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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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auch die Minister und übte durch sie die Regierung, die Gegenpartei kritisirte.
Regierte eine Partei schlecht oder unglücklich, so wuchs die Zahl der Unzn-
frieduen und folglich auch die der Anhänger der Gegenpartei, bis diese ihrer^
seits die Führung und die nunmehr unterliegende die freigewordene Rolle der
Opposition übernahm. Die Haltung der Regierung war gegeben lind einfach,
sie brauchte nur die Lenker der parlamentarischen Mehrheit ins Ministerium
zu berufen und besaß durch sie auch die Mehrheit. In dem heutigen England
liegen die Verhältnisse bekanntlich schon anders.

Weit verworrener noch sind die Parlamente des Festlandes. Im Mittel-
alter herrschte eine ständische Vertretung, lind anch noch die Konstituante von
178!) wurde nach Ständen berufen: nach Klerus, Adel und dem dritten Stande,
der alles umfaßte, was nicht zum Klerus und zum Adel gehörte. Diese wühlten
je dreihundert Vertreter, der dritte Stand sechshundert, so viel also wie die
andern zusammen. Man muß gestehen, dieser Wahlmodus entsprach deu Ver¬
hältnissen des damaligen Frankreichs und hätte, gut gehandhabt und in seinem
Ergebnis richtig geleitet, Segen stiften und Wohlfahrt schaffen können. Aber
leider fehlte die Leitung, und aus dem Sitzuugssaale, aus deu Händen der Regie-
rung geriet die Macht in die der Pariser Straßendemngogen: der ständische Reichs¬
tag wurde zur politischen Revolution, die alles Ständische hinwegfegte. In
der Konstituante bildeten sich die drei Gruppen: Konservative, Gemäßigte und
Radikale, oder nach ihren Sitzen Rechte, Zentrum und Linke. Das Parlament
wurde Behörde lind nahm dadurch ein Wesen an, das sich mir einer geordneten
Monarchie nicht vertrug, sie unmöglich machte. Als die nächste Versammlung,
die Legislative berufen wurde, geschah es nicht mehr nach Ständen, sondern,
da solche im damaligen Frankreich aufgehört hatten, nach allgemeinem Stimm¬
rechte. Wie wenig mau aber thatsächlich darauf gab, zeigt die Thatsache, daß
in Paris, dem Brennpunkte des staatlichen Daseins, von 81200 Nrwählern
nur 7200 ihre Stimme abgaben; nach heutiger Anschauung eine unbegreifliche
Minderheit. Wie gesagt, das rein demokratische Wahlsystem paßte für das
demokratische Frankreich von 1791. Für monarchische Staaten eignete es sich
nicht, daher wollte der große preußische Refvrmminister Freiherr vom Stein
seine Provinziallandtage ans Ritterschaft, Städten und Bauern zusammensetzen,
aus den drei Ständen, die das damalige Preußen bildeten. Allmählich ge¬
langte dann aber doch die französische Schablone zur Geltung, gleichviel, ob sie
sachlich entsprach oder nicht, und so haben wir heute das Unding, daß politische
Parteien über Gesetz- und Wirtschaftslage,! entscheiden, für die sie gar nicht passen,
zu denen sie in gar keiner Beziehung stehen. Nach unserm Dafürhalten krankt
der ganze Parlamentarismus an innerer Unwahrheit, und das ist der Grund
seiner geringen Leistungsfähigkeit, seiner unwürdigen Lärm- und Skaudaiszeuen.

Vielfach betrügt man sich selbst oder hat sich durch Gewohnheit in eine
gewisse Denkweise verrannt. Es scheint den meisten ans der Hand zu liegen, daß


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auch die Minister und übte durch sie die Regierung, die Gegenpartei kritisirte.
Regierte eine Partei schlecht oder unglücklich, so wuchs die Zahl der Unzn-
frieduen und folglich auch die der Anhänger der Gegenpartei, bis diese ihrer^
seits die Führung und die nunmehr unterliegende die freigewordene Rolle der
Opposition übernahm. Die Haltung der Regierung war gegeben lind einfach,
sie brauchte nur die Lenker der parlamentarischen Mehrheit ins Ministerium
zu berufen und besaß durch sie auch die Mehrheit. In dem heutigen England
liegen die Verhältnisse bekanntlich schon anders.

Weit verworrener noch sind die Parlamente des Festlandes. Im Mittel-
alter herrschte eine ständische Vertretung, lind anch noch die Konstituante von
178!) wurde nach Ständen berufen: nach Klerus, Adel und dem dritten Stande,
der alles umfaßte, was nicht zum Klerus und zum Adel gehörte. Diese wühlten
je dreihundert Vertreter, der dritte Stand sechshundert, so viel also wie die
andern zusammen. Man muß gestehen, dieser Wahlmodus entsprach deu Ver¬
hältnissen des damaligen Frankreichs und hätte, gut gehandhabt und in seinem
Ergebnis richtig geleitet, Segen stiften und Wohlfahrt schaffen können. Aber
leider fehlte die Leitung, und aus dem Sitzuugssaale, aus deu Händen der Regie-
rung geriet die Macht in die der Pariser Straßendemngogen: der ständische Reichs¬
tag wurde zur politischen Revolution, die alles Ständische hinwegfegte. In
der Konstituante bildeten sich die drei Gruppen: Konservative, Gemäßigte und
Radikale, oder nach ihren Sitzen Rechte, Zentrum und Linke. Das Parlament
wurde Behörde lind nahm dadurch ein Wesen an, das sich mir einer geordneten
Monarchie nicht vertrug, sie unmöglich machte. Als die nächste Versammlung,
die Legislative berufen wurde, geschah es nicht mehr nach Ständen, sondern,
da solche im damaligen Frankreich aufgehört hatten, nach allgemeinem Stimm¬
rechte. Wie wenig mau aber thatsächlich darauf gab, zeigt die Thatsache, daß
in Paris, dem Brennpunkte des staatlichen Daseins, von 81200 Nrwählern
nur 7200 ihre Stimme abgaben; nach heutiger Anschauung eine unbegreifliche
Minderheit. Wie gesagt, das rein demokratische Wahlsystem paßte für das
demokratische Frankreich von 1791. Für monarchische Staaten eignete es sich
nicht, daher wollte der große preußische Refvrmminister Freiherr vom Stein
seine Provinziallandtage ans Ritterschaft, Städten und Bauern zusammensetzen,
aus den drei Ständen, die das damalige Preußen bildeten. Allmählich ge¬
langte dann aber doch die französische Schablone zur Geltung, gleichviel, ob sie
sachlich entsprach oder nicht, und so haben wir heute das Unding, daß politische
Parteien über Gesetz- und Wirtschaftslage,! entscheiden, für die sie gar nicht passen,
zu denen sie in gar keiner Beziehung stehen. Nach unserm Dafürhalten krankt
der ganze Parlamentarismus an innerer Unwahrheit, und das ist der Grund
seiner geringen Leistungsfähigkeit, seiner unwürdigen Lärm- und Skaudaiszeuen.

Vielfach betrügt man sich selbst oder hat sich durch Gewohnheit in eine
gewisse Denkweise verrannt. Es scheint den meisten ans der Hand zu liegen, daß


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/18>, abgerufen am 24.08.2024.