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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Lungenentzündung holen, wem, sie ans dem Ballsaale in einen eisigen Regen¬
schauer geraten/'

Der Zug kommt in Paris an: Jacques und Suverine schwelgen in ihrem
verbotenen Glücke; kein Geheimnis soll sie mehr trennen, und so flüstert sie
ihm denn ins Ohr, daß Nonbaud den alten Präsidenten aus Eifersucht er¬
mordet habe. Die genaue Schilderung des Borfalls regt die ganze Bestie in
Jacques wieder auf. "Wie hat das auf dich gewirkt, fragt er, ihn so an
einem Messerstiche sterben zu sehen -- sag mir, was fühlt man dabei?" "Ich
habe, sagt sie, in jener Minute mehr gelebt als in meinem ganzen Leben."
In Jacques sind mit eüiemmale alle bösen Geister entfesselt; während er mit
geschlossene" Augen daliegt, rasen die einzelnen Bilder der Mvrdszene wie in
einer wilden Jagd dnrch sein Gehirn. "O, einen solchen Messerstich auszu¬
teilen, diesen entlegenen Wunsch zu befriedigen, zu erfahre", was man dabei
empfindet, jene Minute durchzukosten, in der man mehr lebt als in einem
ganzen Dasein! 8<in ab;"ir l<z turwrg.it t,roy, it lllllgit. qu'it em kalt niuz!
Soll er Svverine niederstoßen? Ein Schauder überfällt ihn, er stürzt ans die
Straße mit gezücktem Messer wie ein Nachtwandler, llriM <in ig, soll liurvllilirirv
<In mmirtio: er verfolgt bald hie bald da eine Frauengestalt, immer bereit,
sie zu erstechen, und immer dnrch unvorhergesehene Umstände daran gehindert."
Wer diese Stelle im Roman liest, kommt sicher zu der Überzeugung, daß Zola,
hier die unheimliche rätselhafte Gestalt des Aufschlitzers Jack zum Vorbilde
gehabt hat. Slwerinc lenkt sein Mordbedürfnis auf Ronbaud; es kommt zu
aufregenden Szenen, aber jedesmal schreckt Jacques vor der That zurück.

Flore, die jeden Freitag am Wärterhaus die glücklich liebenden nach Paris
vorbeifahren sieht, Null Svverine beseitigen und wählt dazu das ihr am ein¬
fachsten scheinende Mittel: sie läßt den gauzeu Zug entgleise,?. Alles wird in
einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt, viele Reisende werden getötet oder
verstümmelt. "Man hörte nicht mehr, man sah nicht mehr, die Lison war
ans den Rücken gestürzt und lag mit offnem Banche da, ihr Dampf strömte
dnrch die angerissenen Hahne und geplatzten Röhren in keuchenden Stößen
ähnlich dein furchtbaren Todesröcheln eines Hünenweibes. Ein weißer Atem
drang unaufhörlich heraus und wälzte sich in dicken Wirbeln auf der Bogen¬
striche hin, während die aus der Feuerung gefallenen glühenden Kvhlenmassen,
rot wie das Blut ihrer Eingeweide, einen schwarzen Qualm hinzufügten. Der
Nauchschlot war durch den gewaltigen Stoß in die Erde getrieben worden;
der Rahmen war an der Stelle, wo er zu tragen hat, geborsten und hatte die
beiden Längenstücke verbogen. Die Räder in der Luft, einem ungeheuern
Streitroß gleich, aufgeschlitzt wie durch den "nichtigen Stoß eines Stierhornes,
so lag die Lison da uiid ihre" gewundne" Kurbelstaiigen, ihre" zerrissenen
Zylindern, ihren zerbrochenen Schiebern und Er.zcntrikscheibeu alles eine
fürchterliche in die Luft hiueingahuende Wunde, aus der die Seele allmählich


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

Lungenentzündung holen, wem, sie ans dem Ballsaale in einen eisigen Regen¬
schauer geraten/'

Der Zug kommt in Paris an: Jacques und Suverine schwelgen in ihrem
verbotenen Glücke; kein Geheimnis soll sie mehr trennen, und so flüstert sie
ihm denn ins Ohr, daß Nonbaud den alten Präsidenten aus Eifersucht er¬
mordet habe. Die genaue Schilderung des Borfalls regt die ganze Bestie in
Jacques wieder auf. „Wie hat das auf dich gewirkt, fragt er, ihn so an
einem Messerstiche sterben zu sehen — sag mir, was fühlt man dabei?" „Ich
habe, sagt sie, in jener Minute mehr gelebt als in meinem ganzen Leben."
In Jacques sind mit eüiemmale alle bösen Geister entfesselt; während er mit
geschlossene» Augen daliegt, rasen die einzelnen Bilder der Mvrdszene wie in
einer wilden Jagd dnrch sein Gehirn. „O, einen solchen Messerstich auszu¬
teilen, diesen entlegenen Wunsch zu befriedigen, zu erfahre», was man dabei
empfindet, jene Minute durchzukosten, in der man mehr lebt als in einem
ganzen Dasein! 8<in ab;»ir l<z turwrg.it t,roy, it lllllgit. qu'it em kalt niuz!
Soll er Svverine niederstoßen? Ein Schauder überfällt ihn, er stürzt ans die
Straße mit gezücktem Messer wie ein Nachtwandler, llriM <in ig, soll liurvllilirirv
<In mmirtio: er verfolgt bald hie bald da eine Frauengestalt, immer bereit,
sie zu erstechen, und immer dnrch unvorhergesehene Umstände daran gehindert."
Wer diese Stelle im Roman liest, kommt sicher zu der Überzeugung, daß Zola,
hier die unheimliche rätselhafte Gestalt des Aufschlitzers Jack zum Vorbilde
gehabt hat. Slwerinc lenkt sein Mordbedürfnis auf Ronbaud; es kommt zu
aufregenden Szenen, aber jedesmal schreckt Jacques vor der That zurück.

