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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

einem andern teilen mögen. Es entsteht, ich möchte sagen ein geheimer Wider¬
streit, der, wenn der Anlaß dazu kommt, sich in bewußtem Gegensatz äußert,
und wenn dieser auch meistens uicht bis zum offenbaren Widerspruch fort¬
schreitet, so läßt er doch den Stachel in dem Herzen der Eltern zurück. Der
Lehrer ist nicht unfehlbar, aber die Eltern find es auch nicht. Fortwährende
Selbstprüfung und gegenseitiges Vertrauen sind darum nirgends mehr als hier
am Platze. Sollte nun uicht auch auf Seiten der Familie gefehlt werden?
Ich will nur einige Fragen auswerfen. Ist wirklich immer so viel Vertrauen
zu Schule und Lehrer vorhanden, daß in streitigen Fällen eine Verständigung
"ins ü-a se swäio gesucht wird? Werde" wirklich niemals zu Hanse in Gegen¬
wart der Kinder die Autorität der Lehrer und die Anordnungen der schule,
ich will nicht sagen herabgezogen, aber doch im Tone einer gelinden Über¬
hebung kritisirt? Und endlich ist das gesamte häusliche Leben im Kreise gerade
derjenigen Familien, die durch Rang oder Reichtum eine tonangebende Stellung
"> der heutige" Gesellschaft einnehmen, der Art, daß von einem gedeihlichen
Zusammenwirken vo" Schule und Haus, ja daß von einer anf halbwegs klaren
Grundsätzen beruhenden Erziehung der Kinder überhaupt noch die Rede sein
kann? vWvils 68t 8g.til-hin von sorioere hat Juvenal über die römischen Zu¬
stände ausgerufen. Ich werde mich hüten, in eiuer so kitzlichen Sache dasselbe
M thun. Ein entrüsteter Sittenprediger hat in dem Urteil der Leute schon
immer halb Unrecht. Ich will einen andern Mann sprechen lassen, der vor
"eunzehn Jahren ein Büchlein: "Briefe über Berliner Erziehung" geschrieben
hat. Wer Herrn Güßfeldts Buch gelesen hat, möge dies daneben halten und
dann aus meine Fragen Antwort geben.

Wichtiger erscheint aber die Bemerkung, daß Unterricht und Erziehung
getrennte Gebiete seie", und daß eben deshalb ein Sprung stattfinde, wenn das
Kind aus dem Elternhause in die Schule übertritt. Gewiß findet ein Sprung
statt, denn die eigentliche Kindheit ist vorüber, und das wirkliche Leben wirft
feine ersten schwachen Strahlen und Schattenstreifen in das Dasein des jungen
Weltbürgers. Allen, es ist kein Sprung über einen Abgrund, sondern ans
ebener Erde; die Verbindung des Weges ist nirgends unterbrochen. Denn
"iter Unterricht der Schule ist auch nnr wieder ein Mittel der Erziehung, fort¬
gehend und erweiternd, was bis dahin geleistet war. Dabei denke ich nicht an
^le durch das Leben in der Schule immer nu deu Zöglingen geübte Erziehung;
Gehorsam, Ordnung, Anstand, auch die von deu Schülern selbst ausgehende
gegenseitige heilsame Beeinflussung sind bekannte Dinge. Nein, im Unterrichte
selbst liegt eine große erziehende Kraft, und zwar sowohl in den Gegenständen,
^e gelehrt werden, als in der Art, wie sie ans Schulen behandelt werden.
kann hier nicht den ganzen Kanon der Unterrichtsstoffe abhandeln; nur
"uf den zweiten Punkt will ich in der Kürze eingehen.

I" allen Unterrichtsstunden wird der Schüler angehalten, seine Gedanken,


Unterricht und Erziehung

einem andern teilen mögen. Es entsteht, ich möchte sagen ein geheimer Wider¬
streit, der, wenn der Anlaß dazu kommt, sich in bewußtem Gegensatz äußert,
und wenn dieser auch meistens uicht bis zum offenbaren Widerspruch fort¬
schreitet, so läßt er doch den Stachel in dem Herzen der Eltern zurück. Der
Lehrer ist nicht unfehlbar, aber die Eltern find es auch nicht. Fortwährende
Selbstprüfung und gegenseitiges Vertrauen sind darum nirgends mehr als hier
am Platze. Sollte nun uicht auch auf Seiten der Familie gefehlt werden?
Ich will nur einige Fragen auswerfen. Ist wirklich immer so viel Vertrauen
zu Schule und Lehrer vorhanden, daß in streitigen Fällen eine Verständigung
«ins ü-a se swäio gesucht wird? Werde» wirklich niemals zu Hanse in Gegen¬
wart der Kinder die Autorität der Lehrer und die Anordnungen der schule,
ich will nicht sagen herabgezogen, aber doch im Tone einer gelinden Über¬
hebung kritisirt? Und endlich ist das gesamte häusliche Leben im Kreise gerade
derjenigen Familien, die durch Rang oder Reichtum eine tonangebende Stellung
"> der heutige» Gesellschaft einnehmen, der Art, daß von einem gedeihlichen
Zusammenwirken vo» Schule und Haus, ja daß von einer anf halbwegs klaren
Grundsätzen beruhenden Erziehung der Kinder überhaupt noch die Rede sein
kann? vWvils 68t 8g.til-hin von sorioere hat Juvenal über die römischen Zu¬
stände ausgerufen. Ich werde mich hüten, in eiuer so kitzlichen Sache dasselbe
M thun. Ein entrüsteter Sittenprediger hat in dem Urteil der Leute schon
immer halb Unrecht. Ich will einen andern Mann sprechen lassen, der vor
«eunzehn Jahren ein Büchlein: „Briefe über Berliner Erziehung" geschrieben
hat. Wer Herrn Güßfeldts Buch gelesen hat, möge dies daneben halten und
dann aus meine Fragen Antwort geben.

