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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

alle Metaphysik, die Begründung der positivistischen Philosophie, die Abkehr von
den phantastischen Träumereien und tollen Hirngespinsten der Sozialpolitiker,
die unzweifelhafte Einwirkung der Malerei, die damals mit aller Macht gegen
den verknöcherten Klassizismus und die wesenlose Romantik Front machte --
diese Veweguugeu enthalten die wahren Gründe für den gewaltigen Umschwung
der französischen Litteratur in den fünfziger Jahren. Schon Rosenberg hat in
seiner vortrefflichen Geschichte der modernen Kunst auf die auffallenden Wechsel¬
wirkungen zwischen dem durchbrechenden Realismus in der französischen Malerei
nud in der Litteratur hingewiesen. Der unerhörte Beifall, den Courbets natur¬
wahre Bilder I/vnd<zrr<zwönt <1'0ri,!ins und l^es (Za88tur8 <to xisrros bei allen
unbefangenen Geistern hervorriefen, hat auch die dichterische Phantasie in ganz
andre Bahnen gedrängt. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht eine Stelle, die
Rosenberg im ersten Bande seines Werkes aus einem im Jnhre 1L5>(> auf¬
geführten Stücke zitirt; darin heißt es: "Das wahre Malen genügt nicht, um
Realist zu sein, man muß das Häßliche malen! Nun, mein Herr, alles was
ich zeichne, ist zum Entsetzen häßlich. Meine Malerei ist abscheulich; damit
sie wahr sei. nehme ich ihr alles Schöne weg, wie man Unkraut ausreißt.
Ich liebe nur die erdigen Farben, die Pappnasen, die Frauenzimmer mit bärtigen
Kinn, versoffne und stumpfsinnige Gesichter; ich liebe die Schwielen, die
Hühneraugen und die Warzen! Das ist das Wahre!"

Haben wir in dieser einfachen Erklärung aus dem Jahre 1850 nicht eine
vortreffliche Charakteristik des ganzen Naturalismus, der gegenwartig in Zolas
Romanen seinen Höhepunkt erreicht hat? Pellissier widmet diesem Naturalisten
einen ganzen Abschnitt, und wenn er auch die Berechtigung der naturalistischen
Richtung nicht anerkennt, so beurteilt er doch Zolas Grundsätze und Schöpfungen
mit großer Unparteilichkeit. Mit seiner sentimentalen Erzählung 1^6 Rooo schien
Zola plötzlich das gewohnte Fahrwasser seiner Kunst verlassen zu haben; wir
bemerkten schon in unserm dritten Streifzuge, daß er jene Mondscheinsouate
wohl nur komponirt habe, um den Garnier seiner Leser für den folgenden
Roman empfänglich zu machen. Diese Vermutung hat sich bewahrheitet. In
seinem soeben als Buch veröffentlichte" Werke 1^" Lote- lmmluns ist Zola
wieder zu seinen alten Hausgöttern zurückgekehrt. Die Gegensätze zwischen
beiden Romanen können kaum stärker sein. Aus der stillen, feierlichen Andacht
vorm Altar in das rastlose, lärmende Treiben des Bahnhofs; aus dem Weih-.
rauchduft kirchlicher Feste in den stinkenden Qualm der Lokomotive; aus der
kosenden Gefühlsseligkeit romantischer Traumgestalten in den cynischen Taumel
geschlechtlicher Sinnlichkeit; ans dem Kreise friedfertiger, gottergebener Seelen
in eine Gesellschaft brutaler, unter dem Fluche der Bererbung stehender Per¬
sonen, in denen sich die menschliche Bestie bis zur Mordsucht entwickelt hat.

Der Präsident Grandmvrin, ein reicher alter Lüstling, besitzt bei Doin-
ville, vier Meilen von Rouen, einen Landsitz, ans dem er seine Schwester und


Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart

alle Metaphysik, die Begründung der positivistischen Philosophie, die Abkehr von
den phantastischen Träumereien und tollen Hirngespinsten der Sozialpolitiker,
die unzweifelhafte Einwirkung der Malerei, die damals mit aller Macht gegen
den verknöcherten Klassizismus und die wesenlose Romantik Front machte —
diese Veweguugeu enthalten die wahren Gründe für den gewaltigen Umschwung
der französischen Litteratur in den fünfziger Jahren. Schon Rosenberg hat in
seiner vortrefflichen Geschichte der modernen Kunst auf die auffallenden Wechsel¬
wirkungen zwischen dem durchbrechenden Realismus in der französischen Malerei
nud in der Litteratur hingewiesen. Der unerhörte Beifall, den Courbets natur¬
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unbefangenen Geistern hervorriefen, hat auch die dichterische Phantasie in ganz
andre Bahnen gedrängt. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht eine Stelle, die
Rosenberg im ersten Bande seines Werkes aus einem im Jnhre 1L5>(> auf¬
geführten Stücke zitirt; darin heißt es: „Das wahre Malen genügt nicht, um
Realist zu sein, man muß das Häßliche malen! Nun, mein Herr, alles was
ich zeichne, ist zum Entsetzen häßlich. Meine Malerei ist abscheulich; damit
sie wahr sei. nehme ich ihr alles Schöne weg, wie man Unkraut ausreißt.
Ich liebe nur die erdigen Farben, die Pappnasen, die Frauenzimmer mit bärtigen
Kinn, versoffne und stumpfsinnige Gesichter; ich liebe die Schwielen, die
Hühneraugen und die Warzen! Das ist das Wahre!"

