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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Unterricht und Erziehung

Gehorsam, wenn es sein muß, durch die Mittel der Zucht zu erzwingen, ist das
gute Recht, ja die Pflicht der Erzieher. Das Kind weiß nicht, was ihm gut
ist; ja wie oft empfindet es nicht als bittres Unrecht, was doch nur sein gutes
deckst ist. Wohl hat das Kind einen Sinn für gerechte Behandlung, aber
dieser tritt nur in feinem Verhältnis zu den Geschwistern zu Tage, da es mit
ihnen den Eltern gegenüber auf derselben Stufe steht. Diese Thatsache ent¬
hält, in die Sprache der Praxis übersetzt, die Warnung, kein Kind vor seineu
Geschwistern vorzuziehen.

Im Lichte dieses Zusammenhanges Null auch eine Anekdote beurteilt
werden, die Herr Güßfeldt aus seinem Leben berichtet. Wenn der Knabe sich
weigerte, einem Fremden, der ihm nicht genehm war, die Hand zur Begrüßung
->" geben, souderu seinem Unmut in Thränen Luft zu macheu pflegte -- Hand
"uff Herz, Herr Güßfeldt, hatte da der Vater nicht das Recht, dem eigensinnige"
Knaben eine von den kräftigen Ohrfeigen zu geben, die Sie uns zur rechten
Zeit wieder entdeckt haben? Konnte der Vater diesen Erweis der Höflichkeit
von seinem Kinde nicht mit Fug verlangen? Oder hätte man das Kind dahin
erziehe" sollen, daß es, dem eignen Willen folgend, mißliebigen Persönlichkeiten
^nie gemessene Verbeugung als Höflichkeitsform entgegenbrächte, wie es der
greifte, seines Willens und seines Rechtes sich bewußte Mann gethan hätte?

Was für deu Mann gilt, gilt darum noch nicht für das Kind. Der
^aun ist im vollen Besitz seiner sittlichen Freiheit, das Kind soll dazu erst
^"gen werden. Der Weg zur Freiheit aber führt noch immer dnrch den
Gehorsam, und somit ist dieser freilich nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum
owecl. Jeder Gehorsam, der nicht zu diesem Ziele führt, ist unsittlich, weil
^' 5"r .Knechtschaft führt. Darum ist blinde oder lieblose Strenge ebenso wenig
^eignet, den rechten Gehorsam zu bewirken, als jene verzärtelnde Affen-
^''e, die das Kind zum Spielbnlle seiner eignen Launen und Begierden er¬
niedrigt.

Solche Erziehung ist unsrer Zeit Bedürfnis. Die soziale Bewegung
Wurzelt zu nicht geringem Teile in einem krankhaft gesteigerten Rechtsbewußtsein.
handelt sich bei ihr nicht bloß um eine Brotfrage, souderu ebenso sehr um
Frage des Gehorsams, der Zucht, der Autorität; die soziale Frage ist
""es eine sittliche Frage. Neben dem "Was geben nur ihnen zu essen?" steht
,^'um, nicht minder Beachtung heischend, das andre "Wie sollen wir sie er¬
gehen?" ^ diesem Abschnitt mit eiuer andern Antithese: nicht eine
.'^Neuerung der Rvusseauischen Lehre vom Rechte der Kinder kann ein wirt-
^,'Ach Mittel für die Erziehung werden, sondern der alte Grundsatz, daß
^ "der in erster Linie zum Gehorsam erzogen werden müssen.

^ Es paßt in einer Zeit alles zu einander, Politik, Kunst und Pädagogik.
^ sozialistische Ideal ist Rückkehr zur Natur; die natürliche Ordnung ist
"'-'es die bisherige Kultur durchbrochen und vernichtet, ihre Herstellung ist


Unterricht und Erziehung

Gehorsam, wenn es sein muß, durch die Mittel der Zucht zu erzwingen, ist das
gute Recht, ja die Pflicht der Erzieher. Das Kind weiß nicht, was ihm gut
ist; ja wie oft empfindet es nicht als bittres Unrecht, was doch nur sein gutes
deckst ist. Wohl hat das Kind einen Sinn für gerechte Behandlung, aber
dieser tritt nur in feinem Verhältnis zu den Geschwistern zu Tage, da es mit
ihnen den Eltern gegenüber auf derselben Stufe steht. Diese Thatsache ent¬
hält, in die Sprache der Praxis übersetzt, die Warnung, kein Kind vor seineu
Geschwistern vorzuziehen.

Im Lichte dieses Zusammenhanges Null auch eine Anekdote beurteilt
werden, die Herr Güßfeldt aus seinem Leben berichtet. Wenn der Knabe sich
weigerte, einem Fremden, der ihm nicht genehm war, die Hand zur Begrüßung
->» geben, souderu seinem Unmut in Thränen Luft zu macheu pflegte — Hand
"uff Herz, Herr Güßfeldt, hatte da der Vater nicht das Recht, dem eigensinnige»
Knaben eine von den kräftigen Ohrfeigen zu geben, die Sie uns zur rechten
Zeit wieder entdeckt haben? Konnte der Vater diesen Erweis der Höflichkeit
von seinem Kinde nicht mit Fug verlangen? Oder hätte man das Kind dahin
erziehe» sollen, daß es, dem eignen Willen folgend, mißliebigen Persönlichkeiten
^nie gemessene Verbeugung als Höflichkeitsform entgegenbrächte, wie es der
greifte, seines Willens und seines Rechtes sich bewußte Mann gethan hätte?

