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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Aus den Jugendjahren der Sozialdemskratie

in der Kammer klagte noch laut und lebhaft darüber, doch war auch sie all¬
mählich schwächer geworden. Die Regierung durfte es wagen, die Presse und
das Vereins- und Versammlungsrecht zu beschränken. Das Königtum herrschte
eine Zeit laug wirklich fast so gut wie allein und hatte dabei im ganzen die
öffentliche Meinung auf seiner Seite. Allmählich aber bereitete sich eine Wen¬
dung vor, die bergab ging. Die Aufstände und Attentate waren ans der
Mode gekommen, aber die Staatsschuld war bedeutend gewachsen, und die
Steuern stiege", die Regierung wurde von den Besitzenden aller Klassen als
^last empfunden, man fühlte, das; der Schutz, den der König gewährte, teuer
zu stehen komme. Man forderte daher "Reformen," zuletzt vorzüglich ein
Wahlgesetz mit einem Zensus, der auch Wühler von sehr geringen, Besitze zu¬
ließ. Je tiefer hiunb man aber hier ging, desto weniger Anhänglichkeit an
das Königtum traf mau an, und gelang die Wahlreform, so mußte es über
kurz oder lang weichen. Der Plan der Regierung beruhte seit !^wo
Guizot an ihre Spitze gestellt wurde, zunächst ans der Ansicht, daß die
öffentliche Meinung auf jede gewaltsame Änderung der politischen Zustände
und Einrichtungen verzichtet habe und es nnr darauf ankomme, in Paris so
viel Macht zu vereinigen, als zur llberwältiguug einer etwaigen plötzlichen
Bewegung erforderlich sei. Daher die Befestigung der Stadt Paris und ihrer
Kasernen, die Entwaffnung der Nationalgarde in den Prvvinzinlstädten und
die Übung der Söhne des Königs in militärischen Dingen. Sodann aber
mußte auf verfassungsmäßigen Wege geschehen, was die Monarchie weiter
befestigen zu können schien, und um dies thun zu können, hatte mau sich der
Mehrheit im Hause der Abgeordneten zu versichern, die denn auch, zum Teil
mit sehr unwürdigen Mitteln, gewonnen wurde. Mit dem öffentlichen Recht
und der öffentlichen Macht in der Hand hoffte mau dem Sturm erfolgreich
begegnen zu können, der sich von verschiednen Seiten zusammenzog. Die
Korruption in der Beamtenwelt, die bis zu den Ministern hinaufreichte, die
bestochene Kammermehrheit, die klägliche Politik Guizots in der Schweiz und
in Italien empörten immer weitere Kreise. Man verlangte eine Änderung,
und da dieser die Mehrheit des Abgeordnetenhauses im Wege stand, forderte
man ein besseres Wahlgesetz. Ein solches war vorzüglich gemeint, wenn das
Verlangen nach Reformen zuletzt in aller Welt Munde war. Alle Stände hatten
jetzt wieder ein gemeinsames Ziel, die Beteiligung aller Klassen, auch des
Proletariats, an der Volksvertretung und Gesetzgebung, die Gleichheit aller a"
der Wahlurne. Die Regierung glaubte aber darauf nicht eingehen zu können,
denn vollzog sich die Wahlreform, so war selbstverständlich an Gewinnung
der Mehrheit der Kammer für das Ministerium kaum noch zu denke"-
Man rüstete sich also auf beiden Seiten zum Kampfe. Als er losbrach,
fochten gegen die Regierung drei Parteiein die liberalen oder Konstitutionellen,
die Guizots konservative Politik verdroß, die Republikaner aus der Bourgeoisie


