Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

Schuldirektoren gerichteten Rundschreiben. "Der größte von den Irrtümern,
hieß es darin, vor denen das Landvolk zu bewahren ist, besteht darin, daß ein
Volksvertreter gebildet und wohlhabend sein müsse. Man darf nicht vergessen,
daß in der großen Versammlung, um deren Wahl es sich jetzt handelt, die
Mehrheit die Rolle von Geschwornen hat, die mit Ja oder Nein darüber ur¬
teilen, ob die gemachten Vorschläge gut oder schlecht sind. Frankreich verlangt
neue Männer, eine Revolution soll nicht bloß die Staatseinrichtungen, sondern
auch die Menschen erneuern, mit den Werken muß man auch die Werkzeuge
wechseln." Diesen Grundsätzen zufolge ging eine große Anzahl von Ämtern
in andre Hände über, und zwar meist in die von Oppositionsmännern der letzten
Kammer, von radikalen Zeitungsschreibern, ehemaligen politischen Gefangnen
und andern Leuten, die keine andre Empfehlung hatten, als daß sie Wider¬
sacher der gestürzten Regierung gewesen waren. Tausende aber drängten sich
nach Posten mit der Versicherung, dies ebenfalls gewesen zu sein, und niemals
war die unberechtigte Stellenjügerei so dreist und so erfolgreich als jetzt, nach
Vernichtung des Bürgerkönigtums, dem. man immer vor allem vorgeworfen
hatte, es besetze die Ämter nicht nach Verdienst, sondern nach Gunst, es be¬
zahle damit rohatistische Gesinnungen und Dienstleistungen.

Ein Gegenstand lebhafter Unruhe für die Negierung und die konservative
Bevölkerung wurden die politischen Klubs, deren Paris in wenigen Wochen
Hunderte zählte. Wer sich irgend in Verschwörungen oder sozialistischen Sekten
einen Namen erworben hatte, wie Varbes, Blanqui, Raspail, Cabet und
Sobrier, gründete eine solche Anstalt, in der allerdings vorwiegend Phrasen
gedroschen wurden, die aber bald auch schwere Unruhen ausbrüten helfen sollte-
Am 17. März erschien eine von den Klubs der Roten zusammengebrachte Volks-
masse vou weit über hunderttausend Köpfen, um deren Spitze Blanqui, Barbös,
Raspail und Cabet einherschritten, vor dem Rathause, begehrte Einlaß und
stellte durch Blauqui, ihren Wortführer, eine Reihe inhaltsschwerer Forde¬
rungen, auf die selbst Mitglieder der provisorischen Regierung, wie Biene und
Ledru-Rollin, nicht eingehen konnten, und die doch ohne Verzug beraten und
beschlossen werden sollten. Durch beharrlichem Widerstand gelang es, die
Führer zum Verzicht auf sofortige Gewährung dieser Forderungen, unter denen
der Befehl zum Abzug der letzten Truppen aus Paris, das Versprechen, hier
nie wieder eine Besatzung zu halten, und Vertilgung der Wahlen waren,
bewegen, und die versammelte Volksmenge ging ruhig auseinander. Bald aber
wiederholten die Klubs das Verlangen nach Aufschub der Wahlen zur National¬
versammlung, das ihnen besonders am Herzen lag. Die Ultrnrepublikaner und
Sozialisten, anfangs Gegner, jetzt, als Sozialdemokraten Bundesgenossen, fo^
derem, von Blaue, Ledru-Rollin und andern Mitgliedern der provisorischen
Regierung unterstützt, diesen Aufschub unter allerlei Vorwänden, hinter denen
sich aber nur das Mißtrauen in die republikanische Gesinnung der Mehrheit


Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie

Schuldirektoren gerichteten Rundschreiben. „Der größte von den Irrtümern,
hieß es darin, vor denen das Landvolk zu bewahren ist, besteht darin, daß ein
Volksvertreter gebildet und wohlhabend sein müsse. Man darf nicht vergessen,
daß in der großen Versammlung, um deren Wahl es sich jetzt handelt, die
Mehrheit die Rolle von Geschwornen hat, die mit Ja oder Nein darüber ur¬
teilen, ob die gemachten Vorschläge gut oder schlecht sind. Frankreich verlangt
neue Männer, eine Revolution soll nicht bloß die Staatseinrichtungen, sondern
auch die Menschen erneuern, mit den Werken muß man auch die Werkzeuge
wechseln." Diesen Grundsätzen zufolge ging eine große Anzahl von Ämtern
in andre Hände über, und zwar meist in die von Oppositionsmännern der letzten
Kammer, von radikalen Zeitungsschreibern, ehemaligen politischen Gefangnen
und andern Leuten, die keine andre Empfehlung hatten, als daß sie Wider¬
sacher der gestürzten Regierung gewesen waren. Tausende aber drängten sich
nach Posten mit der Versicherung, dies ebenfalls gewesen zu sein, und niemals
war die unberechtigte Stellenjügerei so dreist und so erfolgreich als jetzt, nach
Vernichtung des Bürgerkönigtums, dem. man immer vor allem vorgeworfen
hatte, es besetze die Ämter nicht nach Verdienst, sondern nach Gunst, es be¬
zahle damit rohatistische Gesinnungen und Dienstleistungen.