Haben wir in dieser einfachen Erklärung aus dem Jahre 1850 nicht eine
vortreffliche Charakteristik des ganzen Naturalismus, der gegenwartig in Zolas
Romanen seinen Höhepunkt erreicht hat? Pellissier widmet diesem Naturalisten
einen ganzen Abschnitt, und wenn er auch die Berechtigung der naturalistischen
Richtung nicht anerkennt, so beurteilt er doch Zolas Grundsätze und Schöpfungen
mit großer Unparteilichkeit. Mit seiner sentimentalen Erzählung 1^6 Rooo schien
Zola plötzlich das gewohnte Fahrwasser seiner Kunst verlassen zu haben; wir
bemerkten schon in unserm dritten Streifzuge, daß er jene Mondscheinsouate
wohl nur komponirt habe, um den Garnier seiner Leser für den folgenden
Roman empfänglich zu machen. Diese Vermutung hat sich bewahrheitet. In
seinem soeben als Buch veröffentlichte« Werke 1^» Lote- lmmluns ist Zola
wieder zu seinen alten Hausgöttern zurückgekehrt. Die Gegensätze zwischen
beiden Romanen können kaum stärker sein. Aus der stillen, feierlichen Andacht
vorm Altar in das rastlose, lärmende Treiben des Bahnhofs; aus dem Weih-.
rauchduft kirchlicher Feste in den stinkenden Qualm der Lokomotive; aus der
kosenden Gefühlsseligkeit romantischer Traumgestalten in den cynischen Taumel
geschlechtlicher Sinnlichkeit; ans dem Kreise friedfertiger, gottergebener Seelen
in eine Gesellschaft brutaler, unter dem Fluche der Bererbung stehender Per¬
sonen, in denen sich die menschliche Bestie bis zur Mordsucht entwickelt hat.

Der Präsident Grandmvrin, ein reicher alter Lüstling, besitzt bei Doin-
ville, vier Meilen von Rouen, einen Landsitz, ans dem er seine Schwester und


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[0178] Streifzüge durch die französische Litteratur der Gegenwart alle Metaphysik, die Begründung der positivistischen Philosophie, die Abkehr von den phantastischen Träumereien und tollen Hirngespinsten der Sozialpolitiker, die unzweifelhafte Einwirkung der Malerei, die damals mit aller Macht gegen den verknöcherten Klassizismus und die wesenlose Romantik Front machte — diese Veweguugeu enthalten die wahren Gründe für den gewaltigen Umschwung der französischen Litteratur in den fünfziger Jahren. Schon Rosenberg hat in seiner vortrefflichen Geschichte der modernen Kunst auf die auffallenden Wechsel¬ wirkungen zwischen dem durchbrechenden Realismus in der französischen Malerei nud in der Litteratur hingewiesen. Der unerhörte Beifall, den Courbets natur¬ wahre Bilder I/vnd<zrr<zwönt <1'0ri,!ins und l^es (Za88tur8 <to xisrros bei allen unbefangenen Geistern hervorriefen, hat auch die dichterische Phantasie in ganz andre Bahnen gedrängt. Sehr lehrreich ist in dieser Hinsicht eine Stelle, die Rosenberg im ersten Bande seines Werkes aus einem im Jnhre 1L5>(> auf¬ geführten Stücke zitirt; darin heißt es: „Das wahre Malen genügt nicht, um Realist zu sein, man muß das Häßliche malen! Nun, mein Herr, alles was ich zeichne, ist zum Entsetzen häßlich. Meine Malerei ist abscheulich; damit sie wahr sei. nehme ich ihr alles Schöne weg, wie man Unkraut ausreißt. Ich liebe nur die erdigen Farben, die Pappnasen, die Frauenzimmer mit bärtigen Kinn, versoffne und stumpfsinnige Gesichter; ich liebe die Schwielen, die Hühneraugen und die Warzen! Das ist das Wahre!" Haben wir in dieser einfachen Erklärung aus dem Jahre 1850 nicht eine vortreffliche Charakteristik des ganzen Naturalismus, der gegenwartig in Zolas Romanen seinen Höhepunkt erreicht hat? Pellissier widmet diesem Naturalisten einen ganzen Abschnitt, und wenn er auch die Berechtigung der naturalistischen Richtung nicht anerkennt, so beurteilt er doch Zolas Grundsätze und Schöpfungen mit großer Unparteilichkeit. Mit seiner sentimentalen Erzählung 1^6 Rooo schien Zola plötzlich das gewohnte Fahrwasser seiner Kunst verlassen zu haben; wir bemerkten schon in unserm dritten Streifzuge, daß er jene Mondscheinsouate wohl nur komponirt habe, um den Garnier seiner Leser für den folgenden Roman empfänglich zu machen. Diese Vermutung hat sich bewahrheitet. In seinem soeben als Buch veröffentlichte« Werke 1^» Lote- lmmluns ist Zola wieder zu seinen alten Hausgöttern zurückgekehrt. Die Gegensätze zwischen beiden Romanen können kaum stärker sein. Aus der stillen, feierlichen Andacht vorm Altar in das rastlose, lärmende Treiben des Bahnhofs; aus dem Weih-. rauchduft kirchlicher Feste in den stinkenden Qualm der Lokomotive; aus der kosenden Gefühlsseligkeit romantischer Traumgestalten in den cynischen Taumel geschlechtlicher Sinnlichkeit; ans dem Kreise friedfertiger, gottergebener Seelen in eine Gesellschaft brutaler, unter dem Fluche der Bererbung stehender Per¬ sonen, in denen sich die menschliche Bestie bis zur Mordsucht entwickelt hat. Der Präsident Grandmvrin, ein reicher alter Lüstling, besitzt bei Doin- ville, vier Meilen von Rouen, einen Landsitz, ans dem er seine Schwester und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/178>, abgerufen am 22.07.2024.