Aus den Jugendjahren der Sozialdemskratie

in der Kammer klagte noch laut und lebhaft darüber, doch war auch sie all¬
mählich schwächer geworden. Die Regierung durfte es wagen, die Presse und
das Vereins- und Versammlungsrecht zu beschränken. Das Königtum herrschte
eine Zeit laug wirklich fast so gut wie allein und hatte dabei im ganzen die
öffentliche Meinung auf seiner Seite. Allmählich aber bereitete sich eine Wen¬
dung vor, die bergab ging. Die Aufstände und Attentate waren ans der
Mode gekommen, aber die Staatsschuld war bedeutend gewachsen, und die
Steuern stiege», die Regierung wurde von den Besitzenden aller Klassen als
^last empfunden, man fühlte, das; der Schutz, den der König gewährte, teuer
zu stehen komme. Man forderte daher „Reformen," zuletzt vorzüglich ein
Wahlgesetz mit einem Zensus, der auch Wühler von sehr geringen, Besitze zu¬
ließ. Je tiefer hiunb man aber hier ging, desto weniger Anhänglichkeit an
das Königtum traf mau an, und gelang die Wahlreform, so mußte es über
kurz oder lang weichen. Der Plan der Regierung beruhte seit !^wo
Guizot an ihre Spitze gestellt wurde, zunächst ans der Ansicht, daß die
öffentliche Meinung auf jede gewaltsame Änderung der politischen Zustände
und Einrichtungen verzichtet habe und es nnr darauf ankomme, in Paris so
viel Macht zu vereinigen, als zur llberwältiguug einer etwaigen plötzlichen
Bewegung erforderlich sei. Daher die Befestigung der Stadt Paris und ihrer
Kasernen, die Entwaffnung der Nationalgarde in den Prvvinzinlstädten und
die Übung der Söhne des Königs in militärischen Dingen. Sodann aber
mußte auf verfassungsmäßigen Wege geschehen, was die Monarchie weiter
befestigen zu können schien, und um dies thun zu können, hatte mau sich der
Mehrheit im Hause der Abgeordneten zu versichern, die denn auch, zum Teil
mit sehr unwürdigen Mitteln, gewonnen wurde. Mit dem öffentlichen Recht
und der öffentlichen Macht in der Hand hoffte mau dem Sturm erfolgreich
begegnen zu können, der sich von verschiednen Seiten zusammenzog. Die
Korruption in der Beamtenwelt, die bis zu den Ministern hinaufreichte, die
bestochene Kammermehrheit, die klägliche Politik Guizots in der Schweiz und
in Italien empörten immer weitere Kreise. Man verlangte eine Änderung,
und da dieser die Mehrheit des Abgeordnetenhauses im Wege stand, forderte
man ein besseres Wahlgesetz. Ein solches war vorzüglich gemeint, wenn das
Verlangen nach Reformen zuletzt in aller Welt Munde war. Alle Stände hatten
jetzt wieder ein gemeinsames Ziel, die Beteiligung aller Klassen, auch des
Proletariats, an der Volksvertretung und Gesetzgebung, die Gleichheit aller a»
der Wahlurne. Die Regierung glaubte aber darauf nicht eingehen zu können,
denn vollzog sich die Wahlreform, so war selbstverständlich an Gewinnung
der Mehrheit der Kammer für das Ministerium kaum noch zu denke»-
Man rüstete sich also auf beiden Seiten zum Kampfe. Als er losbrach,
fochten gegen die Regierung drei Parteiein die liberalen oder Konstitutionellen,
die Guizots konservative Politik verdroß, die Republikaner aus der Bourgeoisie


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[0262] Aus den Jugendjahren der Sozialdemskratie in der Kammer klagte noch laut und lebhaft darüber, doch war auch sie all¬ mählich schwächer geworden. Die Regierung durfte es wagen, die Presse und das Vereins- und Versammlungsrecht zu beschränken. Das Königtum herrschte eine Zeit laug wirklich fast so gut wie allein und hatte dabei im ganzen die öffentliche Meinung auf seiner Seite. Allmählich aber bereitete sich eine Wen¬ dung vor, die bergab ging. Die Aufstände und Attentate waren ans der Mode gekommen, aber die Staatsschuld war bedeutend gewachsen, und die Steuern stiege», die Regierung wurde von den Besitzenden aller Klassen als ^last empfunden, man fühlte, das; der Schutz, den der König gewährte, teuer zu stehen komme. Man forderte daher „Reformen," zuletzt vorzüglich ein Wahlgesetz mit einem Zensus, der auch Wühler von sehr geringen, Besitze zu¬ ließ. Je tiefer hiunb man aber hier ging, desto weniger Anhänglichkeit an das Königtum traf mau an, und gelang die Wahlreform, so mußte es über kurz oder lang weichen. Der Plan der Regierung beruhte seit !^wo Guizot an ihre Spitze gestellt wurde, zunächst ans der Ansicht, daß die öffentliche Meinung auf jede gewaltsame Änderung der politischen Zustände und Einrichtungen verzichtet habe und es nnr darauf ankomme, in Paris so viel Macht zu vereinigen, als zur llberwältiguug einer etwaigen plötzlichen Bewegung erforderlich sei. Daher die Befestigung der Stadt Paris und ihrer Kasernen, die Entwaffnung der Nationalgarde in den Prvvinzinlstädten und die Übung der Söhne des Königs in militärischen Dingen. Sodann aber mußte auf verfassungsmäßigen Wege geschehen, was die Monarchie weiter befestigen zu können schien, und um dies thun zu können, hatte mau sich der Mehrheit im Hause der Abgeordneten zu versichern, die denn auch, zum Teil mit sehr unwürdigen Mitteln, gewonnen wurde. Mit dem öffentlichen Recht und der öffentlichen Macht in der Hand hoffte mau dem Sturm erfolgreich begegnen zu können, der sich von verschiednen Seiten zusammenzog. Die Korruption in der Beamtenwelt, die bis zu den Ministern hinaufreichte, die bestochene Kammermehrheit, die klägliche Politik Guizots in der Schweiz und in Italien empörten immer weitere Kreise. Man verlangte eine Änderung, und da dieser die Mehrheit des Abgeordnetenhauses im Wege stand, forderte man ein besseres Wahlgesetz. Ein solches war vorzüglich gemeint, wenn das Verlangen nach Reformen zuletzt in aller Welt Munde war. Alle Stände hatten jetzt wieder ein gemeinsames Ziel, die Beteiligung aller Klassen, auch des Proletariats, an der Volksvertretung und Gesetzgebung, die Gleichheit aller a» der Wahlurne. Die Regierung glaubte aber darauf nicht eingehen zu können, denn vollzog sich die Wahlreform, so war selbstverständlich an Gewinnung der Mehrheit der Kammer für das Ministerium kaum noch zu denke»- Man rüstete sich also auf beiden Seiten zum Kampfe. Als er losbrach, fochten gegen die Regierung drei Parteiein die liberalen oder Konstitutionellen, die Guizots konservative Politik verdroß, die Republikaner aus der Bourgeoisie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/262>, abgerufen am 23.07.2024.