Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

"ut die mehr oder minder kommunistischen Sozialdemokraten, die bei den
letzten Parteien den etwaigen Erfolg des Strebens nach Reform des Wahl¬
gesetzes gleich anfangs als bloßen Durchgangspunkt augesehen hatten, während
die liberale Bourgeoisie sie als deu Endpunkt betrachtet hatte. Das Ereignis
zerfällt demzufolge in zwei Abschnitte, von denen der erste bis zur Entlassung
des Ministeriums mit seiner Politik des Stillstandes und des Zurückdräugeus
reicht. Während die Nationalgarde die Reform hoch lebe" läßt, organisirt sich
'" den Vorstädten der andre Teil, die Radikalen, das "Volk," um der er¬
müdeten Bourgeoisie die Republik abzuzwingen, womit sie die Sozialdemokratie,
die rote Republik, die Umgestaltung nicht bloß des Staates, sondern auch der
Gesellschaft im Sinne haben. Deutlich erkennt mau, wie plaumnßig sich der
Aufstand in den Vorstädten, dem Sitze des Proletariats, bis zur Stunde der
Entscheidung zurückhielt. Bis zur Entlassung Guizots und seiner Amts-
Nenossen siegte der Vürgerstand, uach ihrer Entlassung erzwangen zuerst die
reinen Republikaner im Verein mit den Sozialdemokraten zunächst die Ab¬
dankung des Königs, dann die Entfernung der Dynastie vom Throne und zuletzt
schickte sich die Sozialdemokratie an, die nun zu schaffende Republik nach ihren
Zwecken zu gestalten, sie in eine Herrschaft des vierten Standes, in einen
Staat der Proletarier zu verwandeln. Man schien einen Augenblick vor dem
beginn einer neuen Ära in der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, ja
^r ganzen gesitteten Menschheit zu stehe". Aber Tieferblickende mußten schon
damals starke Zweifel hegen, daß die Dinge sich friedlich nach dieser Richtung
umlnlden würden; denn die Gegensätze in den Ansprüchen der Parteien waren
""versöhnlich, und wie an keine allen genügende dauernde Verständigung zu
^'"ken war, so war vorauszusehen, daß die letzten Sieger bei der Februar¬
revolution ihren Erfolg sich bald wieder aus deu Hände" gleiten sehen und
sub veranlaßt sehen würden, von neuem zu den Waffen zu greifen, und zwar
ä^le" die anfänglichen Mitsieger, die nach der Natur der Dinge nicht imstande
'""ren, jhnen zu gebe", was sie als Anteil an der Siegesbeute forderte". Sehr
bald wurde diese Vermutung zur erschreckendem Thatsache, die aber zuletzt in
^"e Beruhigung und einen Trost ausging, mit deuen sich nur eine War¬
tung für die Zukunft verband.

I" dem Pariser Juniaufstand erhob sich die Sozialdemokratie in ihrer
lo'zen gräßlichen Natur und Gestalt, unmenschlich, ein blutiges, rasendes Uu-
Müm, halb Teufelei, halb Unsinn, stark in den Zahlen und Massen, die ihrer
,^e" Fahne folgten, aber schwächer an der höhern Kraft, die den Gegnern die
Gesittung und der Besitz verliehe". Mehrere Tage schwankte die unerhört
schreckliche Varrikadeuschlacht, das Proletariat fehle" eine" Augenblick dem Siege
''"he, erlitt aber zuletzt eine ungeheure, für lauge Jahre entscheidende Nieder-
die höher" Stände, die Gebildete" und Gesitteten gewannen die ihnen
s"r einige Zeit halb entrissene Gewalt vollständig wieder.


"ut die mehr oder minder kommunistischen Sozialdemokraten, die bei den
letzten Parteien den etwaigen Erfolg des Strebens nach Reform des Wahl¬
gesetzes gleich anfangs als bloßen Durchgangspunkt augesehen hatten, während
die liberale Bourgeoisie sie als deu Endpunkt betrachtet hatte. Das Ereignis
zerfällt demzufolge in zwei Abschnitte, von denen der erste bis zur Entlassung
des Ministeriums mit seiner Politik des Stillstandes und des Zurückdräugeus
reicht. Während die Nationalgarde die Reform hoch lebe» läßt, organisirt sich
'» den Vorstädten der andre Teil, die Radikalen, das „Volk," um der er¬
müdeten Bourgeoisie die Republik abzuzwingen, womit sie die Sozialdemokratie,
die rote Republik, die Umgestaltung nicht bloß des Staates, sondern auch der
Gesellschaft im Sinne haben. Deutlich erkennt mau, wie plaumnßig sich der
Aufstand in den Vorstädten, dem Sitze des Proletariats, bis zur Stunde der
Entscheidung zurückhielt. Bis zur Entlassung Guizots und seiner Amts-
Nenossen siegte der Vürgerstand, uach ihrer Entlassung erzwangen zuerst die
reinen Republikaner im Verein mit den Sozialdemokraten zunächst die Ab¬
dankung des Königs, dann die Entfernung der Dynastie vom Throne und zuletzt
schickte sich die Sozialdemokratie an, die nun zu schaffende Republik nach ihren
Zwecken zu gestalten, sie in eine Herrschaft des vierten Standes, in einen
Staat der Proletarier zu verwandeln. Man schien einen Augenblick vor dem
beginn einer neuen Ära in der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, ja
^r ganzen gesitteten Menschheit zu stehe». Aber Tieferblickende mußten schon
damals starke Zweifel hegen, daß die Dinge sich friedlich nach dieser Richtung
umlnlden würden; denn die Gegensätze in den Ansprüchen der Parteien waren
""versöhnlich, und wie an keine allen genügende dauernde Verständigung zu
^'»ken war, so war vorauszusehen, daß die letzten Sieger bei der Februar¬
revolution ihren Erfolg sich bald wieder aus deu Hände» gleiten sehen und
sub veranlaßt sehen würden, von neuem zu den Waffen zu greifen, und zwar
ä^le» die anfänglichen Mitsieger, die nach der Natur der Dinge nicht imstande
'""ren, jhnen zu gebe», was sie als Anteil an der Siegesbeute forderte». Sehr
bald wurde diese Vermutung zur erschreckendem Thatsache, die aber zuletzt in
^"e Beruhigung und einen Trost ausging, mit deuen sich nur eine War¬
tung für die Zukunft verband.

