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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Wesen noch heute revolutionär, wenn nicht nach der eine", so nach der andern
Seite. Es ist zu einer Macht erwachsen, einer Großmacht, der niemand unge¬
straft widerstreitet. Die Blätter haben ein Riesenformat und massenhafte Bei¬
lagen bekommen. Sie nehmen das Auge deS Gebildeten und des Ungebildeten mehr
als irgend etwas andres in Anspruch, das Tageblatt ist ebenso zum Bedürfnis
geworden, wie Zigarrenraucheil und Kaffeetrinken. Unzählige lesen nur noch das
Tageblatt und schöpfen daraus ihre ganze Bildung. Damit ist der Einfluß der
Presse entscheidend geworden, in ihr sammelt sich die ganze Partei- und
Interessen wirtschaft, und das "dumme Publikum" hat keine Ahnung, in welcher
Weise ihm seine tägliche Geistesnahrung zurecht gemacht wird, wie sich die
traurigsten Verhältnisse in der Mnsfenpresfe eingebürgert daheim Parteilichkeit,
Verleumdung, Charakterlosigkeit, Unwissenheit, Käuflichkeit, Seusntionssucht und
vor allem Seichtheit und Oberflächlichkeit! Tagtäglich sollen Tausende solcher
Riesenblätter für eine bestimmte Stunde fertig sein; wer hat da Zeit zu
Gründlichkeit und Genauigkeit! Wird doch mir gelesen, um vergessen zu werden;
ist doch auch das Publikum längst der Gründlichkeit des Lesens entwöhnt.
Die Presse mit ihrer durchaus politischen und parteiischen Richtung ist einer
der schwersten Krebsschäden unsers Jahrhunderts, der unendlich viel Zeit
beansprucht, Gutes und Bestes erdrückt, Glaube und Vertrauen zu Staat und
Gesellschaft erschüttert, Urteil und Zweifelsucht bei Leuten erweckt , die weder
zum Urteilen noch zum Zweifeln fähig siud. Es wird ihnen eingeredet, sie
Hütten das Recht oder gar die Pflicht, den politischen Suppenlöffel zu schwingen,
während die gewöhnlichste Suppe doch nur der kochen kann, der eben zu kochen
versteht. Man giebt zu, das alles gelernt sein will, nnr die Politik, die
schwerste und verwickeltste aller Künste, sie glaubt jeder zu verstehen. Durch
die Presse ist Unruhe, Besserwissen und namentlich Unzufriedenheit in immer
weitere Kreise getragen worden, und das in einer Zeit, die der Freiheit mehr
als irgend eine vorausgegangene gewährt. Nie haben sich so viele Mensche"
unglücklich gefühlt und sind sich dessen so bewußt gewesen, wie in dem Jahr¬
hundert der persönlichen Individualität und der Selbstsucht, des wilden Jnter-
essenknmpfes, in dem nur leben. Selbstmorde und Verbrechen, Nervenkrank¬
heiten und Wahnsinn siud die düstere Kehrseite unsrer glänzendste,! Errungen-
schaften. An all diesem Elende verschuldet eine aufregende "freiheitliche" und
"volksfreundliche" Presse unendlich mehr, als sie ahnt oder wissen will. Par¬
lament und Presse, wie sie geworden sind und wie sie immer mehr zu werden
drohen, sind ein Fluch unsrer Zeit: die kommenden Geschlechter werden richten.

