Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Unterricht und Erziehung

alte Wahrheit Bei, Alldas nicht erwehren können: "Es ist alles schon dage¬
wesen." Damit meine ich nicht eine Benutzung dieser oder jener Gedanken
ans der vorhandenen Pädagogischen Litteratur, sondern gerade in den Grund¬
sätzen über Erziehung hat Herr Güßfeldt einen alten berühmten Vorgänger.
Ich hebe aus den viele" Bemerkungen zunächst zwei Sätze hervor, die auf
seine prinzipielle Stellung in den Fragen der Erziehung besondres Licht werfen.

Herr Güßfeldt erklärt: "Die gestrengen Herren Erzieher, die gar nicht
wissen, wie abstoßend oft ihr Wesen auf Kinder wirkt, wie viel Selbstüber¬
windung sie diesen im täglichen Verkehr auferlege", sagen: Kinder müssen in
erster Linie gehorche" lerne"." "Nein," ruft Herr Güßfeldt, "Kinder müssen
in erster Linie gerecht behandelt werden."

Das heißt also, bei Lichte besehen: nicht mehr das Pflichtbewußtsein,
sondern das Rechtsbewußtsein der Kinder giebt von jetzt an die Norm der
ganzen Erziehung. Auch die Kinder haben ihr Recht, ja das Recht der Kinder
kommt vor ihrer Pflicht!

Es sind vergilbte Blätter, die ich umwende. In einem Buche, das um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts erschienen ist, heißt es also: "Unsre
ersten! Pflichten sind gegen uns selbst; unsre ersten ursprünglichen Empfin¬
dungen laufe" in uns selbst zusammen; alle unsre natürlichen Bewegungen
beziehen sich anfangs ans unsre Erhaltung und ans unser Wohlsein. Die
.erste Empfindung von der Gerechtigkeit bekommen wir also nicht von der, die
wir schuldig sind, sondern von derjenigen, die uns gebührt; und dies ist auch
noch eine von den Widersinnigkeiten der gemeinen Erziehungen, daß "ran gleich
anfangs mit den Kindern von ihren Pflichten, niemals von ihren Gerechtsamen
redet." Das hat der Mann geschrieben, der "die Rechte der .Kinder entdeckt
hat," der selige Jean Jacques Rousseau.

Eine Meinung ist noch nicht deshalb wahr oder falsch, weil sie schon
vor hundert Jahren behauptet wordeu ist. Aber man erwäge! Gewiß hat
auch das Kind sein Recht, denn es ist "ach Gottes Ebenbild geschaffen. Aber
es ist "och nicht imstande, dies Recht zu vertrete", weil es dies Recht noch
nicht kennt und begreift. Darum treten die Eltern für das unmündige Kind
ein, und ebendarum hat das Kind als einziges Recht das Recht ans Erziehung,
damit es seine Menschenwürde allmählich begreifen "ud bethätigen lerne. Wir
würden die ganze sittliche Ordnung umstoßen, wenn wir das Rechtsgefühl der
Kinder zum Grundsatz aller Erziehung machen wollten. Denn much für das
Kind sind die Pflichten eher dn als die Rechte; die Rechte müssen durch
die Pflichten verdient werde". "Von meinen Rechten sagt nur das Gewisse"
nichts, wohl aber von nieiueu Pflichten," hat der Pflichttreueste Mann gesagt,
deu Deutschland bis vor wenig Woche" a" der Spitze seiner Staatsgeschäfte
gesehen hat. Der Gehorsam gegen Eltern und Erzieher ist aber für das Kind
zunächst die einzige Möglichkeit, seiner Pflicht gerecht z" werden. Und diese"


Unterricht und Erziehung

alte Wahrheit Bei, Alldas nicht erwehren können: „Es ist alles schon dage¬
wesen." Damit meine ich nicht eine Benutzung dieser oder jener Gedanken
ans der vorhandenen Pädagogischen Litteratur, sondern gerade in den Grund¬
sätzen über Erziehung hat Herr Güßfeldt einen alten berühmten Vorgänger.
Ich hebe aus den viele» Bemerkungen zunächst zwei Sätze hervor, die auf
seine prinzipielle Stellung in den Fragen der Erziehung besondres Licht werfen.

Herr Güßfeldt erklärt: „Die gestrengen Herren Erzieher, die gar nicht
wissen, wie abstoßend oft ihr Wesen auf Kinder wirkt, wie viel Selbstüber¬
windung sie diesen im täglichen Verkehr auferlege», sagen: Kinder müssen in
erster Linie gehorche» lerne»." „Nein," ruft Herr Güßfeldt, „Kinder müssen
in erster Linie gerecht behandelt werden."

Das heißt also, bei Lichte besehen: nicht mehr das Pflichtbewußtsein,
sondern das Rechtsbewußtsein der Kinder giebt von jetzt an die Norm der
ganzen Erziehung. Auch die Kinder haben ihr Recht, ja das Recht der Kinder
kommt vor ihrer Pflicht!