Flore, die jeden Freitag am Wärterhaus die glücklich liebenden nach Paris
vorbeifahren sieht, Null Svverine beseitigen und wählt dazu das ihr am ein¬
fachsten scheinende Mittel: sie läßt den gauzeu Zug entgleise,?. Alles wird in
einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt, viele Reisende werden getötet oder
verstümmelt. „Man hörte nicht mehr, man sah nicht mehr, die Lison war
ans den Rücken gestürzt und lag mit offnem Banche da, ihr Dampf strömte
dnrch die angerissenen Hahne und geplatzten Röhren in keuchenden Stößen
ähnlich dein furchtbaren Todesröcheln eines Hünenweibes. Ein weißer Atem
drang unaufhörlich heraus und wälzte sich in dicken Wirbeln auf der Bogen¬
striche hin, während die aus der Feuerung gefallenen glühenden Kvhlenmassen,
rot wie das Blut ihrer Eingeweide, einen schwarzen Qualm hinzufügten. Der
Nauchschlot war durch den gewaltigen Stoß in die Erde getrieben worden;
der Rahmen war an der Stelle, wo er zu tragen hat, geborsten und hatte die
beiden Längenstücke verbogen. Die Räder in der Luft, einem ungeheuern
Streitroß gleich, aufgeschlitzt wie durch den »nichtigen Stoß eines Stierhornes,
so lag die Lison da uiid ihre» gewundne» Kurbelstaiigen, ihre» zerrissenen
Zylindern, ihren zerbrochenen Schiebern und Er.zcntrikscheibeu alles eine
fürchterliche in die Luft hiueingahuende Wunde, aus der die Seele allmählich


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[0182] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart Lungenentzündung holen, wem, sie ans dem Ballsaale in einen eisigen Regen¬ schauer geraten/' Der Zug kommt in Paris an: Jacques und Suverine schwelgen in ihrem verbotenen Glücke; kein Geheimnis soll sie mehr trennen, und so flüstert sie ihm denn ins Ohr, daß Nonbaud den alten Präsidenten aus Eifersucht er¬ mordet habe. Die genaue Schilderung des Borfalls regt die ganze Bestie in Jacques wieder auf. „Wie hat das auf dich gewirkt, fragt er, ihn so an einem Messerstiche sterben zu sehen — sag mir, was fühlt man dabei?" „Ich habe, sagt sie, in jener Minute mehr gelebt als in meinem ganzen Leben." In Jacques sind mit eüiemmale alle bösen Geister entfesselt; während er mit geschlossene» Augen daliegt, rasen die einzelnen Bilder der Mvrdszene wie in einer wilden Jagd dnrch sein Gehirn. „O, einen solchen Messerstich auszu¬ teilen, diesen entlegenen Wunsch zu befriedigen, zu erfahre», was man dabei empfindet, jene Minute durchzukosten, in der man mehr lebt als in einem ganzen Dasein! 8<in ab;»ir l<z turwrg.it t,roy, it lllllgit. qu'it em kalt niuz! Soll er Svverine niederstoßen? Ein Schauder überfällt ihn, er stürzt ans die Straße mit gezücktem Messer wie ein Nachtwandler, llriM <in ig, soll liurvllilirirv <In mmirtio: er verfolgt bald hie bald da eine Frauengestalt, immer bereit, sie zu erstechen, und immer dnrch unvorhergesehene Umstände daran gehindert." Wer diese Stelle im Roman liest, kommt sicher zu der Überzeugung, daß Zola, hier die unheimliche rätselhafte Gestalt des Aufschlitzers Jack zum Vorbilde gehabt hat. Slwerinc lenkt sein Mordbedürfnis auf Ronbaud; es kommt zu aufregenden Szenen, aber jedesmal schreckt Jacques vor der That zurück. Flore, die jeden Freitag am Wärterhaus die glücklich liebenden nach Paris vorbeifahren sieht, Null Svverine beseitigen und wählt dazu das ihr am ein¬ fachsten scheinende Mittel: sie läßt den gauzeu Zug entgleise,?. Alles wird in einen wüsten Trümmerhaufen verwandelt, viele Reisende werden getötet oder verstümmelt. „Man hörte nicht mehr, man sah nicht mehr, die Lison war ans den Rücken gestürzt und lag mit offnem Banche da, ihr Dampf strömte dnrch die angerissenen Hahne und geplatzten Röhren in keuchenden Stößen ähnlich dein furchtbaren Todesröcheln eines Hünenweibes. Ein weißer Atem drang unaufhörlich heraus und wälzte sich in dicken Wirbeln auf der Bogen¬ striche hin, während die aus der Feuerung gefallenen glühenden Kvhlenmassen, rot wie das Blut ihrer Eingeweide, einen schwarzen Qualm hinzufügten. Der Nauchschlot war durch den gewaltigen Stoß in die Erde getrieben worden; der Rahmen war an der Stelle, wo er zu tragen hat, geborsten und hatte die beiden Längenstücke verbogen. Die Räder in der Luft, einem ungeheuern Streitroß gleich, aufgeschlitzt wie durch den »nichtigen Stoß eines Stierhornes, so lag die Lison da uiid ihre» gewundne» Kurbelstaiigen, ihre» zerrissenen Zylindern, ihren zerbrochenen Schiebern und Er.zcntrikscheibeu alles eine fürchterliche in die Luft hiueingahuende Wunde, aus der die Seele allmählich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/182>, abgerufen am 22.07.2024.