Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Line Reichstagspbcinlasie

auch "mstürzlerisch bleiben. Es gälte deshalb llingestaltnng des Reichstages,
d. h. des Wahlmodus. Da giebt es denn einen Wahlmodus nach Zcnsns-
klassen. Dieser paßte vortrefflich fiir den altern preußischen Staat, wo der
Reichtum in den Händen deS grundbesitzenden Adels lag, der Jahrhunderte
lang mit Gut und Blut für die Monarchie eingetreten war und dadurch ein
geschichtliches Recht auf Teilnahme erwarb. Das ist jetzt anders. Den
Hauptreichtum besitzen städtische Kapitalisten, oft jüdische, die nicht dnrch
Verdienst und Arbeit reich geworden sind. Ihr Stimme die von Tausenden
aufwiegen zu lassen, wäre eine Unnatur. Außerdem würde mit einem solchen
Wahlmodus nicht dem Volke geholfen, sondern großenteils nur dem Fort¬
schritt. Ein andres Verfahren bestünde in Bildnugsktassen, etwa mit dem
Abiturientenernmen als Hauptgrenze. Aber anch das liefe auf Kapital-
bevorzugnng hinaus, denn der begabte Arme, dessen Eltern nicht das Gym¬
nasium haben bezahlen können, stünde vor dein dummen Reichen zurück, bei
dem es der Fall gewesen ist. Auch eine Znrnckverlegnng der Wahlberechtigung
nach dem Alter erscheint unausführbar in unsrer schnelllebige" Zeit, wo sich
die Bürschchen erstaunlich früh für reif halten und besonders starke Krakehl-
orgaue entwickeln. Überdies würde nicht viel erreicht werden.

Uns dünkt, es ließe sich dort fortfahren, wo unsre Großeltern standen
und wo wir aufhörten, bis die Sozialdemokratin sie thatsächlich wieder ein¬
führten: bei den Staudeswahlen.

Das Volk der Gegenwart besteht natürlich nicht ans Klerus, Adel und einem
dritten Stande, nicht aus Geburth-, sondern aus Berufsständen, und zwar
ans Ackerbauern, Handwerkern, Kaufleuten und Beamten. Diese vier Gruppen
ließen sich sehr wohl fiir die Wahl zu Grunde legen, und zwar fo, daß in
denselben Kreisen jede Gruppe für sich abstimmte. Die großen Bezirke wären
in Unterbezirke zu teilen, von einen" Umfange, den die einzelnen Zugehörigen
noch ungefähr zu übersehen vermöchten. Diese wählte" alsdann ihren Ver¬
trauensmann und ans den Vertrauensmännern des Kreises ginge schließlich
dessen Vertreter hervor, sei es dnrch Wahl, sei es dnrch das Los, was hier keinen
so großen Unterschied bilden würde, weil schon die Auswahl vorhanden ist,
schon Gleichartige da sind, wie bekanntlich auch bei den gleichartiger" Bürgern
Athens diu? Los entschied.

Auf diese Weise bestünde der Reichstag nicht ans künstlich erzeugten
Parteimännern, sondern es wäre das Volk in seinen wirklichen Teilen vertreten,
denn der Ackerbauer würde in der Regel einem Ackerbauern und nicht einem
Advokaten seine Stimme geben. Im Parlamente säßen Fachmänner, das ge-
buzrliche Berufspartnmentariertnm mit seinem eiteln Geschwätz, seinem lauen
Hatbwisieu und seiner faden Zeitnngsreklmne träte zurück vor der sachlichen
Erwägung wirklich Kundiger. Auch hier würden sich zwei Hauptgruppen, eine
fortschrittlichere und eine konservativere, entwickeln, aber da doch nicht sie, sondern


Line Reichstagspbcinlasie

auch »mstürzlerisch bleiben. Es gälte deshalb llingestaltnng des Reichstages,
d. h. des Wahlmodus. Da giebt es denn einen Wahlmodus nach Zcnsns-
klassen. Dieser paßte vortrefflich fiir den altern preußischen Staat, wo der
Reichtum in den Händen deS grundbesitzenden Adels lag, der Jahrhunderte
lang mit Gut und Blut für die Monarchie eingetreten war und dadurch ein
geschichtliches Recht auf Teilnahme erwarb. Das ist jetzt anders. Den
Hauptreichtum besitzen städtische Kapitalisten, oft jüdische, die nicht dnrch
Verdienst und Arbeit reich geworden sind. Ihr Stimme die von Tausenden
aufwiegen zu lassen, wäre eine Unnatur. Außerdem würde mit einem solchen
Wahlmodus nicht dem Volke geholfen, sondern großenteils nur dem Fort¬
schritt. Ein andres Verfahren bestünde in Bildnugsktassen, etwa mit dem
Abiturientenernmen als Hauptgrenze. Aber anch das liefe auf Kapital-
bevorzugnng hinaus, denn der begabte Arme, dessen Eltern nicht das Gym¬
nasium haben bezahlen können, stünde vor dein dummen Reichen zurück, bei
dem es der Fall gewesen ist. Auch eine Znrnckverlegnng der Wahlberechtigung
nach dem Alter erscheint unausführbar in unsrer schnelllebige» Zeit, wo sich
die Bürschchen erstaunlich früh für reif halten und besonders starke Krakehl-
orgaue entwickeln. Überdies würde nicht viel erreicht werden.