Was für deu Mann gilt, gilt darum noch nicht für das Kind. Der
^aun ist im vollen Besitz seiner sittlichen Freiheit, das Kind soll dazu erst
^»gen werden. Der Weg zur Freiheit aber führt noch immer dnrch den
Gehorsam, und somit ist dieser freilich nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum
owecl. Jeder Gehorsam, der nicht zu diesem Ziele führt, ist unsittlich, weil
^' 5»r .Knechtschaft führt. Darum ist blinde oder lieblose Strenge ebenso wenig
^eignet, den rechten Gehorsam zu bewirken, als jene verzärtelnde Affen-
^''e, die das Kind zum Spielbnlle seiner eignen Launen und Begierden er¬
niedrigt.

Solche Erziehung ist unsrer Zeit Bedürfnis. Die soziale Bewegung
Wurzelt zu nicht geringem Teile in einem krankhaft gesteigerten Rechtsbewußtsein.
handelt sich bei ihr nicht bloß um eine Brotfrage, souderu ebenso sehr um
Frage des Gehorsams, der Zucht, der Autorität; die soziale Frage ist
""es eine sittliche Frage. Neben dem „Was geben nur ihnen zu essen?" steht
,^'um, nicht minder Beachtung heischend, das andre „Wie sollen wir sie er¬
gehen?" ^ diesem Abschnitt mit eiuer andern Antithese: nicht eine
.'^Neuerung der Rvusseauischen Lehre vom Rechte der Kinder kann ein wirt-
^,'Ach Mittel für die Erziehung werden, sondern der alte Grundsatz, daß
^ »der in erster Linie zum Gehorsam erzogen werden müssen.

^ Es paßt in einer Zeit alles zu einander, Politik, Kunst und Pädagogik.
^ sozialistische Ideal ist Rückkehr zur Natur; die natürliche Ordnung ist
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[0223] Unterricht und Erziehung Gehorsam, wenn es sein muß, durch die Mittel der Zucht zu erzwingen, ist das gute Recht, ja die Pflicht der Erzieher. Das Kind weiß nicht, was ihm gut ist; ja wie oft empfindet es nicht als bittres Unrecht, was doch nur sein gutes deckst ist. Wohl hat das Kind einen Sinn für gerechte Behandlung, aber dieser tritt nur in feinem Verhältnis zu den Geschwistern zu Tage, da es mit ihnen den Eltern gegenüber auf derselben Stufe steht. Diese Thatsache ent¬ hält, in die Sprache der Praxis übersetzt, die Warnung, kein Kind vor seineu Geschwistern vorzuziehen. Im Lichte dieses Zusammenhanges Null auch eine Anekdote beurteilt werden, die Herr Güßfeldt aus seinem Leben berichtet. Wenn der Knabe sich weigerte, einem Fremden, der ihm nicht genehm war, die Hand zur Begrüßung ->» geben, souderu seinem Unmut in Thränen Luft zu macheu pflegte — Hand "uff Herz, Herr Güßfeldt, hatte da der Vater nicht das Recht, dem eigensinnige» Knaben eine von den kräftigen Ohrfeigen zu geben, die Sie uns zur rechten Zeit wieder entdeckt haben? Konnte der Vater diesen Erweis der Höflichkeit von seinem Kinde nicht mit Fug verlangen? Oder hätte man das Kind dahin erziehe» sollen, daß es, dem eignen Willen folgend, mißliebigen Persönlichkeiten ^nie gemessene Verbeugung als Höflichkeitsform entgegenbrächte, wie es der greifte, seines Willens und seines Rechtes sich bewußte Mann gethan hätte? Was für deu Mann gilt, gilt darum noch nicht für das Kind. Der ^aun ist im vollen Besitz seiner sittlichen Freiheit, das Kind soll dazu erst ^»gen werden. Der Weg zur Freiheit aber führt noch immer dnrch den Gehorsam, und somit ist dieser freilich nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum owecl. Jeder Gehorsam, der nicht zu diesem Ziele führt, ist unsittlich, weil ^' 5»r .Knechtschaft führt. Darum ist blinde oder lieblose Strenge ebenso wenig ^eignet, den rechten Gehorsam zu bewirken, als jene verzärtelnde Affen- ^''e, die das Kind zum Spielbnlle seiner eignen Launen und Begierden er¬ niedrigt. Solche Erziehung ist unsrer Zeit Bedürfnis. Die soziale Bewegung Wurzelt zu nicht geringem Teile in einem krankhaft gesteigerten Rechtsbewußtsein. handelt sich bei ihr nicht bloß um eine Brotfrage, souderu ebenso sehr um Frage des Gehorsams, der Zucht, der Autorität; die soziale Frage ist ""es eine sittliche Frage. Neben dem „Was geben nur ihnen zu essen?" steht ,^'um, nicht minder Beachtung heischend, das andre „Wie sollen wir sie er¬ gehen?" ^ diesem Abschnitt mit eiuer andern Antithese: nicht eine .'^Neuerung der Rvusseauischen Lehre vom Rechte der Kinder kann ein wirt- ^,'Ach Mittel für die Erziehung werden, sondern der alte Grundsatz, daß ^ »der in erster Linie zum Gehorsam erzogen werden müssen. ^ Es paßt in einer Zeit alles zu einander, Politik, Kunst und Pädagogik. ^ sozialistische Ideal ist Rückkehr zur Natur; die natürliche Ordnung ist "'-'es die bisherige Kultur durchbrochen und vernichtet, ihre Herstellung ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/223>, abgerufen am 28.12.2024.