I» dem Pariser Juniaufstand erhob sich die Sozialdemokratie in ihrer
lo'zen gräßlichen Natur und Gestalt, unmenschlich, ein blutiges, rasendes Uu-
Müm, halb Teufelei, halb Unsinn, stark in den Zahlen und Massen, die ihrer
,^e» Fahne folgten, aber schwächer an der höhern Kraft, die den Gegnern die
Gesittung und der Besitz verliehe». Mehrere Tage schwankte die unerhört
schreckliche Varrikadeuschlacht, das Proletariat fehle» eine» Augenblick dem Siege
''"he, erlitt aber zuletzt eine ungeheure, für lauge Jahre entscheidende Nieder-
die höher» Stände, die Gebildete» und Gesitteten gewannen die ihnen
s"r einige Zeit halb entrissene Gewalt vollständig wieder.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0263" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207558"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_726" prev="#ID_725"> "ut die mehr oder minder kommunistischen Sozialdemokraten, die bei den<lb/>
letzten Parteien den etwaigen Erfolg des Strebens nach Reform des Wahl¬<lb/>
gesetzes gleich anfangs als bloßen Durchgangspunkt augesehen hatten, während<lb/>
die liberale Bourgeoisie sie als deu Endpunkt betrachtet hatte. Das Ereignis<lb/>
zerfällt demzufolge in zwei Abschnitte, von denen der erste bis zur Entlassung<lb/>
des Ministeriums mit seiner Politik des Stillstandes und des Zurückdräugeus<lb/>
reicht. Während die Nationalgarde die Reform hoch lebe» läßt, organisirt sich<lb/>
'» den Vorstädten der andre Teil, die Radikalen, das &#x201E;Volk," um der er¬<lb/>
müdeten Bourgeoisie die Republik abzuzwingen, womit sie die Sozialdemokratie,<lb/>
die rote Republik, die Umgestaltung nicht bloß des Staates, sondern auch der<lb/>
Gesellschaft im Sinne haben. Deutlich erkennt mau, wie plaumnßig sich der<lb/>
Aufstand in den Vorstädten, dem Sitze des Proletariats, bis zur Stunde der<lb/>
Entscheidung zurückhielt. Bis zur Entlassung Guizots und seiner Amts-<lb/>
Nenossen siegte der Vürgerstand, uach ihrer Entlassung erzwangen zuerst die<lb/>
reinen Republikaner im Verein mit den Sozialdemokraten zunächst die Ab¬<lb/>
dankung des Königs, dann die Entfernung der Dynastie vom Throne und zuletzt<lb/>
schickte sich die Sozialdemokratie an, die nun zu schaffende Republik nach ihren<lb/>
Zwecken zu gestalten, sie in eine Herrschaft des vierten Standes, in einen<lb/>
Staat der Proletarier zu verwandeln. Man schien einen Augenblick vor dem<lb/>
beginn einer neuen Ära in der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, ja<lb/>
^r ganzen gesitteten Menschheit zu stehe». Aber Tieferblickende mußten schon<lb/>
damals starke Zweifel hegen, daß die Dinge sich friedlich nach dieser Richtung<lb/>
umlnlden würden; denn die Gegensätze in den Ansprüchen der Parteien waren<lb/>
""versöhnlich, und wie an keine allen genügende dauernde Verständigung zu<lb/>
^'»ken war, so war vorauszusehen, daß die letzten Sieger bei der Februar¬<lb/>
revolution ihren Erfolg sich bald wieder aus deu Hände» gleiten sehen und<lb/>
sub veranlaßt sehen würden, von neuem zu den Waffen zu greifen, und zwar<lb/>
ä^le» die anfänglichen Mitsieger, die nach der Natur der Dinge nicht imstande<lb/>
'""ren, jhnen zu gebe», was sie als Anteil an der Siegesbeute forderte». Sehr<lb/>
bald wurde diese Vermutung zur erschreckendem Thatsache, die aber zuletzt in<lb/>
^"e Beruhigung und einen Trost ausging, mit deuen sich nur eine War¬<lb/>
tung für die Zukunft verband.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_727"> I» dem Pariser Juniaufstand erhob sich die Sozialdemokratie in ihrer<lb/>
lo'zen gräßlichen Natur und Gestalt, unmenschlich, ein blutiges, rasendes Uu-<lb/>
Müm, halb Teufelei, halb Unsinn, stark in den Zahlen und Massen, die ihrer<lb/>
