November 1881 verkündet wurden ist. Bereits im Jahre 1877 stand es bei ihm fest, daß zu Gunsten der wirtschaftlich schwachen der Weg der sozialen Gesetzgebung im Sinne eines Kranken-, Unfall- und Jnvaliditätsgesetzes zu betreten sei. Daß die seit lauge schon von ihm geplante Altersversicherung mich mit in dieses Programm gehörte, versteht sich von selbst. Damit, kann man sagen, hatte er seine sozialpolitischen Lehrjahre wie auch seine volkswirt¬ schaftlichen, deren Beginn er selbst in das Jahr 1875 verlegt, hinter sich. Er ^ in seine Meisterjahre eingetreten. In dem Schreiben an den Handels¬ minister, das wir soeben besprochen haben, spricht er bereits seine Bereitwilligkeit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/357
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/357>, abgerufen am 28.12.2024.