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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

Weil sie eine Sache staatlicher oder kommunaler Gemeinschaften ist. Änderung
der Familie aber und der häuslichen Verhältnisse ist Sache des Einzelnen,
seines guten Willens und seiner gebesserter Einsicht. Sa scheint denn auch das
Zeitalter der Naturwissenschaften und der sozialistischen Gedanken den Ruf nach
Jnternatserziehung zu erheben.

Nun ist gewiß die Frage der Jnteruatserziehung keine Frage, die für die
Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung wäre. Sie muß vielmehr, wie ein
erfahrener Kenner des Jnteruatswescns schreibt, mit Rücksicht ans die that¬
sächlichen Zustände gelöst und entschieden werden. Dadurch ist aber der Ein¬
richtung von Internaten eine Grenze gezogen, sie können nicht schlechthin als
notwendig oder gar als zu erstrebendes Ideal ster alle betrachtet werden. Und
wenn ich schon der Meinung bin, daß nllgemeiue Juternatserziehnng an der
praktischen Undurchfiihrbarkeit scheitern muß, so glaube ich auch noch von
andrer Seite her die Unhaltbarkeit des gemachten Vorschlages darthun zu können.

Wie für die Erziehung die sittliche Wirkung der Familie niemals wird
entbehrt werden können, so am allerwenigsten in unsrer Zeit, wo der Sinn
s"r Familienleben und für seine sittliche Bedeutung weiten Kreisen abhanden
z" kommen droht. Die untersten Klassen unsers Volkes sind durch die Not
gezwungen, ihre Kinder den "Kleinkindcrbewahranstalten" zu überlassen, die
höhern Gesellschaftskreise schicken ihre Kinder aus andern Nöten in die "Kinder¬
garten," damit sie dort unter Aufsicht spielen -- lernen. Die geschlossenen
Anstalten .Herrn Güßfeldts entziehen die Kinder gerade in der Zeit ihrem
natürlichen °Boden, der Familie, wo deren Einfluß am stärksten zu wirken be¬
ginnt. Man wird mir die Kadettenaustalten und die Seminare für Lehrer¬
bildung entgegenhalten. Aber beides sind Fachschulen. Der Staat hat ein
unmittelbares Interesse daran, sich unbedingt ergebene lind gehorsame Offiziere
heranzuziehen, die alle andern Beziehungen dem Geiste der soldatische" Gemeinschaft
unterordnen. Die Seminare aber empfangen ihre Zöglinge erst dann, wenn
^lese, heranreifende Jünglinge, "den Einfluß des Familienlebens mit seiner
^'ziehenden Kraft schon erfahren haben."

Herrn Güßfeldts Vorschlag ist zum Teil hervorgerufen durch die Bevor¬
zugung des staatlichen Gemeinwesens vor den übrigen sittlichen Gemeinschafts-
kreisen. Zwar scheint anch er die Bedeutung der Familie für die Erziehung
"'ehe ganz hiutenan zu stellen; denn er spricht von dem veredelnden Einfluß
Mutter und wünscht wohl much den Familiensinn in dem Kinde entwickelt
on sehen. Aber merkwürdig genug verlangt er im Gegensatze dazu, daß die
Binder nur ausnahmsweise an dein Tische der Eltern speisen sollen, weil er
fürchtet, daß durch Gerichte, von denen die Kinder nicht essen dürfen, ihre
Begehrlichkeit erregt werde. Nein, auch das Kind soll schon daran gewohnt
werden, nicht alles zu bekommen, was es sieht und wünscht. Denn die Kunst,
on entbehren und sich etwas zu versage", verlangt das Leben von jedem


Unterricht und Erziehung

Weil sie eine Sache staatlicher oder kommunaler Gemeinschaften ist. Änderung
der Familie aber und der häuslichen Verhältnisse ist Sache des Einzelnen,
seines guten Willens und seiner gebesserter Einsicht. Sa scheint denn auch das
Zeitalter der Naturwissenschaften und der sozialistischen Gedanken den Ruf nach
Jnternatserziehung zu erheben.

Nun ist gewiß die Frage der Jnteruatserziehung keine Frage, die für die
Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung wäre. Sie muß vielmehr, wie ein
erfahrener Kenner des Jnteruatswescns schreibt, mit Rücksicht ans die that¬
sächlichen Zustände gelöst und entschieden werden. Dadurch ist aber der Ein¬
richtung von Internaten eine Grenze gezogen, sie können nicht schlechthin als
notwendig oder gar als zu erstrebendes Ideal ster alle betrachtet werden. Und
wenn ich schon der Meinung bin, daß nllgemeiue Juternatserziehnng an der
praktischen Undurchfiihrbarkeit scheitern muß, so glaube ich auch noch von
andrer Seite her die Unhaltbarkeit des gemachten Vorschlages darthun zu können.