Ein Gegenstand lebhafter Unruhe für die Negierung und die konservative
Bevölkerung wurden die politischen Klubs, deren Paris in wenigen Wochen
Hunderte zählte. Wer sich irgend in Verschwörungen oder sozialistischen Sekten
einen Namen erworben hatte, wie Varbes, Blanqui, Raspail, Cabet und
Sobrier, gründete eine solche Anstalt, in der allerdings vorwiegend Phrasen
gedroschen wurden, die aber bald auch schwere Unruhen ausbrüten helfen sollte-
Am 17. März erschien eine von den Klubs der Roten zusammengebrachte Volks-
masse vou weit über hunderttausend Köpfen, um deren Spitze Blanqui, Barbös,
Raspail und Cabet einherschritten, vor dem Rathause, begehrte Einlaß und
stellte durch Blauqui, ihren Wortführer, eine Reihe inhaltsschwerer Forde¬
rungen, auf die selbst Mitglieder der provisorischen Regierung, wie Biene und
Ledru-Rollin, nicht eingehen konnten, und die doch ohne Verzug beraten und
beschlossen werden sollten. Durch beharrlichem Widerstand gelang es, die
Führer zum Verzicht auf sofortige Gewährung dieser Forderungen, unter denen
der Befehl zum Abzug der letzten Truppen aus Paris, das Versprechen, hier
nie wieder eine Besatzung zu halten, und Vertilgung der Wahlen waren,
bewegen, und die versammelte Volksmenge ging ruhig auseinander. Bald aber
wiederholten die Klubs das Verlangen nach Aufschub der Wahlen zur National¬
versammlung, das ihnen besonders am Herzen lag. Die Ultrnrepublikaner und
Sozialisten, anfangs Gegner, jetzt, als Sozialdemokraten Bundesgenossen, fo^
derem, von Blaue, Ledru-Rollin und andern Mitgliedern der provisorischen
Regierung unterstützt, diesen Aufschub unter allerlei Vorwänden, hinter denen
sich aber nur das Mißtrauen in die republikanische Gesinnung der Mehrheit


