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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

auch mündlich, in klarer und sprachrichtiger Form wiederzugeben, also in ganzen
Sätzen, anfangs in kürzern, später in ausgedehnter", zu antworten. Indem
er dazu fortwährend und beharrlich genötigt wird, übt er eine fortwährende
heilsame Selbstzucht, die sich in seiner ganzen Haltung während des Unterrichts
wiederspiegelt. Damit wird dem gedankenlosen Plappern, dem man im Leben
so oft begegnet, entgegengearbeitet. Der heranwachsende Mensch wird zur
Wahrheit gegen sich und andre erzogen, weil er angehalten wird, erst zu denken
und dann zu sprechen. Beides, das Sprechen wie das schnelle Auffassen und
Übersehen größerer, selbst nur mit dem Ohre aufgenommener Gedankenreihen,
erhält somit auch seine sittliche Bedeutung, zumal in einer Zeit der Volks¬
versammlungen, der Zeitungen und der Schlagwörter.

Jedes Wissen wird alsbald zum Können. Wer ein Gedicht gut vortrüge
oder einen erläuterten Gedankengang selbständig wiedergiebt, wer nicht bloß
richtig, sondern auch gut übersetzt, wer eine mathematische Aufgabe löst, wer
ein Extemporale genügend bearbeitet, der zeigt, daß er vom Wissen zum Können
fortgeschritten ist. Und der deutsche Aufsatz ist die Blüte des Könnens. Nicht
uur im Leben, auch in der Schule ist trotz Herrn Güßfeldt das Können aus¬
schlaggebend. Deal nicht das Wissen, erst das Können hat sittlichen Wert.

Was einen Unterrichtsgegenstand für die Schule besonders wertvoll macht,
das bemißt sich darnach, welche und wie viel Ideen er in der Seele der Zöglinge
abzusetzen fähig ist, und das ist wieder der Maßstab seiner Bedeutung für die
Erziehung. Wer den Gedanken weiter verfolgt, wird auch auf dieser Seite die
enge Verbindung zwischen Unterricht und Erziehung entdecken. Ohne eine er¬
arbeitete, feste, klare Weltanschauung sind Charaktere nicht möglich, und diese
will der Unterricht vorbereiten helfen.

Daß Herrn Güßfeldt bei seinem Augriff auf unsre höhern Schulen eine
Reihe von Anachronismen und Irrtümern mit unterläuft, tritt vielleicht am
krassesten bei seinen Bemerkungen über die alten Sprachen zu Tage. Ich weiß
uicht, ob er jemals einer Unterrichtsstunde beigewohnt hat. Nur zu leicht
schließen wir gerade in solchen Dingen von der eignen Jugend und den eigne"
Lehrern auf den gegenwärtige" allgemeinen Zustand. Jedenfalls bedaure ich,
daß er niemals in der Schule zu einer Frende an der Formenschönheit antiker
Dichter gekommen ist, daß Belehrung oder gar Erhebung durch das Lesen
griechischer Schriftsteller ganz ausgeschlossen schien, und daß man ein ganzes
Semester über irgend einem Kapitel verbrachte, das immer wie eine angewandte
Grammatik behandelt wurde. Ich möchte Herrn Güßfeldt einladen, sich einmal
bei einem tüchtigem Lehrer eine Hvmerstunde anzuhören. Auf keine andre Art
ist ihm der Beweis zu führe", daß der Unterricht in den alten Sprachen seit der
Zeit, die er im Auge hat, gründlich geändert worden ist, daß darum viele seiner
Behauptungen uur noch historischen Wert haben. Herr Güßfeldt hat uns aber auch
ein Programm entworfen, wie fortan die alten Sprachen behandelt werden solle"-


Unterricht und Erziehung

auch mündlich, in klarer und sprachrichtiger Form wiederzugeben, also in ganzen
Sätzen, anfangs in kürzern, später in ausgedehnter», zu antworten. Indem
er dazu fortwährend und beharrlich genötigt wird, übt er eine fortwährende
heilsame Selbstzucht, die sich in seiner ganzen Haltung während des Unterrichts
wiederspiegelt. Damit wird dem gedankenlosen Plappern, dem man im Leben
so oft begegnet, entgegengearbeitet. Der heranwachsende Mensch wird zur
Wahrheit gegen sich und andre erzogen, weil er angehalten wird, erst zu denken
und dann zu sprechen. Beides, das Sprechen wie das schnelle Auffassen und
Übersehen größerer, selbst nur mit dem Ohre aufgenommener Gedankenreihen,
erhält somit auch seine sittliche Bedeutung, zumal in einer Zeit der Volks¬
versammlungen, der Zeitungen und der Schlagwörter.

Jedes Wissen wird alsbald zum Können. Wer ein Gedicht gut vortrüge
oder einen erläuterten Gedankengang selbständig wiedergiebt, wer nicht bloß
richtig, sondern auch gut übersetzt, wer eine mathematische Aufgabe löst, wer
ein Extemporale genügend bearbeitet, der zeigt, daß er vom Wissen zum Können
fortgeschritten ist. Und der deutsche Aufsatz ist die Blüte des Könnens. Nicht
uur im Leben, auch in der Schule ist trotz Herrn Güßfeldt das Können aus¬
schlaggebend. Deal nicht das Wissen, erst das Können hat sittlichen Wert.

