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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unierricht und Grziehnng

Menschen. Herr Güßfeldt läßt das Kind in der Kinderstube essen; vielleicht
sind Dienstboten oder "das Fräulein" des Hauses dabei seine Genossen. Wie
viel geht so einem armen Kinde verloren! Der Geist des Hauses, der doch
den Familiensinn meist bildet, kommt in erster Linie in der Gemeinsamkeit
aller Familienglieder bei den Mahlzeiten, bei religiösen Übungen, bei den Fest¬
lichkeiten des Hauses zum Ausdruck. Das Kind davon ausschließen heißt ihm
einen Schatz köstlicher Erinnerungen für sein späteres Leben rauben. Wer nicht
zunächst in der scharf umrissenen Eigenart der Familie groß geMorden ist und
sich dadurch hat beeinflussen lassen, der wird schwerlich selbst eine ausgeprägte
Persönlichkeit werden. Wohl werden Charaktere im letzten Grunde weniger
durch das, was ihnen andre, als durch das, was sie sich selbst anerziehen.
Aber zu dieser Selbstzucht hilft auch die Familie. Die Bilder, die Vorstellungen
und die lebendigen Beispiele der Jngend begleiten den Mann durchs ganze Leben.

Herrn Güßfeldts Vorschlag grttudet sich aber auch auf seine Ansicht über
unser heutiges Schulwesen überhaupt. Er glaubt, daß sein Erziehungsideal
dort nicht verwirklicht werden könne. Es liegt in der Natur des Angriffs,
daß Übertreibungen und Maßlosigkeiten mit unterlaufen. Seine kritischen Er¬
gebnisse lassen sich kurz zusammenfassen. Die Schuld der traurigen Zustände
in unserm Erziehungswesen liegt allein bei der Schule, der gegenüber die
Familie ohnmächtig erscheint. Das Übergewicht des Unterrichts über die Er¬
ziehung wird meist plötzlich hergestellt. Erziehung und Unterricht werden
überhaupt als getrennte Gebiete ohne innern Zusammenhang angesehen. Die
Schule ist eine Trmniranstalt für Gehirne, es ist dort ein Götzendienst mit
Kenntnissen sanktionirt worden, dem Körper und Seele, dem sogar ein Teil
der geistigen Kraft ihre Opfer darbringen müssen. Demgemäß sind die häus¬
lichen Schularbeiten zu einer Höhe angewachsen, daß sie dem veredelnden
Einfluß der Mutter eine Zwangsjacke anlegen.

Ich bin mir der Uuvollkvnuuenheit aller menschlichen Einrichtungen zu
sehr bewußt, um nicht überzeugt zu sei", daß unser heutiges höheres Schul¬
wesen an manchen Schädel? krankt, die der Abhilfe bedürfen. Wenn aber Herr
Güßfeldt abermals die Überbürdnngsfrage in die Welt hinausträgt, so wird
ihm zwar niemand die Nichtigkeit seiner persönlichen Erfahrung bestreiten, aber
zu ihrer Verwertung für ein so allgemeines Urteil den Kopf schütteln, weil
gerade für die Beobachtung solcher Dinge eine höhere Warte nötig ist, als sie
Herr Güßfeldt einnimmt. Überdies: in der Überbürdnngsfrage liegt schwerlich
das xunoturu sativus der heutigen Bewegung.

Doch zur Hauptsache! Zwischen Schule und Haus findet nur ein Ent¬
gegenwirken statt, sagt Herr Güßfeldt. Ich will die Wahrheit dieser Be¬
hauptung zunächst nicht antasten. Für mich hat das Ding in erster Reihe
eine psychologische Seite. Es liegt in der Schwäche alles menschlichen Wesens,
daß Eltern die eigne maßgebende Autorität über ihre .Kinder nur selten mit


Unierricht und Grziehnng

Menschen. Herr Güßfeldt läßt das Kind in der Kinderstube essen; vielleicht
sind Dienstboten oder „das Fräulein" des Hauses dabei seine Genossen. Wie
viel geht so einem armen Kinde verloren! Der Geist des Hauses, der doch
den Familiensinn meist bildet, kommt in erster Linie in der Gemeinsamkeit
aller Familienglieder bei den Mahlzeiten, bei religiösen Übungen, bei den Fest¬
lichkeiten des Hauses zum Ausdruck. Das Kind davon ausschließen heißt ihm
einen Schatz köstlicher Erinnerungen für sein späteres Leben rauben. Wer nicht
zunächst in der scharf umrissenen Eigenart der Familie groß geMorden ist und
sich dadurch hat beeinflussen lassen, der wird schwerlich selbst eine ausgeprägte
Persönlichkeit werden. Wohl werden Charaktere im letzten Grunde weniger
durch das, was ihnen andre, als durch das, was sie sich selbst anerziehen.
Aber zu dieser Selbstzucht hilft auch die Familie. Die Bilder, die Vorstellungen
und die lebendigen Beispiele der Jngend begleiten den Mann durchs ganze Leben.

Herrn Güßfeldts Vorschlag grttudet sich aber auch auf seine Ansicht über
unser heutiges Schulwesen überhaupt. Er glaubt, daß sein Erziehungsideal
dort nicht verwirklicht werden könne. Es liegt in der Natur des Angriffs,
daß Übertreibungen und Maßlosigkeiten mit unterlaufen. Seine kritischen Er¬
gebnisse lassen sich kurz zusammenfassen. Die Schuld der traurigen Zustände
in unserm Erziehungswesen liegt allein bei der Schule, der gegenüber die
Familie ohnmächtig erscheint. Das Übergewicht des Unterrichts über die Er¬
ziehung wird meist plötzlich hergestellt. Erziehung und Unterricht werden
überhaupt als getrennte Gebiete ohne innern Zusammenhang angesehen. Die
Schule ist eine Trmniranstalt für Gehirne, es ist dort ein Götzendienst mit
Kenntnissen sanktionirt worden, dem Körper und Seele, dem sogar ein Teil
der geistigen Kraft ihre Opfer darbringen müssen. Demgemäß sind die häus¬
lichen Schularbeiten zu einer Höhe angewachsen, daß sie dem veredelnden
Einfluß der Mutter eine Zwangsjacke anlegen.

Ich bin mir der Uuvollkvnuuenheit aller menschlichen Einrichtungen zu
sehr bewußt, um nicht überzeugt zu sei», daß unser heutiges höheres Schul¬
wesen an manchen Schädel? krankt, die der Abhilfe bedürfen. Wenn aber Herr
Güßfeldt abermals die Überbürdnngsfrage in die Welt hinausträgt, so wird
ihm zwar niemand die Nichtigkeit seiner persönlichen Erfahrung bestreiten, aber
zu ihrer Verwertung für ein so allgemeines Urteil den Kopf schütteln, weil
gerade für die Beobachtung solcher Dinge eine höhere Warte nötig ist, als sie
Herr Güßfeldt einnimmt. Überdies: in der Überbürdnngsfrage liegt schwerlich
das xunoturu sativus der heutigen Bewegung.

Doch zur Hauptsache! Zwischen Schule und Haus findet nur ein Ent¬
gegenwirken statt, sagt Herr Güßfeldt. Ich will die Wahrheit dieser Be¬
hauptung zunächst nicht antasten. Für mich hat das Ding in erster Reihe
eine psychologische Seite. Es liegt in der Schwäche alles menschlichen Wesens,
daß Eltern die eigne maßgebende Autorität über ihre .Kinder nur selten mit


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/230>, abgerufen am 22.07.2024.