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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Eine Reichswgsphaittasie

z. V. Schutzzoll vom konservativen oder freisinnige,, Standpunkte beurteilt
werden könne, und zwar so, daß der Konservative dafür, der Freisinnige da¬
gegen ist; in Wirklichkeit ein reiner Trugschluß. Weder das eine noch das
andre hat mit konservativ oder freisinnig etwas zu thun, sondern es fragt sich:
was ist unter den gegebenen Verhältnissen für Volk und Staat das Richtige?
und da zeigt sich, daß das liberale England und die republikanischen Ver¬
einigten Staaten Nordamerikas Hauptvertreter des Schutzzolles gewesen sind.
Während in Deutschland sich der Freisinn aus freiheitlichen und Fortschritts-
grüudeu gegen das Tabaksmonopol erklärte, führte die demokratische Schweiz
trotz solcher Gründe das Spiritusmonopol ein, ohne Aufhebens davon zu
machen.

Bei politischer Pnrteinng kann unmöglich objektiv über Wirtschaftlagen
entschieden werden, denn bei beiden sind ganz verschiedene Gesichtspunkte ma߬
gebend. Wirtschaftslagen sollen nach innern Gründen, nach der Kenntnis von
ihnen, abgelöst von allen Nebengedanken, entschieden werden; und doch zeigen sich
gerade diese nur zu oft entscheidend. Ganz auseiuauderstrebeude Parteien ver¬
binden sich, um je ihre Sonderinteressen durchzusetzen, gleichviel ob die Ge¬
samtheit darunter leidet. Die politische Parteiung drängt unwillkürlich zu
Persönlichen Verhalten gegen die, die Gesetzesvorschläge einbringen, d. h. zu
deu regierenden Personen, und so entwickelt sich ein Kampf um diese,
bei denen die allein maßgebende Sache zurücktritt. Im Volke entsteht die
Meinung, die "Volksvertretung" schütze seine Rechte, die Regierung suche sie
zu beeinträchtigen, und doch ist dies gaw, unsinnig: die Regierung vertritt das
Volk und seine Interessen ebenso gut wie das Parlament, nur in andrer Form,
sie steht dem Volke nicht gegenüber, sondern beruht in nud auf den: Volke.
Durch die Auflösung des Parlaments in verschiedne sich unter einander be¬
fehdende Parteien wird die Stellung der Regierung äußerst schwierig, nicht
selten unglücklich und unwürdig. Sie muß stets Rücksichten nehmen, weit ab
von der Vorlage und kann nicht durch bloße Überzeugung und Wahrheit wirken.
Auch sie muß bei Wirtschaftsfragen Politik treiben, lind wird das Parla¬
ment entlassen oder treten gesetzlich Neuwahleii ein. so ist der Ausfall der
Wahlen, der von unzähligen, nicht von der Regierung ausgehenden, nicht von
ihr geschaffenen Verhältnissen abhängt, doch stets eine Art von Regierungskritik,
ichädlich für stetige Entwicklung.

Nach alledem erscheint uns das jetzige Parlnmentswesen krank und ge¬
fälscht, weit entfernt von dem, was es sein sollte, ebenso gefälscht wie die
französischen Revvlutivnsbegriffe von Freiheit nud Gleichheit, in deren Namen
schon so unendlich viel gesündigt worden ist. Das Auftreten der Sozialdemo-
kratie bedeutet hier eine wichtige, vielleicht entscheidende Wendung; mit ihr tritt
wieder ein Stand ein, mit ihr -- so befremdlich es klingen mag -- gelangt das
Parlament wieder auf die Bahn unsrer Voreltern, von der es weit abgeirrt


Eine Reichswgsphaittasie

z. V. Schutzzoll vom konservativen oder freisinnige,, Standpunkte beurteilt
werden könne, und zwar so, daß der Konservative dafür, der Freisinnige da¬
gegen ist; in Wirklichkeit ein reiner Trugschluß. Weder das eine noch das
andre hat mit konservativ oder freisinnig etwas zu thun, sondern es fragt sich:
was ist unter den gegebenen Verhältnissen für Volk und Staat das Richtige?
und da zeigt sich, daß das liberale England und die republikanischen Ver¬
einigten Staaten Nordamerikas Hauptvertreter des Schutzzolles gewesen sind.
Während in Deutschland sich der Freisinn aus freiheitlichen und Fortschritts-
grüudeu gegen das Tabaksmonopol erklärte, führte die demokratische Schweiz
trotz solcher Gründe das Spiritusmonopol ein, ohne Aufhebens davon zu
machen.