Uns dünkt, es ließe sich dort fortfahren, wo unsre Großeltern standen
und wo wir aufhörten, bis die Sozialdemokratin sie thatsächlich wieder ein¬
führten: bei den Staudeswahlen.

Das Volk der Gegenwart besteht natürlich nicht ans Klerus, Adel und einem
dritten Stande, nicht aus Geburth-, sondern aus Berufsständen, und zwar
ans Ackerbauern, Handwerkern, Kaufleuten und Beamten. Diese vier Gruppen
ließen sich sehr wohl fiir die Wahl zu Grunde legen, und zwar fo, daß in
denselben Kreisen jede Gruppe für sich abstimmte. Die großen Bezirke wären
in Unterbezirke zu teilen, von einen» Umfange, den die einzelnen Zugehörigen
noch ungefähr zu übersehen vermöchten. Diese wählte» alsdann ihren Ver¬
trauensmann und ans den Vertrauensmännern des Kreises ginge schließlich
dessen Vertreter hervor, sei es dnrch Wahl, sei es dnrch das Los, was hier keinen
so großen Unterschied bilden würde, weil schon die Auswahl vorhanden ist,
schon Gleichartige da sind, wie bekanntlich auch bei den gleichartiger» Bürgern
Athens diu? Los entschied.

Auf diese Weise bestünde der Reichstag nicht ans künstlich erzeugten
Parteimännern, sondern es wäre das Volk in seinen wirklichen Teilen vertreten,
denn der Ackerbauer würde in der Regel einem Ackerbauern und nicht einem
Advokaten seine Stimme geben. Im Parlamente säßen Fachmänner, das ge-
buzrliche Berufspartnmentariertnm mit seinem eiteln Geschwätz, seinem lauen
Hatbwisieu und seiner faden Zeitnngsreklmne träte zurück vor der sachlichen
Erwägung wirklich Kundiger. Auch hier würden sich zwei Hauptgruppen, eine
fortschrittlichere und eine konservativere, entwickeln, aber da doch nicht sie, sondern