Eine Volksvertretung, ein Regulator, ein Gegengewicht gegen die Allmacht
der Regierung ist bei dem verwickelten Staatswesen und den tausendfach sich
kreuzenden, unübersichtlich durcheinander wirbelnden Bestrebungen von Ein¬
zelnen und Völkern "vtwendig. Es fragt sich nur, ob das jetzige Parlament
diesen, Zweck entspricht. Und da müssen wir mit Nein antworte": erstens weil


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Wesen noch heute revolutionär, wenn nicht nach der eine», so nach der andern
Seite. Es ist zu einer Macht erwachsen, einer Großmacht, der niemand unge¬
straft widerstreitet. Die Blätter haben ein Riesenformat und massenhafte Bei¬
lagen bekommen. Sie nehmen das Auge deS Gebildeten und des Ungebildeten mehr
als irgend etwas andres in Anspruch, das Tageblatt ist ebenso zum Bedürfnis
geworden, wie Zigarrenraucheil und Kaffeetrinken. Unzählige lesen nur noch das
Tageblatt und schöpfen daraus ihre ganze Bildung. Damit ist der Einfluß der
Presse entscheidend geworden, in ihr sammelt sich die ganze Partei- und
Interessen wirtschaft, und das „dumme Publikum" hat keine Ahnung, in welcher
Weise ihm seine tägliche Geistesnahrung zurecht gemacht wird, wie sich die
traurigsten Verhältnisse in der Mnsfenpresfe eingebürgert daheim Parteilichkeit,
Verleumdung, Charakterlosigkeit, Unwissenheit, Käuflichkeit, Seusntionssucht und
vor allem Seichtheit und Oberflächlichkeit! Tagtäglich sollen Tausende solcher
Riesenblätter für eine bestimmte Stunde fertig sein; wer hat da Zeit zu
Gründlichkeit und Genauigkeit! Wird doch mir gelesen, um vergessen zu werden;
ist doch auch das Publikum längst der Gründlichkeit des Lesens entwöhnt.
Die Presse mit ihrer durchaus politischen und parteiischen Richtung ist einer
der schwersten Krebsschäden unsers Jahrhunderts, der unendlich viel Zeit
beansprucht, Gutes und Bestes erdrückt, Glaube und Vertrauen zu Staat und
Gesellschaft erschüttert, Urteil und Zweifelsucht bei Leuten erweckt , die weder
zum Urteilen noch zum Zweifeln fähig siud. Es wird ihnen eingeredet, sie
Hütten das Recht oder gar die Pflicht, den politischen Suppenlöffel zu schwingen,
während die gewöhnlichste Suppe doch nur der kochen kann, der eben zu kochen
versteht. Man giebt zu, das alles gelernt sein will, nnr die Politik, die
schwerste und verwickeltste aller Künste, sie glaubt jeder zu verstehen. Durch
die Presse ist Unruhe, Besserwissen und namentlich Unzufriedenheit in immer
weitere Kreise getragen worden, und das in einer Zeit, die der Freiheit mehr
als irgend eine vorausgegangene gewährt. Nie haben sich so viele Mensche»
unglücklich gefühlt und sind sich dessen so bewußt gewesen, wie in dem Jahr¬
hundert der persönlichen Individualität und der Selbstsucht, des wilden Jnter-
essenknmpfes, in dem nur leben. Selbstmorde und Verbrechen, Nervenkrank¬
heiten und Wahnsinn siud die düstere Kehrseite unsrer glänzendste,! Errungen-
schaften. An all diesem Elende verschuldet eine aufregende „freiheitliche" und
„volksfreundliche" Presse unendlich mehr, als sie ahnt oder wissen will. Par¬
lament und Presse, wie sie geworden sind und wie sie immer mehr zu werden
drohen, sind ein Fluch unsrer Zeit: die kommenden Geschlechter werden richten.

Eine Volksvertretung, ein Regulator, ein Gegengewicht gegen die Allmacht
der Regierung ist bei dem verwickelten Staatswesen und den tausendfach sich
kreuzenden, unübersichtlich durcheinander wirbelnden Bestrebungen von Ein¬
zelnen und Völkern »vtwendig. Es fragt sich nur, ob das jetzige Parlament
diesen, Zweck entspricht. Und da müssen wir mit Nein antworte»: erstens weil


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/16>, abgerufen am 22.07.2024.