Bei politischer Pnrteinng kann unmöglich objektiv über Wirtschaftlagen
entschieden werden, denn bei beiden sind ganz verschiedene Gesichtspunkte ma߬
gebend. Wirtschaftslagen sollen nach innern Gründen, nach der Kenntnis von
ihnen, abgelöst von allen Nebengedanken, entschieden werden; und doch zeigen sich
gerade diese nur zu oft entscheidend. Ganz auseiuauderstrebeude Parteien ver¬
binden sich, um je ihre Sonderinteressen durchzusetzen, gleichviel ob die Ge¬
samtheit darunter leidet. Die politische Parteiung drängt unwillkürlich zu
Persönlichen Verhalten gegen die, die Gesetzesvorschläge einbringen, d. h. zu
deu regierenden Personen, und so entwickelt sich ein Kampf um diese,
bei denen die allein maßgebende Sache zurücktritt. Im Volke entsteht die
Meinung, die „Volksvertretung" schütze seine Rechte, die Regierung suche sie
zu beeinträchtigen, und doch ist dies gaw, unsinnig: die Regierung vertritt das
Volk und seine Interessen ebenso gut wie das Parlament, nur in andrer Form,
sie steht dem Volke nicht gegenüber, sondern beruht in nud auf den: Volke.
Durch die Auflösung des Parlaments in verschiedne sich unter einander be¬
fehdende Parteien wird die Stellung der Regierung äußerst schwierig, nicht
selten unglücklich und unwürdig. Sie muß stets Rücksichten nehmen, weit ab
von der Vorlage und kann nicht durch bloße Überzeugung und Wahrheit wirken.
Auch sie muß bei Wirtschaftsfragen Politik treiben, lind wird das Parla¬
ment entlassen oder treten gesetzlich Neuwahleii ein. so ist der Ausfall der
Wahlen, der von unzähligen, nicht von der Regierung ausgehenden, nicht von
ihr geschaffenen Verhältnissen abhängt, doch stets eine Art von Regierungskritik,
ichädlich für stetige Entwicklung.

Nach alledem erscheint uns das jetzige Parlnmentswesen krank und ge¬
fälscht, weit entfernt von dem, was es sein sollte, ebenso gefälscht wie die
französischen Revvlutivnsbegriffe von Freiheit nud Gleichheit, in deren Namen
schon so unendlich viel gesündigt worden ist. Das Auftreten der Sozialdemo-
kratie bedeutet hier eine wichtige, vielleicht entscheidende Wendung; mit ihr tritt
wieder ein Stand ein, mit ihr — so befremdlich es klingen mag — gelangt das
Parlament wieder auf die Bahn unsrer Voreltern, von der es weit abgeirrt


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[0019] Eine Reichswgsphaittasie z. V. Schutzzoll vom konservativen oder freisinnige,, Standpunkte beurteilt werden könne, und zwar so, daß der Konservative dafür, der Freisinnige da¬ gegen ist; in Wirklichkeit ein reiner Trugschluß. Weder das eine noch das andre hat mit konservativ oder freisinnig etwas zu thun, sondern es fragt sich: was ist unter den gegebenen Verhältnissen für Volk und Staat das Richtige? und da zeigt sich, daß das liberale England und die republikanischen Ver¬ einigten Staaten Nordamerikas Hauptvertreter des Schutzzolles gewesen sind. Während in Deutschland sich der Freisinn aus freiheitlichen und Fortschritts- grüudeu gegen das Tabaksmonopol erklärte, führte die demokratische Schweiz trotz solcher Gründe das Spiritusmonopol ein, ohne Aufhebens davon zu machen. Bei politischer Pnrteinng kann unmöglich objektiv über Wirtschaftlagen entschieden werden, denn bei beiden sind ganz verschiedene Gesichtspunkte ma߬ gebend. Wirtschaftslagen sollen nach innern Gründen, nach der Kenntnis von ihnen, abgelöst von allen Nebengedanken, entschieden werden; und doch zeigen sich gerade diese nur zu oft entscheidend. Ganz auseiuauderstrebeude Parteien ver¬ binden sich, um je ihre Sonderinteressen durchzusetzen, gleichviel ob die Ge¬ samtheit darunter leidet. Die politische Parteiung drängt unwillkürlich zu Persönlichen Verhalten gegen die, die Gesetzesvorschläge einbringen, d. h. zu deu regierenden Personen, und so entwickelt sich ein Kampf um diese, bei denen die allein maßgebende Sache zurücktritt. Im Volke entsteht die Meinung, die „Volksvertretung" schütze seine Rechte, die Regierung suche sie zu beeinträchtigen, und doch ist dies gaw, unsinnig: die Regierung vertritt das Volk und seine Interessen ebenso gut wie das Parlament, nur in andrer Form, sie steht dem Volke nicht gegenüber, sondern beruht in nud auf den: Volke. Durch die Auflösung des Parlaments in verschiedne sich unter einander be¬ fehdende Parteien wird die Stellung der Regierung äußerst schwierig, nicht selten unglücklich und unwürdig. Sie muß stets Rücksichten nehmen, weit ab von der Vorlage und kann nicht durch bloße Überzeugung und Wahrheit wirken. Auch sie muß bei Wirtschaftsfragen Politik treiben, lind wird das Parla¬ ment entlassen oder treten gesetzlich Neuwahleii ein. so ist der Ausfall der Wahlen, der von unzähligen, nicht von der Regierung ausgehenden, nicht von ihr geschaffenen Verhältnissen abhängt, doch stets eine Art von Regierungskritik, ichädlich für stetige Entwicklung. Nach alledem erscheint uns das jetzige Parlnmentswesen krank und ge¬ fälscht, weit entfernt von dem, was es sein sollte, ebenso gefälscht wie die französischen Revvlutivnsbegriffe von Freiheit nud Gleichheit, in deren Namen schon so unendlich viel gesündigt worden ist. Das Auftreten der Sozialdemo- kratie bedeutet hier eine wichtige, vielleicht entscheidende Wendung; mit ihr tritt wieder ein Stand ein, mit ihr — so befremdlich es klingen mag — gelangt das Parlament wieder auf die Bahn unsrer Voreltern, von der es weit abgeirrt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/19>, abgerufen am 01.10.2024.