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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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ist. Freilich der Eintritt geschieht mit der ganzen Ungeschlachtheit und Un¬
klarheit^ der scheinbar neuen Dingen gewöhnlich eigen ist. Der Stand der
Arbeiter wird in den Angen der Socialdemokratie zum Stande der Unterdrückten,
ihre Parole wird: arm und reich; an die Stelle des Standesgefühls tritt Ver¬
bitterung und Haß gegen den Besitz. Doch darf man nicht zu schwarz sehen,
die Mehrzahl der Wähler steht den Plänen der eigentlichen Volksbeglücker fern;
sie ist einfach unzufrieden, weil sie glaubt, ihre Einnahmen deckten sich nicht
mit berechtigten Ansprüchen, und weil sie sich sagt: die andern Parteien thun
weniger für uns als die Socialdemokraten, folglich entscheiden wir uns für sie.
Die Sozinldemolratie in Deutschland ähnelt dem Voulangismus in Frankreich,
nur daß sie echt deutsch alles theoretisch, der Franzose echt französisch alles
persönlich faßt.

Bisher, wo die Sozialdemokratie eine augenscheinlich staatsgefährliche Seite
hervorkehrte, war es Pflicht der staatserhaltenden Regierung, sie möglichst
wenig aufkommen zu lassen. Doch ihr Wachstum beweist ihre Lebenskraft,
beweist, daß der Boden, auf dem sie sproßt, sie gewissermaßen selbst erzeugt.
So konnte sie bei den letzten Wahlen mit elementarer Gewalt anwachsen.
Bleibt sie in ihrer bisherigen Richtung, von oben gedämpft, von unten und
seitwärts geschürt, so kaun sie zu einer Gefahr werden; die Geschichte
lehrt, wozu leidenschaftliche Verbissenheit im Augenblicke fähig ist, und wie
Einzelne ganze Tausende, ja Millionen mit sich zu reißen vermögen. Freilich
die Stärke der Socialdemokratie beruht im Ringen, in der Erregung des
Kampfes; im Besitze von Macht, in der Ruhe würde" alsbald die Gegensätze
in ihr zu Tage trete" und sich zersetzen. Sie ist noch viel zu unfertig und
wird nie el" einheitliches Ergebnis auch nur erstreben können, in ihrer Stärke
liegt zugleich ihre Schwäche. Ihre Stütze ist die Masse; sie sucht alle Nicht¬
besitzenden in ihre Wirbel, die Hauptgrundlagen des Staates zu sich hinüber
zu ziehen: die niedern Beamten und die gemeinen Soldaten.

Bei den niedern Beamten ist Entfremdung schon vielfach erfolgt, statt
des Benmtenstolzes fühlen sich manche als ausgenutzte Proletarier. Das Heer
betrachtet sich noch schroff als Stand, doch Gedanken sind wie zersetzende
Spaltpilze, sie finden überall Eingang; und in das Heer treten von der einen
Seite junge Leute als Rekruten ein, Hanptanhänger der Sozialdemokratie, von
der andern Reservisten als verbitterte und organisirte Parteimänner. Hand-
habung strenger Disziplin vermag da nicht viel, sie ist nur so lange zulässig,
als der Geist der Truppe sie trägt.

Somit würde es daraus ankommen, die Sozialdemokratie ans einer
zerstörenden womöglich zu einer schöpferischen Macht umzugestalten, ihr ihre
staatsfeindliche Richtung zu nehmen. In dein jetzigen Parlamente wird das un¬
möglich sein, die Sozialdemokratie paßt nicht hinein, sie ist eine soziale, keine
politische Partei, und als solche wird sie in einer nicht entsprechenden Umgebung


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ist. Freilich der Eintritt geschieht mit der ganzen Ungeschlachtheit und Un¬
klarheit^ der scheinbar neuen Dingen gewöhnlich eigen ist. Der Stand der
Arbeiter wird in den Angen der Socialdemokratie zum Stande der Unterdrückten,
ihre Parole wird: arm und reich; an die Stelle des Standesgefühls tritt Ver¬
bitterung und Haß gegen den Besitz. Doch darf man nicht zu schwarz sehen,
die Mehrzahl der Wähler steht den Plänen der eigentlichen Volksbeglücker fern;
sie ist einfach unzufrieden, weil sie glaubt, ihre Einnahmen deckten sich nicht
mit berechtigten Ansprüchen, und weil sie sich sagt: die andern Parteien thun
weniger für uns als die Socialdemokraten, folglich entscheiden wir uns für sie.
Die Sozinldemolratie in Deutschland ähnelt dem Voulangismus in Frankreich,
nur daß sie echt deutsch alles theoretisch, der Franzose echt französisch alles
persönlich faßt.

Bisher, wo die Sozialdemokratie eine augenscheinlich staatsgefährliche Seite
hervorkehrte, war es Pflicht der staatserhaltenden Regierung, sie möglichst
wenig aufkommen zu lassen. Doch ihr Wachstum beweist ihre Lebenskraft,
beweist, daß der Boden, auf dem sie sproßt, sie gewissermaßen selbst erzeugt.
So konnte sie bei den letzten Wahlen mit elementarer Gewalt anwachsen.
Bleibt sie in ihrer bisherigen Richtung, von oben gedämpft, von unten und
seitwärts geschürt, so kaun sie zu einer Gefahr werden; die Geschichte
lehrt, wozu leidenschaftliche Verbissenheit im Augenblicke fähig ist, und wie
Einzelne ganze Tausende, ja Millionen mit sich zu reißen vermögen. Freilich
die Stärke der Socialdemokratie beruht im Ringen, in der Erregung des
Kampfes; im Besitze von Macht, in der Ruhe würde» alsbald die Gegensätze
in ihr zu Tage trete» und sich zersetzen. Sie ist noch viel zu unfertig und
wird nie el» einheitliches Ergebnis auch nur erstreben können, in ihrer Stärke
liegt zugleich ihre Schwäche. Ihre Stütze ist die Masse; sie sucht alle Nicht¬
besitzenden in ihre Wirbel, die Hauptgrundlagen des Staates zu sich hinüber
zu ziehen: die niedern Beamten und die gemeinen Soldaten.

Bei den niedern Beamten ist Entfremdung schon vielfach erfolgt, statt
des Benmtenstolzes fühlen sich manche als ausgenutzte Proletarier. Das Heer
betrachtet sich noch schroff als Stand, doch Gedanken sind wie zersetzende
Spaltpilze, sie finden überall Eingang; und in das Heer treten von der einen
Seite junge Leute als Rekruten ein, Hanptanhänger der Sozialdemokratie, von
der andern Reservisten als verbitterte und organisirte Parteimänner. Hand-
habung strenger Disziplin vermag da nicht viel, sie ist nur so lange zulässig,
als der Geist der Truppe sie trägt.

Somit würde es daraus ankommen, die Sozialdemokratie ans einer
zerstörenden womöglich zu einer schöpferischen Macht umzugestalten, ihr ihre
staatsfeindliche Richtung zu nehmen. In dein jetzigen Parlamente wird das un¬
möglich sein, die Sozialdemokratie paßt nicht hinein, sie ist eine soziale, keine
politische Partei, und als solche wird sie in einer nicht entsprechenden Umgebung


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/20>, abgerufen am 01.07.2024.