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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus den Jugendjahren der Socialdemokratie

seiner Fähigkeit und Leistung zu bemessen sei, galt beiden; nur wollte Se, Simon
den Verdienst durch Obere, Fourier ihn durch das Urteil der Genossen fest¬
gestellt wissen. Dabei wahrte Fourier alle Rechte des persönlichen Eigentums,
während das System Se. Simons das Eigentum mit dem Erbrechte wenigstens
mittelbar preisgab.

Graf Cicade Henri de Se. Simon, geboren 1700, entstammte einer der
vornehmsten und reichsten Familien Frankreichs und verriet schon frühzeitig
das Streben, Ungewöhnliches zu leisten, wozu er durch reiche Begabung in
vielen Beziehungen und eine treffliche Erziehung in den Stand gesetzt wurde.
Zunächst trat er in das französische Heer nud machte den amerikanischen Be¬
freiungskrieg mit. Aber die militärische Laufbahn gewährte ihm keine ge¬
nügende Befriedigung, und er suchte sie ans andern Wegen mit großartigen
Plänen, die vielleicht gelungen sein würden, wenn nicht die Revolution aus-
gebrochen wäre, die ihm mit einem Schlage Rang und Vermögen raubte.
Er warf sich jetzt auf das Geschäftsleben, und es gelang ihm, durch
glückliche Spekulationen, hauptsächlich Ankauf von Staatsgütern, in Ver¬
bindung mit einem Grafen Redern wieder reich zu werden. Doch befriedigte
ihn auch dus uicht, und er wandte sich bald höhern Zielen zu, die er an¬
fangs bloß ahnte, für die er aber bereits deu Gesamtausdruck fand: er
wollte der menschlichem Erkenntnis eine neue Bahn öffnen, "die Physiko-
politische Bahn." Zu dein Zwecke studirte er zuvörderst, schon vierzig Jahre
alt, alle denkbaren Wissenschaften, machte Reisen und bestrebte sich in andrer
Weise, mit dem Leben in allen Beziehungen, Zuständen, Bedürfnissen und
Genüssen so vertraut als möglich zu werden, wobei er auch "die Regelwidrig¬
keit der Genüsse nicht scheute." Wie verworren, aber anch wie eigentümlich
seine Ansichten sich jetzt gestaltet hatten, zeigt seine erste Schrift, die I^ttreL
Ä'rin Ksbitant cle (Z-vnvvv (1802), worin er zur Subskription zu einer Beloh¬
nung der tüchtigsten Gelehrten auffordert, dann aber zu einer religiös-politischen
Ansprache übergeht, die als der Beginn seiner religiösen Anschauungen zu be¬
trachten ist, und deren Gedanken er unmittelbar von Gott empfangen zu haben
meint. Das war noch formlos und fand natürlich in einer Zeit, wo Napoleons
Thaten alle Blicke auf sich lenkten, wenig Beachtung. Unterdessen war das
Vermögen Se. Simons allmählich dahingeschwunden, er war zu den größten
Entbehrungen verurteilt und mußte, um nur das Leben zu fristen, einen kleinen
Posten an einem Leihhause annehmen. Das hinderte ihn aber nicht, seine
reformatorische Idee weiter zu verfolgen, und gewiß haben gerade diese Jahre
materieller Not und Entbehrung seinen Gedankengang auf dus Los der niedern
Klassen gelenkt, eine Richtung, die er nicht mehr verließ. Aber erst nach dem
Sturze Napoleons kam die Zeit für solche Fragen, und nun begann er die
schriftstellerische Thätigkeit, mit der er für die erste französische soziale Schule
den Grund legte.


Aus den Jugendjahren der Socialdemokratie

seiner Fähigkeit und Leistung zu bemessen sei, galt beiden; nur wollte Se, Simon
den Verdienst durch Obere, Fourier ihn durch das Urteil der Genossen fest¬
gestellt wissen. Dabei wahrte Fourier alle Rechte des persönlichen Eigentums,
während das System Se. Simons das Eigentum mit dem Erbrechte wenigstens
mittelbar preisgab.

Graf Cicade Henri de Se. Simon, geboren 1700, entstammte einer der
vornehmsten und reichsten Familien Frankreichs und verriet schon frühzeitig
das Streben, Ungewöhnliches zu leisten, wozu er durch reiche Begabung in
vielen Beziehungen und eine treffliche Erziehung in den Stand gesetzt wurde.
Zunächst trat er in das französische Heer nud machte den amerikanischen Be¬
freiungskrieg mit. Aber die militärische Laufbahn gewährte ihm keine ge¬
nügende Befriedigung, und er suchte sie ans andern Wegen mit großartigen
Plänen, die vielleicht gelungen sein würden, wenn nicht die Revolution aus-
gebrochen wäre, die ihm mit einem Schlage Rang und Vermögen raubte.
Er warf sich jetzt auf das Geschäftsleben, und es gelang ihm, durch
glückliche Spekulationen, hauptsächlich Ankauf von Staatsgütern, in Ver¬
bindung mit einem Grafen Redern wieder reich zu werden. Doch befriedigte
ihn auch dus uicht, und er wandte sich bald höhern Zielen zu, die er an¬
fangs bloß ahnte, für die er aber bereits deu Gesamtausdruck fand: er
wollte der menschlichem Erkenntnis eine neue Bahn öffnen, „die Physiko-
politische Bahn." Zu dein Zwecke studirte er zuvörderst, schon vierzig Jahre
alt, alle denkbaren Wissenschaften, machte Reisen und bestrebte sich in andrer
Weise, mit dem Leben in allen Beziehungen, Zuständen, Bedürfnissen und
Genüssen so vertraut als möglich zu werden, wobei er auch „die Regelwidrig¬
keit der Genüsse nicht scheute." Wie verworren, aber anch wie eigentümlich
seine Ansichten sich jetzt gestaltet hatten, zeigt seine erste Schrift, die I^ttreL
Ä'rin Ksbitant cle (Z-vnvvv (1802), worin er zur Subskription zu einer Beloh¬
nung der tüchtigsten Gelehrten auffordert, dann aber zu einer religiös-politischen
Ansprache übergeht, die als der Beginn seiner religiösen Anschauungen zu be¬
trachten ist, und deren Gedanken er unmittelbar von Gott empfangen zu haben
meint. Das war noch formlos und fand natürlich in einer Zeit, wo Napoleons
Thaten alle Blicke auf sich lenkten, wenig Beachtung. Unterdessen war das
Vermögen Se. Simons allmählich dahingeschwunden, er war zu den größten
Entbehrungen verurteilt und mußte, um nur das Leben zu fristen, einen kleinen
Posten an einem Leihhause annehmen. Das hinderte ihn aber nicht, seine
reformatorische Idee weiter zu verfolgen, und gewiß haben gerade diese Jahre
materieller Not und Entbehrung seinen Gedankengang auf dus Los der niedern
Klassen gelenkt, eine Richtung, die er nicht mehr verließ. Aber erst nach dem
Sturze Napoleons kam die Zeit für solche Fragen, und nun begann er die
schriftstellerische Thätigkeit, mit der er für die erste französische soziale Schule
den Grund legte.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/28>, abgerufen am 24.08.2024.