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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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unsers Volkslebens, der überseeische Handel, unvertreten bleibt? Gerade die
charakteristische Eigenart, die zur Geltung gebracht werden müßte, ist weggewischt
zu Gunsten einer einseitigen, vaterlandslosen Arbeiterpartei.

Die Meinung des Gesetzgebers war, daß jeder erwachsene Staatsbürger
unbeeinflußt, nach bestem Wissen und Gewissen, seine Stimme für den Reichs¬
tag abgebe und dadurch sein Teil zur Leitung des Vaterlandes beitrage. Nun
aber haben sich Parteien gebildet mit der ganzen Selbstsucht einer Partei, die
sich geltend zu machen, d, h. die Masse zu gewinnen sucht, gerade den Teil
der Bevölkerung, der über die in Betracht kommenden Fragen am wenigste"
urteilsfähig ist, der aber eben als Masse den Ausschlag giebt. Ju dem hier
entbrennenden Kampfe haben sich alle Schattenseiten eines Kampfes entwickelt.
Jede Partei sucht Stimmen zu gewinnen, die Extremsten wie immer am ge¬
wissenlosesten. Geradezu empörend wird mit den Un- und Halbgebildeten
umgegangen; es werden Wünsche und Gelüste erweckt, die nie befriedigt werden
können, und die von denen am wenigsten befriedigt werden würden, die sie
anregen. Gewaltsam wird die Parteileidenschaft aufgestachelt, zu direkten und
indirekten Vergewaltigungen geschritten, um das Ziel zu erreichen. Unsägliches
Geld lind kostbare Kraft wird vergeudet. Durch Tagespresse, Flugblätter und
Anschläge bekämpfen sich die Parteien und in diesen nur zu oft die Personen.
Bis zum Wahltage hat mau es glücklich dahin gebracht, daß ein großer Teil
der Wähler völlig verwirrt ist und selber nicht mehr weiß, was er will, welchem
von allen Volksbeglückern er glauben soll. Die ruhigen Bürger fangen an,
den Wahltag als einen Tag von Unruhen und Gefahren zu fürchte"; in deu
größern Städten muß man Polizei und Truppen für alle Fälle bereit halten.
Hier pflegt die Krisis gewaltsam kurz, bisweilen fast krampfartig zu wirken,
viel Aufregung und Lärm, Reden und Bier. Anders in kleineren Ortschaften,
wo die Menschen einander kennen: dort bringen die Wahlen oft langdauerndes
Ungemach und persönliche Verfeindung, unter denen Einzelne oder Gruppen
und schließlich alle zu leiden haben.

Unsre Vorfahren hegten ein ausgesprochen geringes Interesse für Politik,
bei den jetzt lebenden ist es oft übermäßig. Die Schuld daran tragen Par¬
lament und Parteigetriebe und damit zusammenhängend die Presse. Die
Empfindung ist abgestumpft von der ungeheuern Hochflut politischer Blätter,
mit der man überschwemmt wird; erst wer sich die Vergangenheit vorstellt,
bekommt davon einen Begriff. Früher waren Zeitungen selten, es waren kleine
Blättchen mit Haupt- und Staatsaktionen und allerlei bunten Mitteilungen. Dann
kam die französische Revolution mit ihren Leidenschaften und Erschütterungen,
mit gesteigerter Teilnahme für Politische Ereignisse und wurde zur Brutstätte
des modernen Zeitungswesens. Der furchtbare Marat und der überschäumende,
zweifelhafte Desmoulins sind gleichsam seine Begründer gewesen, und nie hat
es seinen fragwürdigen Ursprung überwunden. Im Grnnde ist das Zeitungs-


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unsers Volkslebens, der überseeische Handel, unvertreten bleibt? Gerade die
charakteristische Eigenart, die zur Geltung gebracht werden müßte, ist weggewischt
zu Gunsten einer einseitigen, vaterlandslosen Arbeiterpartei.

Die Meinung des Gesetzgebers war, daß jeder erwachsene Staatsbürger
unbeeinflußt, nach bestem Wissen und Gewissen, seine Stimme für den Reichs¬
tag abgebe und dadurch sein Teil zur Leitung des Vaterlandes beitrage. Nun
aber haben sich Parteien gebildet mit der ganzen Selbstsucht einer Partei, die
sich geltend zu machen, d, h. die Masse zu gewinnen sucht, gerade den Teil
der Bevölkerung, der über die in Betracht kommenden Fragen am wenigste»
urteilsfähig ist, der aber eben als Masse den Ausschlag giebt. Ju dem hier
entbrennenden Kampfe haben sich alle Schattenseiten eines Kampfes entwickelt.
Jede Partei sucht Stimmen zu gewinnen, die Extremsten wie immer am ge¬
wissenlosesten. Geradezu empörend wird mit den Un- und Halbgebildeten
umgegangen; es werden Wünsche und Gelüste erweckt, die nie befriedigt werden
können, und die von denen am wenigsten befriedigt werden würden, die sie
anregen. Gewaltsam wird die Parteileidenschaft aufgestachelt, zu direkten und
indirekten Vergewaltigungen geschritten, um das Ziel zu erreichen. Unsägliches
Geld lind kostbare Kraft wird vergeudet. Durch Tagespresse, Flugblätter und
Anschläge bekämpfen sich die Parteien und in diesen nur zu oft die Personen.
Bis zum Wahltage hat mau es glücklich dahin gebracht, daß ein großer Teil
der Wähler völlig verwirrt ist und selber nicht mehr weiß, was er will, welchem
von allen Volksbeglückern er glauben soll. Die ruhigen Bürger fangen an,
den Wahltag als einen Tag von Unruhen und Gefahren zu fürchte»; in deu
größern Städten muß man Polizei und Truppen für alle Fälle bereit halten.
Hier pflegt die Krisis gewaltsam kurz, bisweilen fast krampfartig zu wirken,
viel Aufregung und Lärm, Reden und Bier. Anders in kleineren Ortschaften,
wo die Menschen einander kennen: dort bringen die Wahlen oft langdauerndes
Ungemach und persönliche Verfeindung, unter denen Einzelne oder Gruppen
und schließlich alle zu leiden haben.

Unsre Vorfahren hegten ein ausgesprochen geringes Interesse für Politik,
bei den jetzt lebenden ist es oft übermäßig. Die Schuld daran tragen Par¬
lament und Parteigetriebe und damit zusammenhängend die Presse. Die
Empfindung ist abgestumpft von der ungeheuern Hochflut politischer Blätter,
mit der man überschwemmt wird; erst wer sich die Vergangenheit vorstellt,
bekommt davon einen Begriff. Früher waren Zeitungen selten, es waren kleine
Blättchen mit Haupt- und Staatsaktionen und allerlei bunten Mitteilungen. Dann
kam die französische Revolution mit ihren Leidenschaften und Erschütterungen,
mit gesteigerter Teilnahme für Politische Ereignisse und wurde zur Brutstätte
des modernen Zeitungswesens. Der furchtbare Marat und der überschäumende,
zweifelhafte Desmoulins sind gleichsam seine Begründer gewesen, und nie hat
es seinen fragwürdigen Ursprung überwunden. Im Grnnde ist das Zeitungs-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/15>, abgerufen am 24.08.2024.