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0308" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207603"/>
          <fw type="header" place="top"> Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_858" prev="#ID_857"> Schuldirektoren gerichteten Rundschreiben. &#x201E;Der größte von den Irrtümern,<lb/>
hieß es darin, vor denen das Landvolk zu bewahren ist, besteht darin, daß ein<lb/>
Volksvertreter gebildet und wohlhabend sein müsse. Man darf nicht vergessen,<lb/>
daß in der großen Versammlung, um deren Wahl es sich jetzt handelt, die<lb/>
Mehrheit die Rolle von Geschwornen hat, die mit Ja oder Nein darüber ur¬<lb/>
teilen, ob die gemachten Vorschläge gut oder schlecht sind. Frankreich verlangt<lb/>
neue Männer, eine Revolution soll nicht bloß die Staatseinrichtungen, sondern<lb/>
auch die Menschen erneuern, mit den Werken muß man auch die Werkzeuge<lb/>
wechseln." Diesen Grundsätzen zufolge ging eine große Anzahl von Ämtern<lb/>
in andre Hände über, und zwar meist in die von Oppositionsmännern der letzten<lb/>
Kammer, von radikalen Zeitungsschreibern, ehemaligen politischen Gefangnen<lb/>
und andern Leuten, die keine andre Empfehlung hatten, als daß sie Wider¬<lb/>
sacher der gestürzten Regierung gewesen waren. Tausende aber drängten sich<lb/>
nach Posten mit der Versicherung, dies ebenfalls gewesen zu sein, und niemals<lb/>
war die unberechtigte Stellenjügerei so dreist und so erfolgreich als jetzt, nach<lb/>
Vernichtung des Bürgerkönigtums, dem. man immer vor allem vorgeworfen<lb/>
hatte, es besetze die Ämter nicht nach Verdienst, sondern nach Gunst, es be¬<lb/>
zahle damit rohatistische Gesinnungen und Dienstleistungen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_859" next="#ID_860"> Ein Gegenstand lebhafter Unruhe für die Negierung und die konservative<lb/>
Bevölkerung wurden die politischen Klubs, deren Paris in wenigen Wochen<lb/>
Hunderte zählte. Wer sich irgend in Verschwörungen oder sozialistischen Sekten<lb/>
einen Namen erworben hatte, wie Varbes, Blanqui, Raspail, Cabet und<lb/>
Sobrier, gründete eine solche Anstalt, in der allerdings vorwiegend Phrasen<lb/>
gedroschen wurden, die aber bald auch schwere Unruhen ausbrüten helfen sollte-<lb/>
Am 17. März erschien eine von den Klubs der Roten zusammengebrachte Volks-<lb/>
masse vou weit über hunderttausend Köpfen, um deren Spitze Blanqui, Barbös,<lb/>
Raspail und Cabet einherschritten, vor dem Rathause, begehrte Einlaß und<lb/>
stellte durch Blauqui, ihren Wortführer, eine Reihe inhaltsschwerer Forde¬<lb/>
rungen, auf die selbst Mitglieder der provisorischen Regierung, wie Biene und<lb/>
Ledru-Rollin, nicht eingehen konnten, und die doch ohne Verzug beraten und<lb/>
beschlossen werden sollten. Durch beharrlichem Widerstand gelang es, die<lb/>
Führer zum Verzicht auf sofortige Gewährung dieser Forderungen, unter denen<lb/>
der Befehl zum Abzug der letzten Truppen aus Paris, das Versprechen, hier<lb/>
nie wieder eine Besatzung zu halten, und Vertilgung der Wahlen waren,<lb/>
bewegen, und die versammelte Volksmenge ging ruhig auseinander. Bald aber<lb/>
wiederholten die Klubs das Verlangen nach Aufschub der Wahlen zur National¬<lb/>
versammlung, das ihnen besonders am Herzen lag. Die Ultrnrepublikaner und<lb/>
Sozialisten, anfangs Gegner, jetzt, als Sozialdemokraten Bundesgenossen, fo^<lb/>
derem, von Blaue, Ledru-Rollin und andern Mitgliedern der provisorischen<lb/>
Regierung unterstützt, diesen Aufschub unter allerlei Vorwänden, hinter denen<lb/>
sich aber nur das Mißtrauen in die republikanische Gesinnung der Mehrheit</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0308] Aus den Jugendjahren der Sozialdemokratie Schuldirektoren gerichteten Rundschreiben. „Der größte von den Irrtümern, hieß es darin, vor denen das Landvolk zu bewahren ist, besteht darin, daß ein Volksvertreter gebildet und wohlhabend sein müsse. Man darf nicht vergessen, daß in der großen Versammlung, um deren Wahl es sich jetzt handelt, die Mehrheit die Rolle von Geschwornen hat, die mit Ja oder Nein darüber ur¬ teilen, ob die gemachten Vorschläge gut oder schlecht sind. Frankreich verlangt neue Männer, eine Revolution soll nicht bloß die Staatseinrichtungen, sondern auch die Menschen erneuern, mit den Werken muß man auch die Werkzeuge wechseln." Diesen Grundsätzen zufolge ging eine große Anzahl von Ämtern in andre Hände über, und zwar meist in die von Oppositionsmännern der letzten Kammer, von radikalen Zeitungsschreibern, ehemaligen politischen Gefangnen und andern Leuten, die keine andre Empfehlung hatten, als daß sie Wider¬ sacher der gestürzten Regierung gewesen waren. Tausende aber drängten sich nach Posten mit der Versicherung, dies ebenfalls gewesen zu sein, und niemals war die unberechtigte Stellenjügerei so dreist und so erfolgreich als jetzt, nach Vernichtung des Bürgerkönigtums, dem. man immer vor allem vorgeworfen hatte, es besetze die Ämter nicht nach Verdienst, sondern nach Gunst, es be¬ zahle damit rohatistische Gesinnungen und Dienstleistungen. Ein Gegenstand lebhafter Unruhe für die Negierung und die konservative Bevölkerung wurden die politischen Klubs, deren Paris in wenigen Wochen Hunderte zählte. Wer sich irgend in Verschwörungen oder sozialistischen Sekten einen Namen erworben hatte, wie Varbes, Blanqui, Raspail, Cabet und Sobrier, gründete eine solche Anstalt, in der allerdings vorwiegend Phrasen gedroschen wurden, die aber bald auch schwere Unruhen ausbrüten helfen sollte- Am 17. März erschien eine von den Klubs der Roten zusammengebrachte Volks- masse vou weit über hunderttausend Köpfen, um deren Spitze Blanqui, Barbös, Raspail und Cabet einherschritten, vor dem Rathause, begehrte Einlaß und stellte durch Blauqui, ihren Wortführer, eine Reihe inhaltsschwerer Forde¬ rungen, auf die selbst Mitglieder der provisorischen Regierung, wie Biene und Ledru-Rollin, nicht eingehen konnten, und die doch ohne Verzug beraten und beschlossen werden sollten. Durch beharrlichem Widerstand gelang es, die Führer zum Verzicht auf sofortige Gewährung dieser Forderungen, unter denen der Befehl zum Abzug der letzten Truppen aus Paris, das Versprechen, hier nie wieder eine Besatzung zu halten, und Vertilgung der Wahlen waren, bewegen, und die versammelte Volksmenge ging ruhig auseinander. Bald aber wiederholten die Klubs das Verlangen nach Aufschub der Wahlen zur National¬ versammlung, das ihnen besonders am Herzen lag. Die Ultrnrepublikaner und Sozialisten, anfangs Gegner, jetzt, als Sozialdemokraten Bundesgenossen, fo^ derem, von Blaue, Ledru-Rollin und andern Mitgliedern der provisorischen Regierung unterstützt, diesen Aufschub unter allerlei Vorwänden, hinter denen sich aber nur das Mißtrauen in die republikanische Gesinnung der Mehrheit

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/308
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/308>, abgerufen am 28.12.2024.