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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

und wissenschaftlichen Abhandlungen hin und her. Fast jeder bringt das
Scherflein eines neuen Vorschlags, und es mag geglaubt werden, daß alle von
heiligem Eifer für die Sache entbrannt gewesen sind. Aber es sind uns jetzt
weniger neue Vorschläge von nöten als eine kritische Sichtung des Vor¬
handenen, vielleicht daß sich da die großen Gesichtspunkte, die prinzipiellen
Gedanken ergeben, die eine Schlichtung des Streites, eine Beruhigung der
Gemüter und dadurch allein eine gedeihliche Entwicklung unsers Schulwesens
herbeizuführen geeignet sind.

In den meisten Fällen sind es Fragen des Unterrichtsstoffes, die erörtert
werden. Was soll deu Mittelpunkt des gesamten Unterrichts bilden? Huma
nistische Studien oder moderne Sprachen .oder Mathematik und Naturwissen¬
schaften oder deutsche Sprache und Philosophie?

Mese große Verschiedenheit der Forderungen und Vorschläge hat ihren
guten Grund. Während sich die Wissenschaften vielfach in lauter Einzelunter¬
suchungen aufgelöst haben und damit das Bewußtsein des Zusammenhanges
aller Wissenschaften verdunkelt ist, hat sich das Gefühl für die Größe und
Bedeutung der eignen Wissenschaft bei sehr vielen verschärft, die Achtung "ud
das Verständnis für fremde Untersuchungen gemindert. Überdies sind die
technischen Fächer, ans wissenschaftliche Grundlage gestellt, in fortwährender
Ausdehnung. Sie alle, Wissenschaft wie Technik, beanspruchen von der Schule,
wo nicht im Mittelpunkte des Unterrichts zu stehen, so doch Berücksichtigung
SU sinden. Erfolgt kein Eindämmen des Stromes, so wird die höhere Schule
von der Menge des Stoffes überflutet und in ihrer Wirksamkeit erdrückt
werden, oder sich in lauter einzelne Fachschulen auflösen müssen.

Darum ist ein Sichbesinnen auf den Zweck und das Wesen alles Unter¬
richts zur Zeit wohl angethan, oder weiter gefaßt, es ist eine Einigung über
^e Frage dringlich geworden: wie soll sich der Unterricht zur Erziehung verhalten,
W wie muß unsre Erziehung überhaupt gestaltet sein? Nun hat neuerdings Herr
Paul Güßfeldt in einem Aufsatze Die Erziehung der deutschen Jugend
Merst in der "Deutschen Rundschau" (im Januar- und Februarheft), dann in
wlem in Buchform erschienenen Abdruck (Berlin, Gebrüder Paket, 1890) seine
Vorschläge zu einer Schulreform durch einen Abschnitt über Erziehung eingeleitet
Und zu begründen versucht. Ich knüpfe meine Erörterungen umso lieber an dieses
^und an, als es vermöge seiner gewandten Darstellung und seines aphoristi¬
schen Charakters weitere Kreise zu fesseln geeignet ist. Das wird auch der
Herr Verfasser selbst wünschen. Jedoch kaun ich die Bemerkung uicht unter¬
drücken, daß er seine Erfahrungen aus ganz bestimmten Gesellschaftskreisen,
den sogenannten obern Zehntausend, gesammelt lind darum bei manchen Aus¬
sprüchen gerade diese Kreise besonders im Auge gehabt zu haben scheint.

Ich habe mich beim Lesen des ersten Abschnittes des genannten Buches,
der besonders über die Erziehung des Kindes handelt, der Erinnerung an die


Unterricht und Erziehung

und wissenschaftlichen Abhandlungen hin und her. Fast jeder bringt das
Scherflein eines neuen Vorschlags, und es mag geglaubt werden, daß alle von
heiligem Eifer für die Sache entbrannt gewesen sind. Aber es sind uns jetzt
weniger neue Vorschläge von nöten als eine kritische Sichtung des Vor¬
handenen, vielleicht daß sich da die großen Gesichtspunkte, die prinzipiellen
Gedanken ergeben, die eine Schlichtung des Streites, eine Beruhigung der
Gemüter und dadurch allein eine gedeihliche Entwicklung unsers Schulwesens
herbeizuführen geeignet sind.

In den meisten Fällen sind es Fragen des Unterrichtsstoffes, die erörtert
werden. Was soll deu Mittelpunkt des gesamten Unterrichts bilden? Huma
nistische Studien oder moderne Sprachen .oder Mathematik und Naturwissen¬
schaften oder deutsche Sprache und Philosophie?

Mese große Verschiedenheit der Forderungen und Vorschläge hat ihren
guten Grund. Während sich die Wissenschaften vielfach in lauter Einzelunter¬
suchungen aufgelöst haben und damit das Bewußtsein des Zusammenhanges
aller Wissenschaften verdunkelt ist, hat sich das Gefühl für die Größe und
Bedeutung der eignen Wissenschaft bei sehr vielen verschärft, die Achtung »ud
das Verständnis für fremde Untersuchungen gemindert. Überdies sind die
technischen Fächer, ans wissenschaftliche Grundlage gestellt, in fortwährender
Ausdehnung. Sie alle, Wissenschaft wie Technik, beanspruchen von der Schule,
wo nicht im Mittelpunkte des Unterrichts zu stehen, so doch Berücksichtigung
SU sinden. Erfolgt kein Eindämmen des Stromes, so wird die höhere Schule
von der Menge des Stoffes überflutet und in ihrer Wirksamkeit erdrückt
werden, oder sich in lauter einzelne Fachschulen auflösen müssen.