Wie für die Erziehung die sittliche Wirkung der Familie niemals wird
entbehrt werden können, so am allerwenigsten in unsrer Zeit, wo der Sinn
s"r Familienleben und für seine sittliche Bedeutung weiten Kreisen abhanden
z» kommen droht. Die untersten Klassen unsers Volkes sind durch die Not
gezwungen, ihre Kinder den „Kleinkindcrbewahranstalten" zu überlassen, die
höhern Gesellschaftskreise schicken ihre Kinder aus andern Nöten in die „Kinder¬
garten," damit sie dort unter Aufsicht spielen — lernen. Die geschlossenen
Anstalten .Herrn Güßfeldts entziehen die Kinder gerade in der Zeit ihrem
natürlichen °Boden, der Familie, wo deren Einfluß am stärksten zu wirken be¬
ginnt. Man wird mir die Kadettenaustalten und die Seminare für Lehrer¬
bildung entgegenhalten. Aber beides sind Fachschulen. Der Staat hat ein
unmittelbares Interesse daran, sich unbedingt ergebene lind gehorsame Offiziere
heranzuziehen, die alle andern Beziehungen dem Geiste der soldatische» Gemeinschaft
unterordnen. Die Seminare aber empfangen ihre Zöglinge erst dann, wenn
^lese, heranreifende Jünglinge, „den Einfluß des Familienlebens mit seiner
^'ziehenden Kraft schon erfahren haben."

Herrn Güßfeldts Vorschlag ist zum Teil hervorgerufen durch die Bevor¬
zugung des staatlichen Gemeinwesens vor den übrigen sittlichen Gemeinschafts-
kreisen. Zwar scheint anch er die Bedeutung der Familie für die Erziehung
"'ehe ganz hiutenan zu stellen; denn er spricht von dem veredelnden Einfluß
Mutter und wünscht wohl much den Familiensinn in dem Kinde entwickelt
on sehen. Aber merkwürdig genug verlangt er im Gegensatze dazu, daß die
Binder nur ausnahmsweise an dein Tische der Eltern speisen sollen, weil er
fürchtet, daß durch Gerichte, von denen die Kinder nicht essen dürfen, ihre
Begehrlichkeit erregt werde. Nein, auch das Kind soll schon daran gewohnt
werden, nicht alles zu bekommen, was es sieht und wünscht. Denn die Kunst,
on entbehren und sich etwas zu versage», verlangt das Leben von jedem


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[0229] Unterricht und Erziehung Weil sie eine Sache staatlicher oder kommunaler Gemeinschaften ist. Änderung der Familie aber und der häuslichen Verhältnisse ist Sache des Einzelnen, seines guten Willens und seiner gebesserter Einsicht. Sa scheint denn auch das Zeitalter der Naturwissenschaften und der sozialistischen Gedanken den Ruf nach Jnternatserziehung zu erheben. Nun ist gewiß die Frage der Jnteruatserziehung keine Frage, die für die Pädagogik von grundsätzlicher Bedeutung wäre. Sie muß vielmehr, wie ein erfahrener Kenner des Jnteruatswescns schreibt, mit Rücksicht ans die that¬ sächlichen Zustände gelöst und entschieden werden. Dadurch ist aber der Ein¬ richtung von Internaten eine Grenze gezogen, sie können nicht schlechthin als notwendig oder gar als zu erstrebendes Ideal ster alle betrachtet werden. Und wenn ich schon der Meinung bin, daß nllgemeiue Juternatserziehnng an der praktischen Undurchfiihrbarkeit scheitern muß, so glaube ich auch noch von andrer Seite her die Unhaltbarkeit des gemachten Vorschlages darthun zu können. Wie für die Erziehung die sittliche Wirkung der Familie niemals wird entbehrt werden können, so am allerwenigsten in unsrer Zeit, wo der Sinn s"r Familienleben und für seine sittliche Bedeutung weiten Kreisen abhanden z» kommen droht. Die untersten Klassen unsers Volkes sind durch die Not gezwungen, ihre Kinder den „Kleinkindcrbewahranstalten" zu überlassen, die höhern Gesellschaftskreise schicken ihre Kinder aus andern Nöten in die „Kinder¬ garten," damit sie dort unter Aufsicht spielen — lernen. Die geschlossenen Anstalten .Herrn Güßfeldts entziehen die Kinder gerade in der Zeit ihrem natürlichen °Boden, der Familie, wo deren Einfluß am stärksten zu wirken be¬ ginnt. Man wird mir die Kadettenaustalten und die Seminare für Lehrer¬ bildung entgegenhalten. Aber beides sind Fachschulen. Der Staat hat ein unmittelbares Interesse daran, sich unbedingt ergebene lind gehorsame Offiziere heranzuziehen, die alle andern Beziehungen dem Geiste der soldatische» Gemeinschaft unterordnen. Die Seminare aber empfangen ihre Zöglinge erst dann, wenn ^lese, heranreifende Jünglinge, „den Einfluß des Familienlebens mit seiner ^'ziehenden Kraft schon erfahren haben." Herrn Güßfeldts Vorschlag ist zum Teil hervorgerufen durch die Bevor¬ zugung des staatlichen Gemeinwesens vor den übrigen sittlichen Gemeinschafts- kreisen. Zwar scheint anch er die Bedeutung der Familie für die Erziehung "'ehe ganz hiutenan zu stellen; denn er spricht von dem veredelnden Einfluß Mutter und wünscht wohl much den Familiensinn in dem Kinde entwickelt on sehen. Aber merkwürdig genug verlangt er im Gegensatze dazu, daß die Binder nur ausnahmsweise an dein Tische der Eltern speisen sollen, weil er fürchtet, daß durch Gerichte, von denen die Kinder nicht essen dürfen, ihre Begehrlichkeit erregt werde. Nein, auch das Kind soll schon daran gewohnt werden, nicht alles zu bekommen, was es sieht und wünscht. Denn die Kunst, on entbehren und sich etwas zu versage», verlangt das Leben von jedem

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Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/229>, abgerufen am 22.07.2024.