Was einen Unterrichtsgegenstand für die Schule besonders wertvoll macht,
das bemißt sich darnach, welche und wie viel Ideen er in der Seele der Zöglinge
abzusetzen fähig ist, und das ist wieder der Maßstab seiner Bedeutung für die
Erziehung. Wer den Gedanken weiter verfolgt, wird auch auf dieser Seite die
enge Verbindung zwischen Unterricht und Erziehung entdecken. Ohne eine er¬
arbeitete, feste, klare Weltanschauung sind Charaktere nicht möglich, und diese
will der Unterricht vorbereiten helfen.

Daß Herrn Güßfeldt bei seinem Augriff auf unsre höhern Schulen eine
Reihe von Anachronismen und Irrtümern mit unterläuft, tritt vielleicht am
krassesten bei seinen Bemerkungen über die alten Sprachen zu Tage. Ich weiß
uicht, ob er jemals einer Unterrichtsstunde beigewohnt hat. Nur zu leicht
schließen wir gerade in solchen Dingen von der eignen Jugend und den eigne»
Lehrern auf den gegenwärtige» allgemeinen Zustand. Jedenfalls bedaure ich,
daß er niemals in der Schule zu einer Frende an der Formenschönheit antiker
Dichter gekommen ist, daß Belehrung oder gar Erhebung durch das Lesen
griechischer Schriftsteller ganz ausgeschlossen schien, und daß man ein ganzes
Semester über irgend einem Kapitel verbrachte, das immer wie eine angewandte
Grammatik behandelt wurde. Ich möchte Herrn Güßfeldt einladen, sich einmal
bei einem tüchtigem Lehrer eine Hvmerstunde anzuhören. Auf keine andre Art
ist ihm der Beweis zu führe», daß der Unterricht in den alten Sprachen seit der
Zeit, die er im Auge hat, gründlich geändert worden ist, daß darum viele seiner
Behauptungen uur noch historischen Wert haben. Herr Güßfeldt hat uns aber auch
ein Programm entworfen, wie fortan die alten Sprachen behandelt werden solle»-


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[0232] Unterricht und Erziehung auch mündlich, in klarer und sprachrichtiger Form wiederzugeben, also in ganzen Sätzen, anfangs in kürzern, später in ausgedehnter», zu antworten. Indem er dazu fortwährend und beharrlich genötigt wird, übt er eine fortwährende heilsame Selbstzucht, die sich in seiner ganzen Haltung während des Unterrichts wiederspiegelt. Damit wird dem gedankenlosen Plappern, dem man im Leben so oft begegnet, entgegengearbeitet. Der heranwachsende Mensch wird zur Wahrheit gegen sich und andre erzogen, weil er angehalten wird, erst zu denken und dann zu sprechen. Beides, das Sprechen wie das schnelle Auffassen und Übersehen größerer, selbst nur mit dem Ohre aufgenommener Gedankenreihen, erhält somit auch seine sittliche Bedeutung, zumal in einer Zeit der Volks¬ versammlungen, der Zeitungen und der Schlagwörter. Jedes Wissen wird alsbald zum Können. Wer ein Gedicht gut vortrüge oder einen erläuterten Gedankengang selbständig wiedergiebt, wer nicht bloß richtig, sondern auch gut übersetzt, wer eine mathematische Aufgabe löst, wer ein Extemporale genügend bearbeitet, der zeigt, daß er vom Wissen zum Können fortgeschritten ist. Und der deutsche Aufsatz ist die Blüte des Könnens. Nicht uur im Leben, auch in der Schule ist trotz Herrn Güßfeldt das Können aus¬ schlaggebend. Deal nicht das Wissen, erst das Können hat sittlichen Wert. Was einen Unterrichtsgegenstand für die Schule besonders wertvoll macht, das bemißt sich darnach, welche und wie viel Ideen er in der Seele der Zöglinge abzusetzen fähig ist, und das ist wieder der Maßstab seiner Bedeutung für die Erziehung. Wer den Gedanken weiter verfolgt, wird auch auf dieser Seite die enge Verbindung zwischen Unterricht und Erziehung entdecken. Ohne eine er¬ arbeitete, feste, klare Weltanschauung sind Charaktere nicht möglich, und diese will der Unterricht vorbereiten helfen. Daß Herrn Güßfeldt bei seinem Augriff auf unsre höhern Schulen eine Reihe von Anachronismen und Irrtümern mit unterläuft, tritt vielleicht am krassesten bei seinen Bemerkungen über die alten Sprachen zu Tage. Ich weiß uicht, ob er jemals einer Unterrichtsstunde beigewohnt hat. Nur zu leicht schließen wir gerade in solchen Dingen von der eignen Jugend und den eigne» Lehrern auf den gegenwärtige» allgemeinen Zustand. Jedenfalls bedaure ich, daß er niemals in der Schule zu einer Frende an der Formenschönheit antiker Dichter gekommen ist, daß Belehrung oder gar Erhebung durch das Lesen griechischer Schriftsteller ganz ausgeschlossen schien, und daß man ein ganzes Semester über irgend einem Kapitel verbrachte, das immer wie eine angewandte Grammatik behandelt wurde. Ich möchte Herrn Güßfeldt einladen, sich einmal bei einem tüchtigem Lehrer eine Hvmerstunde anzuhören. Auf keine andre Art ist ihm der Beweis zu führe», daß der Unterricht in den alten Sprachen seit der Zeit, die er im Auge hat, gründlich geändert worden ist, daß darum viele seiner Behauptungen uur noch historischen Wert haben. Herr Güßfeldt hat uns aber auch ein Programm entworfen, wie fortan die alten Sprachen behandelt werden solle»-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/232>, abgerufen am 20.06.2024.