,^e» Fahne folgten, aber schwächer an der höhern Kraft, die den Gegnern die<lb/>
Gesittung und der Besitz verliehe». Mehrere Tage schwankte die unerhört<lb/>
schreckliche Varrikadeuschlacht, das Proletariat fehle» eine» Augenblick dem Siege<lb/>
''"he, erlitt aber zuletzt eine ungeheure, für lauge Jahre entscheidende Nieder-<lb/>
die höher» Stände, die Gebildete» und Gesitteten gewannen die ihnen<lb/>
s"r einige Zeit halb entrissene Gewalt vollständig wieder.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0263] "ut die mehr oder minder kommunistischen Sozialdemokraten, die bei den letzten Parteien den etwaigen Erfolg des Strebens nach Reform des Wahl¬ gesetzes gleich anfangs als bloßen Durchgangspunkt augesehen hatten, während die liberale Bourgeoisie sie als deu Endpunkt betrachtet hatte. Das Ereignis zerfällt demzufolge in zwei Abschnitte, von denen der erste bis zur Entlassung des Ministeriums mit seiner Politik des Stillstandes und des Zurückdräugeus reicht. Während die Nationalgarde die Reform hoch lebe» läßt, organisirt sich '» den Vorstädten der andre Teil, die Radikalen, das „Volk," um der er¬ müdeten Bourgeoisie die Republik abzuzwingen, womit sie die Sozialdemokratie, die rote Republik, die Umgestaltung nicht bloß des Staates, sondern auch der Gesellschaft im Sinne haben. Deutlich erkennt mau, wie plaumnßig sich der Aufstand in den Vorstädten, dem Sitze des Proletariats, bis zur Stunde der Entscheidung zurückhielt. Bis zur Entlassung Guizots und seiner Amts- Nenossen siegte der Vürgerstand, uach ihrer Entlassung erzwangen zuerst die reinen Republikaner im Verein mit den Sozialdemokraten zunächst die Ab¬ dankung des Königs, dann die Entfernung der Dynastie vom Throne und zuletzt schickte sich die Sozialdemokratie an, die nun zu schaffende Republik nach ihren Zwecken zu gestalten, sie in eine Herrschaft des vierten Standes, in einen Staat der Proletarier zu verwandeln. Man schien einen Augenblick vor dem beginn einer neuen Ära in der gesellschaftlichen Entwicklung Frankreichs, ja ^r ganzen gesitteten Menschheit zu stehe». Aber Tieferblickende mußten schon damals starke Zweifel hegen, daß die Dinge sich friedlich nach dieser Richtung umlnlden würden; denn die Gegensätze in den Ansprüchen der Parteien waren ""versöhnlich, und wie an keine allen genügende dauernde Verständigung zu ^'»ken war, so war vorauszusehen, daß die letzten Sieger bei der Februar¬ revolution ihren Erfolg sich bald wieder aus deu Hände» gleiten sehen und sub veranlaßt sehen würden, von neuem zu den Waffen zu greifen, und zwar ä^le» die anfänglichen Mitsieger, die nach der Natur der Dinge nicht imstande '""ren, jhnen zu gebe», was sie als Anteil an der Siegesbeute forderte». Sehr bald wurde diese Vermutung zur erschreckendem Thatsache, die aber zuletzt in ^"e Beruhigung und einen Trost ausging, mit deuen sich nur eine War¬ tung für die Zukunft verband. I» dem Pariser Juniaufstand erhob sich die Sozialdemokratie in ihrer lo'zen gräßlichen Natur und Gestalt, unmenschlich, ein blutiges, rasendes Uu- Müm, halb Teufelei, halb Unsinn, stark in den Zahlen und Massen, die ihrer ,^e» Fahne folgten, aber schwächer an der höhern Kraft, die den Gegnern die Gesittung und der Besitz verliehe». Mehrere Tage schwankte die unerhört schreckliche Varrikadeuschlacht, das Proletariat fehle» eine» Augenblick dem Siege ''"he, erlitt aber zuletzt eine ungeheure, für lauge Jahre entscheidende Nieder- die höher» Stände, die Gebildete» und Gesitteten gewannen die ihnen s"r einige Zeit halb entrissene Gewalt vollständig wieder.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/263
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/263>, abgerufen am 28.12.2024.