Darum ist ein Sichbesinnen auf den Zweck und das Wesen alles Unter¬
richts zur Zeit wohl angethan, oder weiter gefaßt, es ist eine Einigung über
^e Frage dringlich geworden: wie soll sich der Unterricht zur Erziehung verhalten,
W wie muß unsre Erziehung überhaupt gestaltet sein? Nun hat neuerdings Herr
Paul Güßfeldt in einem Aufsatze Die Erziehung der deutschen Jugend
Merst in der „Deutschen Rundschau" (im Januar- und Februarheft), dann in
wlem in Buchform erschienenen Abdruck (Berlin, Gebrüder Paket, 1890) seine
Vorschläge zu einer Schulreform durch einen Abschnitt über Erziehung eingeleitet
Und zu begründen versucht. Ich knüpfe meine Erörterungen umso lieber an dieses
^und an, als es vermöge seiner gewandten Darstellung und seines aphoristi¬
schen Charakters weitere Kreise zu fesseln geeignet ist. Das wird auch der
Herr Verfasser selbst wünschen. Jedoch kaun ich die Bemerkung uicht unter¬
drücken, daß er seine Erfahrungen aus ganz bestimmten Gesellschaftskreisen,
den sogenannten obern Zehntausend, gesammelt lind darum bei manchen Aus¬
sprüchen gerade diese Kreise besonders im Auge gehabt zu haben scheint.

Ich habe mich beim Lesen des ersten Abschnittes des genannten Buches,
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[0221] Unterricht und Erziehung und wissenschaftlichen Abhandlungen hin und her. Fast jeder bringt das Scherflein eines neuen Vorschlags, und es mag geglaubt werden, daß alle von heiligem Eifer für die Sache entbrannt gewesen sind. Aber es sind uns jetzt weniger neue Vorschläge von nöten als eine kritische Sichtung des Vor¬ handenen, vielleicht daß sich da die großen Gesichtspunkte, die prinzipiellen Gedanken ergeben, die eine Schlichtung des Streites, eine Beruhigung der Gemüter und dadurch allein eine gedeihliche Entwicklung unsers Schulwesens herbeizuführen geeignet sind. In den meisten Fällen sind es Fragen des Unterrichtsstoffes, die erörtert werden. Was soll deu Mittelpunkt des gesamten Unterrichts bilden? Huma nistische Studien oder moderne Sprachen .oder Mathematik und Naturwissen¬ schaften oder deutsche Sprache und Philosophie? Mese große Verschiedenheit der Forderungen und Vorschläge hat ihren guten Grund. Während sich die Wissenschaften vielfach in lauter Einzelunter¬ suchungen aufgelöst haben und damit das Bewußtsein des Zusammenhanges aller Wissenschaften verdunkelt ist, hat sich das Gefühl für die Größe und Bedeutung der eignen Wissenschaft bei sehr vielen verschärft, die Achtung »ud das Verständnis für fremde Untersuchungen gemindert. Überdies sind die technischen Fächer, ans wissenschaftliche Grundlage gestellt, in fortwährender Ausdehnung. Sie alle, Wissenschaft wie Technik, beanspruchen von der Schule, wo nicht im Mittelpunkte des Unterrichts zu stehen, so doch Berücksichtigung SU sinden. Erfolgt kein Eindämmen des Stromes, so wird die höhere Schule von der Menge des Stoffes überflutet und in ihrer Wirksamkeit erdrückt werden, oder sich in lauter einzelne Fachschulen auflösen müssen. Darum ist ein Sichbesinnen auf den Zweck und das Wesen alles Unter¬ richts zur Zeit wohl angethan, oder weiter gefaßt, es ist eine Einigung über ^e Frage dringlich geworden: wie soll sich der Unterricht zur Erziehung verhalten, W wie muß unsre Erziehung überhaupt gestaltet sein? Nun hat neuerdings Herr Paul Güßfeldt in einem Aufsatze Die Erziehung der deutschen Jugend Merst in der „Deutschen Rundschau" (im Januar- und Februarheft), dann in wlem in Buchform erschienenen Abdruck (Berlin, Gebrüder Paket, 1890) seine Vorschläge zu einer Schulreform durch einen Abschnitt über Erziehung eingeleitet Und zu begründen versucht. Ich knüpfe meine Erörterungen umso lieber an dieses ^und an, als es vermöge seiner gewandten Darstellung und seines aphoristi¬ schen Charakters weitere Kreise zu fesseln geeignet ist. Das wird auch der Herr Verfasser selbst wünschen. Jedoch kaun ich die Bemerkung uicht unter¬ drücken, daß er seine Erfahrungen aus ganz bestimmten Gesellschaftskreisen, den sogenannten obern Zehntausend, gesammelt lind darum bei manchen Aus¬ sprüchen gerade diese Kreise besonders im Auge gehabt zu haben scheint. Ich habe mich beim Lesen des ersten Abschnittes des genannten Buches, der besonders über die Erziehung des Kindes handelt, der Erinnerung an die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/221>, abgerufen am 29.06.2024.