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0021" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207316"/>
          <fw type="header" place="top"> Line Reichstagspbcinlasie</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37"> auch »mstürzlerisch bleiben. Es gälte deshalb llingestaltnng des Reichstages,<lb/>
d. h. des Wahlmodus. Da giebt es denn einen Wahlmodus nach Zcnsns-<lb/>
klassen. Dieser paßte vortrefflich fiir den altern preußischen Staat, wo der<lb/>
Reichtum in den Händen deS grundbesitzenden Adels lag, der Jahrhunderte<lb/>
lang mit Gut und Blut für die Monarchie eingetreten war und dadurch ein<lb/>
geschichtliches Recht auf Teilnahme erwarb. Das ist jetzt anders. Den<lb/>
Hauptreichtum besitzen städtische Kapitalisten, oft jüdische, die nicht dnrch<lb/>
Verdienst und Arbeit reich geworden sind. Ihr Stimme die von Tausenden<lb/>
aufwiegen zu lassen, wäre eine Unnatur. Außerdem würde mit einem solchen<lb/>
Wahlmodus nicht dem Volke geholfen, sondern großenteils nur dem Fort¬<lb/>
schritt. Ein andres Verfahren bestünde in Bildnugsktassen, etwa mit dem<lb/>
Abiturientenernmen als Hauptgrenze. Aber anch das liefe auf Kapital-<lb/>
bevorzugnng hinaus, denn der begabte Arme, dessen Eltern nicht das Gym¬<lb/>
nasium haben bezahlen können, stünde vor dein dummen Reichen zurück, bei<lb/>
dem es der Fall gewesen ist. Auch eine Znrnckverlegnng der Wahlberechtigung<lb/>
nach dem Alter erscheint unausführbar in unsrer schnelllebige» Zeit, wo sich<lb/>
die Bürschchen erstaunlich früh für reif halten und besonders starke Krakehl-<lb/>
orgaue entwickeln.  Überdies würde nicht viel erreicht werden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_39"> Uns dünkt, es ließe sich dort fortfahren, wo unsre Großeltern standen<lb/>
und wo wir aufhörten, bis die Sozialdemokratin sie thatsächlich wieder ein¬<lb/>
führten: bei den Staudeswahlen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_40"> Das Volk der Gegenwart besteht natürlich nicht ans Klerus, Adel und einem<lb/>
dritten Stande, nicht aus Geburth-, sondern aus Berufsständen, und zwar<lb/>
ans Ackerbauern, Handwerkern, Kaufleuten und Beamten. Diese vier Gruppen<lb/>
ließen sich sehr wohl fiir die Wahl zu Grunde legen, und zwar fo, daß in<lb/>
denselben Kreisen jede Gruppe für sich abstimmte. Die großen Bezirke wären<lb/>
in Unterbezirke zu teilen, von einen» Umfange, den die einzelnen Zugehörigen<lb/>
noch ungefähr zu übersehen vermöchten. Diese wählte» alsdann ihren Ver¬<lb/>
trauensmann und ans den Vertrauensmännern des Kreises ginge schließlich<lb/>
dessen Vertreter hervor, sei es dnrch Wahl, sei es dnrch das Los, was hier keinen<lb/>
so großen Unterschied bilden würde, weil schon die Auswahl vorhanden ist,<lb/>
schon Gleichartige da sind, wie bekanntlich auch bei den gleichartiger» Bürgern<lb/>
Athens diu? Los entschied.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_41" next="#ID_42"> Auf diese Weise bestünde der Reichstag nicht ans künstlich erzeugten<lb/>
Parteimännern, sondern es wäre das Volk in seinen wirklichen Teilen vertreten,<lb/>
denn der Ackerbauer würde in der Regel einem Ackerbauern und nicht einem<lb/>
Advokaten seine Stimme geben. Im Parlamente säßen Fachmänner, das ge-<lb/>
buzrliche Berufspartnmentariertnm mit seinem eiteln Geschwätz, seinem lauen<lb/>
Hatbwisieu und seiner faden Zeitnngsreklmne träte zurück vor der sachlichen<lb/>
Erwägung wirklich Kundiger. Auch hier würden sich zwei Hauptgruppen, eine<lb/>
fortschrittlichere und eine konservativere, entwickeln, aber da doch nicht sie, sondern</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0021] Line Reichstagspbcinlasie auch »mstürzlerisch bleiben. Es gälte deshalb llingestaltnng des Reichstages, d. h. des Wahlmodus. Da giebt es denn einen Wahlmodus nach Zcnsns- klassen. Dieser paßte vortrefflich fiir den altern preußischen Staat, wo der Reichtum in den Händen deS grundbesitzenden Adels lag, der Jahrhunderte lang mit Gut und Blut für die Monarchie eingetreten war und dadurch ein geschichtliches Recht auf Teilnahme erwarb. Das ist jetzt anders. Den Hauptreichtum besitzen städtische Kapitalisten, oft jüdische, die nicht dnrch Verdienst und Arbeit reich geworden sind. Ihr Stimme die von Tausenden aufwiegen zu lassen, wäre eine Unnatur. Außerdem würde mit einem solchen Wahlmodus nicht dem Volke geholfen, sondern großenteils nur dem Fort¬ schritt. Ein andres Verfahren bestünde in Bildnugsktassen, etwa mit dem Abiturientenernmen als Hauptgrenze. Aber anch das liefe auf Kapital- bevorzugnng hinaus, denn der begabte Arme, dessen Eltern nicht das Gym¬ nasium haben bezahlen können, stünde vor dein dummen Reichen zurück, bei dem es der Fall gewesen ist. Auch eine Znrnckverlegnng der Wahlberechtigung nach dem Alter erscheint unausführbar in unsrer schnelllebige» Zeit, wo sich die Bürschchen erstaunlich früh für reif halten und besonders starke Krakehl- orgaue entwickeln. Überdies würde nicht viel erreicht werden. Uns dünkt, es ließe sich dort fortfahren, wo unsre Großeltern standen und wo wir aufhörten, bis die Sozialdemokratin sie thatsächlich wieder ein¬ führten: bei den Staudeswahlen. Das Volk der Gegenwart besteht natürlich nicht ans Klerus, Adel und einem dritten Stande, nicht aus Geburth-, sondern aus Berufsständen, und zwar ans Ackerbauern, Handwerkern, Kaufleuten und Beamten. Diese vier Gruppen ließen sich sehr wohl fiir die Wahl zu Grunde legen, und zwar fo, daß in denselben Kreisen jede Gruppe für sich abstimmte. Die großen Bezirke wären in Unterbezirke zu teilen, von einen» Umfange, den die einzelnen Zugehörigen noch ungefähr zu übersehen vermöchten. Diese wählte» alsdann ihren Ver¬ trauensmann und ans den Vertrauensmännern des Kreises ginge schließlich dessen Vertreter hervor, sei es dnrch Wahl, sei es dnrch das Los, was hier keinen so großen Unterschied bilden würde, weil schon die Auswahl vorhanden ist, schon Gleichartige da sind, wie bekanntlich auch bei den gleichartiger» Bürgern Athens diu? Los entschied. Auf diese Weise bestünde der Reichstag nicht ans künstlich erzeugten Parteimännern, sondern es wäre das Volk in seinen wirklichen Teilen vertreten, denn der Ackerbauer würde in der Regel einem Ackerbauern und nicht einem Advokaten seine Stimme geben. Im Parlamente säßen Fachmänner, das ge- buzrliche Berufspartnmentariertnm mit seinem eiteln Geschwätz, seinem lauen Hatbwisieu und seiner faden Zeitnngsreklmne träte zurück vor der sachlichen Erwägung wirklich Kundiger. Auch hier würden sich zwei Hauptgruppen, eine fortschrittlichere und eine konservativere, entwickeln, aber da doch nicht sie, sondern

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/21
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/21>, abgerufen am 27.12.2024.