Es sind vergilbte Blätter, die ich umwende. In einem Buche, das um
die Mitte des vorigen Jahrhunderts erschienen ist, heißt es also: „Unsre
ersten! Pflichten sind gegen uns selbst; unsre ersten ursprünglichen Empfin¬
dungen laufe» in uns selbst zusammen; alle unsre natürlichen Bewegungen
beziehen sich anfangs ans unsre Erhaltung und ans unser Wohlsein. Die
.erste Empfindung von der Gerechtigkeit bekommen wir also nicht von der, die
wir schuldig sind, sondern von derjenigen, die uns gebührt; und dies ist auch
noch eine von den Widersinnigkeiten der gemeinen Erziehungen, daß »ran gleich
anfangs mit den Kindern von ihren Pflichten, niemals von ihren Gerechtsamen
redet." Das hat der Mann geschrieben, der „die Rechte der .Kinder entdeckt
hat," der selige Jean Jacques Rousseau.

Eine Meinung ist noch nicht deshalb wahr oder falsch, weil sie schon
vor hundert Jahren behauptet wordeu ist. Aber man erwäge! Gewiß hat
auch das Kind sein Recht, denn es ist »ach Gottes Ebenbild geschaffen. Aber
es ist »och nicht imstande, dies Recht zu vertrete», weil es dies Recht noch
nicht kennt und begreift. Darum treten die Eltern für das unmündige Kind
ein, und ebendarum hat das Kind als einziges Recht das Recht ans Erziehung,
damit es seine Menschenwürde allmählich begreifen »ud bethätigen lerne. Wir
würden die ganze sittliche Ordnung umstoßen, wenn wir das Rechtsgefühl der
Kinder zum Grundsatz aller Erziehung machen wollten. Denn much für das
Kind sind die Pflichten eher dn als die Rechte; die Rechte müssen durch
die Pflichten verdient werde». „Von meinen Rechten sagt nur das Gewisse»
nichts, wohl aber von nieiueu Pflichten," hat der Pflichttreueste Mann gesagt,
deu Deutschland bis vor wenig Woche» a» der Spitze seiner Staatsgeschäfte
gesehen hat. Der Gehorsam gegen Eltern und Erzieher ist aber für das Kind
zunächst die einzige Möglichkeit, seiner Pflicht gerecht z» werden. Und diese»