Wichtiger erscheint aber die Bemerkung, daß Unterricht und Erziehung
getrennte Gebiete seie», und daß eben deshalb ein Sprung stattfinde, wenn das
Kind aus dem Elternhause in die Schule übertritt. Gewiß findet ein Sprung
statt, denn die eigentliche Kindheit ist vorüber, und das wirkliche Leben wirft
feine ersten schwachen Strahlen und Schattenstreifen in das Dasein des jungen
Weltbürgers. Allen, es ist kein Sprung über einen Abgrund, sondern ans
ebener Erde; die Verbindung des Weges ist nirgends unterbrochen. Denn
"iter Unterricht der Schule ist auch nnr wieder ein Mittel der Erziehung, fort¬
gehend und erweiternd, was bis dahin geleistet war. Dabei denke ich nicht an
^le durch das Leben in der Schule immer nu deu Zöglingen geübte Erziehung;
Gehorsam, Ordnung, Anstand, auch die von deu Schülern selbst ausgehende
gegenseitige heilsame Beeinflussung sind bekannte Dinge. Nein, im Unterrichte
selbst liegt eine große erziehende Kraft, und zwar sowohl in den Gegenständen,
^e gelehrt werden, als in der Art, wie sie ans Schulen behandelt werden.
kann hier nicht den ganzen Kanon der Unterrichtsstoffe abhandeln; nur
"uf den zweiten Punkt will ich in der Kürze eingehen.

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[0231] Unterricht und Erziehung einem andern teilen mögen. Es entsteht, ich möchte sagen ein geheimer Wider¬ streit, der, wenn der Anlaß dazu kommt, sich in bewußtem Gegensatz äußert, und wenn dieser auch meistens uicht bis zum offenbaren Widerspruch fort¬ schreitet, so läßt er doch den Stachel in dem Herzen der Eltern zurück. Der Lehrer ist nicht unfehlbar, aber die Eltern find es auch nicht. Fortwährende Selbstprüfung und gegenseitiges Vertrauen sind darum nirgends mehr als hier am Platze. Sollte nun uicht auch auf Seiten der Familie gefehlt werden? Ich will nur einige Fragen auswerfen. Ist wirklich immer so viel Vertrauen zu Schule und Lehrer vorhanden, daß in streitigen Fällen eine Verständigung «ins ü-a se swäio gesucht wird? Werde» wirklich niemals zu Hanse in Gegen¬ wart der Kinder die Autorität der Lehrer und die Anordnungen der schule, ich will nicht sagen herabgezogen, aber doch im Tone einer gelinden Über¬ hebung kritisirt? Und endlich ist das gesamte häusliche Leben im Kreise gerade derjenigen Familien, die durch Rang oder Reichtum eine tonangebende Stellung "> der heutige» Gesellschaft einnehmen, der Art, daß von einem gedeihlichen Zusammenwirken vo» Schule und Haus, ja daß von einer anf halbwegs klaren Grundsätzen beruhenden Erziehung der Kinder überhaupt noch die Rede sein kann? vWvils 68t 8g.til-hin von sorioere hat Juvenal über die römischen Zu¬ stände ausgerufen. Ich werde mich hüten, in eiuer so kitzlichen Sache dasselbe M thun. Ein entrüsteter Sittenprediger hat in dem Urteil der Leute schon immer halb Unrecht. Ich will einen andern Mann sprechen lassen, der vor «eunzehn Jahren ein Büchlein: „Briefe über Berliner Erziehung" geschrieben hat. Wer Herrn Güßfeldts Buch gelesen hat, möge dies daneben halten und dann aus meine Fragen Antwort geben. Wichtiger erscheint aber die Bemerkung, daß Unterricht und Erziehung getrennte Gebiete seie», und daß eben deshalb ein Sprung stattfinde, wenn das Kind aus dem Elternhause in die Schule übertritt. Gewiß findet ein Sprung statt, denn die eigentliche Kindheit ist vorüber, und das wirkliche Leben wirft feine ersten schwachen Strahlen und Schattenstreifen in das Dasein des jungen Weltbürgers. Allen, es ist kein Sprung über einen Abgrund, sondern ans ebener Erde; die Verbindung des Weges ist nirgends unterbrochen. Denn "iter Unterricht der Schule ist auch nnr wieder ein Mittel der Erziehung, fort¬ gehend und erweiternd, was bis dahin geleistet war. Dabei denke ich nicht an ^le durch das Leben in der Schule immer nu deu Zöglingen geübte Erziehung; Gehorsam, Ordnung, Anstand, auch die von deu Schülern selbst ausgehende gegenseitige heilsame Beeinflussung sind bekannte Dinge. Nein, im Unterrichte selbst liegt eine große erziehende Kraft, und zwar sowohl in den Gegenständen, ^e gelehrt werden, als in der Art, wie sie ans Schulen behandelt werden. kann hier nicht den ganzen Kanon der Unterrichtsstoffe abhandeln; nur "uf den zweiten Punkt will ich in der Kürze eingehen. I» allen Unterrichtsstunden wird der Schüler angehalten, seine Gedanken,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/231>, abgerufen am 22.07.2024.