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0222" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207517"/>
          <fw type="header" place="top"> Unterricht und Erziehung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_604" prev="#ID_603"> alte Wahrheit Bei, Alldas nicht erwehren können: &#x201E;Es ist alles schon dage¬<lb/>
wesen." Damit meine ich nicht eine Benutzung dieser oder jener Gedanken<lb/>
ans der vorhandenen Pädagogischen Litteratur, sondern gerade in den Grund¬<lb/>
sätzen über Erziehung hat Herr Güßfeldt einen alten berühmten Vorgänger.<lb/>
Ich hebe aus den viele» Bemerkungen zunächst zwei Sätze hervor, die auf<lb/>
seine prinzipielle Stellung in den Fragen der Erziehung besondres Licht werfen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_605"> Herr Güßfeldt erklärt: &#x201E;Die gestrengen Herren Erzieher, die gar nicht<lb/>
wissen, wie abstoßend oft ihr Wesen auf Kinder wirkt, wie viel Selbstüber¬<lb/>
windung sie diesen im täglichen Verkehr auferlege», sagen: Kinder müssen in<lb/>
erster Linie gehorche» lerne»." &#x201E;Nein," ruft Herr Güßfeldt, &#x201E;Kinder müssen<lb/>
in erster Linie gerecht behandelt werden."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_606"> Das heißt also, bei Lichte besehen: nicht mehr das Pflichtbewußtsein,<lb/>
sondern das Rechtsbewußtsein der Kinder giebt von jetzt an die Norm der<lb/>
ganzen Erziehung. Auch die Kinder haben ihr Recht, ja das Recht der Kinder<lb/>
kommt vor ihrer Pflicht!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_607"> Es sind vergilbte Blätter, die ich umwende. In einem Buche, das um<lb/>
die Mitte des vorigen Jahrhunderts erschienen ist, heißt es also: &#x201E;Unsre<lb/>
ersten! Pflichten sind gegen uns selbst; unsre ersten ursprünglichen Empfin¬<lb/>
dungen laufe» in uns selbst zusammen; alle unsre natürlichen Bewegungen<lb/>
beziehen sich anfangs ans unsre Erhaltung und ans unser Wohlsein. Die<lb/>
.erste Empfindung von der Gerechtigkeit bekommen wir also nicht von der, die<lb/>
wir schuldig sind, sondern von derjenigen, die uns gebührt; und dies ist auch<lb/>
noch eine von den Widersinnigkeiten der gemeinen Erziehungen, daß »ran gleich<lb/>
anfangs mit den Kindern von ihren Pflichten, niemals von ihren Gerechtsamen<lb/>
redet." Das hat der Mann geschrieben, der &#x201E;die Rechte der .Kinder entdeckt<lb/>
hat," der selige Jean Jacques Rousseau.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_608" next="#ID_609"> Eine Meinung ist noch nicht deshalb wahr oder falsch, weil sie schon<lb/>
vor hundert Jahren behauptet wordeu ist. Aber man erwäge! Gewiß hat<lb/>
auch das Kind sein Recht, denn es ist »ach Gottes Ebenbild geschaffen. Aber<lb/>
es ist »och nicht imstande, dies Recht zu vertrete», weil es dies Recht noch<lb/>
nicht kennt und begreift. Darum treten die Eltern für das unmündige Kind<lb/>
ein, und ebendarum hat das Kind als einziges Recht das Recht ans Erziehung,<lb/>
damit es seine Menschenwürde allmählich begreifen »ud bethätigen lerne. Wir<lb/>
würden die ganze sittliche Ordnung umstoßen, wenn wir das Rechtsgefühl der<lb/>
Kinder zum Grundsatz aller Erziehung machen wollten. Denn much für das<lb/>
Kind sind die Pflichten eher dn als die Rechte; die Rechte müssen durch<lb/>
die Pflichten verdient werde». &#x201E;Von meinen Rechten sagt nur das Gewisse»<lb/>
nichts, wohl aber von nieiueu Pflichten," hat der Pflichttreueste Mann gesagt,<lb/>
deu Deutschland bis vor wenig Woche» a» der Spitze seiner Staatsgeschäfte<lb/>
gesehen hat. Der Gehorsam gegen Eltern und Erzieher ist aber für das Kind<lb/>
zunächst die einzige Möglichkeit, seiner Pflicht gerecht z» werden.  Und diese»</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0222] Unterricht und Erziehung alte Wahrheit Bei, Alldas nicht erwehren können: „Es ist alles schon dage¬ wesen." Damit meine ich nicht eine Benutzung dieser oder jener Gedanken ans der vorhandenen Pädagogischen Litteratur, sondern gerade in den Grund¬ sätzen über Erziehung hat Herr Güßfeldt einen alten berühmten Vorgänger. Ich hebe aus den viele» Bemerkungen zunächst zwei Sätze hervor, die auf seine prinzipielle Stellung in den Fragen der Erziehung besondres Licht werfen. Herr Güßfeldt erklärt: „Die gestrengen Herren Erzieher, die gar nicht wissen, wie abstoßend oft ihr Wesen auf Kinder wirkt, wie viel Selbstüber¬ windung sie diesen im täglichen Verkehr auferlege», sagen: Kinder müssen in erster Linie gehorche» lerne»." „Nein," ruft Herr Güßfeldt, „Kinder müssen in erster Linie gerecht behandelt werden." Das heißt also, bei Lichte besehen: nicht mehr das Pflichtbewußtsein, sondern das Rechtsbewußtsein der Kinder giebt von jetzt an die Norm der ganzen Erziehung. Auch die Kinder haben ihr Recht, ja das Recht der Kinder kommt vor ihrer Pflicht! Es sind vergilbte Blätter, die ich umwende. In einem Buche, das um die Mitte des vorigen Jahrhunderts erschienen ist, heißt es also: „Unsre ersten! Pflichten sind gegen uns selbst; unsre ersten ursprünglichen Empfin¬ dungen laufe» in uns selbst zusammen; alle unsre natürlichen Bewegungen beziehen sich anfangs ans unsre Erhaltung und ans unser Wohlsein. Die .erste Empfindung von der Gerechtigkeit bekommen wir also nicht von der, die wir schuldig sind, sondern von derjenigen, die uns gebührt; und dies ist auch noch eine von den Widersinnigkeiten der gemeinen Erziehungen, daß »ran gleich anfangs mit den Kindern von ihren Pflichten, niemals von ihren Gerechtsamen redet." Das hat der Mann geschrieben, der „die Rechte der .Kinder entdeckt hat," der selige Jean Jacques Rousseau. Eine Meinung ist noch nicht deshalb wahr oder falsch, weil sie schon vor hundert Jahren behauptet wordeu ist. Aber man erwäge! Gewiß hat auch das Kind sein Recht, denn es ist »ach Gottes Ebenbild geschaffen. Aber es ist »och nicht imstande, dies Recht zu vertrete», weil es dies Recht noch nicht kennt und begreift. Darum treten die Eltern für das unmündige Kind ein, und ebendarum hat das Kind als einziges Recht das Recht ans Erziehung, damit es seine Menschenwürde allmählich begreifen »ud bethätigen lerne. Wir würden die ganze sittliche Ordnung umstoßen, wenn wir das Rechtsgefühl der Kinder zum Grundsatz aller Erziehung machen wollten. Denn much für das Kind sind die Pflichten eher dn als die Rechte; die Rechte müssen durch die Pflichten verdient werde». „Von meinen Rechten sagt nur das Gewisse» nichts, wohl aber von nieiueu Pflichten," hat der Pflichttreueste Mann gesagt, deu Deutschland bis vor wenig Woche» a» der Spitze seiner Staatsgeschäfte gesehen hat. Der Gehorsam gegen Eltern und Erzieher ist aber für das Kind zunächst die einzige Möglichkeit, seiner Pflicht gerecht z» werden. Und diese»

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/222
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/222>, abgerufen am 28.12.2024.