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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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nur ein Demokrat durchgegangen sein, und anch der nur durch die Stimmen
der Sozialdemokrnten; jetzt bei verdreifachter Stimmenzahl sind zehn ins Parlament
gelangt. In Kaiserslautern wurde damals ein Liberaler von vier durchaus
verschiednen Parteien niedcrgcstimmt, und so fort. Bei den letzten Wahlen sind
an Stimmen abgegeben Morden: Konservative 919 646; ins Parlament treten
71 Vertreter dieser Partei; Nationalliberale 1169112 Stimmen, die aber nur
11 Sitze erkämpft haben, also trotz einer Mehrheit von ^ Million Stimmen
doch 30 Sitze weniger. Ähnlich verhält es sich zwischen Freisinn und Sozial¬
demokraten, erstere haben 1117 863, letztere 1 343 5>87 Stimmen erhalten, also
fast 200000 mehr; und doch haben die Sozialdemokratin nur 35, die Frei¬
sinnigen dagegen 69 Vertreter, d. h. zugleich trotz geringerer Stimmenzahl
28 Vertreter mehr als die Nationalliberalen.

Jeder Unbefangene wird zugestehen, daß das ganz widersinnige Ergebnisse
sind, herbeigeführt einerseits durch die verschiedne Znsammensetzung der Wahl¬
kreise, anderseits durch die Stichwahlen. Während Konservative und Zentrum,
wie gesagt, von verhältnismäßig einheitlicher Landbevölkerung getragen werden,
wurzeln die andern drei Parteien in den bunt zusauunengesetzten Bewohnern
der Städte mit ihren mannigfachen Gegensätzen. Daher hier starke Zersplitterung
und Stichwahlen, für die letzten Reichstagswahlen nicht weniger als 148 von
397, also mehr als ein Drittel. Von diese" Stichwahlen waren die National-
liberalen an 77 beteiligt, trotz ihrer großen Stimmenzahl hatten sie anfangs
nur etwas über ein Dutzend Sitze erlangt, nicht viel mehr die Deutsch freisiimigen,
und schließlich doch der klaffende Unterschied. Es kaun wohl keinen beredtem
Beweisgrund gegen die Stichwahlen geben, als diese einfachen Zahlen.
Nicht nur, daß sie die Nachteile erneuten Kampfes (bis zu viermal z. B. in
Hamm) mit seineu vielen Zufälligkeiten bieten, sie entstellen geradezu, weil
besondre Erwägungen, ja eine ganz kleine, ursprünglich nicht zur Sache ge¬
hörige Anzahl den Ausschlag giebt: in Leipzig z. B. bei Liberalen lind Sozial¬
demokraten die Antisemiten, deren Führer unmittelbar vor der Stichwahl er¬
klärte, beide Teile stünden seiner Partei gleich fern. An andern Orten, wo
Liberale und Freisinnige gegenüberstanden, lag die Entscheidung beim Zen¬
trum, wo Liberale und Ultramontane mit einander rangen, beim Freisinn,
und so fort. Mau sieht, es mag herauskommen, was da will, ein gesundes,
sachentsprccheudes Ergebnis findet sich nicht oder doch nur bisweilen. Die
Minderheiten, auch wenn sie noch so bedeutend sind, werden mundtot gemacht,
Stimmenzahl und Vertretung decken sich nicht. Die Mehrheiten sind Kunst¬
erzeugnisse, die Volksmeinung wird gefälscht. Kann es größern Widersinn
geben, als wenn die reichsten Städte Deutschlands, wenn Hamburg und
Frankfurt, die erste Handelsstadt des Kontinents und eine der ersten Finnnzstädte,
durch Sozialdemokraten vertreten sind, wenn alle drei Hansestädte Sozialisten
in den Reichstag schicken, was zugleich bedeutet, daß einer der wichtigsten Zweige


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nur ein Demokrat durchgegangen sein, und anch der nur durch die Stimmen
der Sozialdemokrnten; jetzt bei verdreifachter Stimmenzahl sind zehn ins Parlament
gelangt. In Kaiserslautern wurde damals ein Liberaler von vier durchaus
verschiednen Parteien niedcrgcstimmt, und so fort. Bei den letzten Wahlen sind
an Stimmen abgegeben Morden: Konservative 919 646; ins Parlament treten
71 Vertreter dieser Partei; Nationalliberale 1169112 Stimmen, die aber nur
11 Sitze erkämpft haben, also trotz einer Mehrheit von ^ Million Stimmen
doch 30 Sitze weniger. Ähnlich verhält es sich zwischen Freisinn und Sozial¬
demokraten, erstere haben 1117 863, letztere 1 343 5>87 Stimmen erhalten, also
fast 200000 mehr; und doch haben die Sozialdemokratin nur 35, die Frei¬
sinnigen dagegen 69 Vertreter, d. h. zugleich trotz geringerer Stimmenzahl
28 Vertreter mehr als die Nationalliberalen.

Jeder Unbefangene wird zugestehen, daß das ganz widersinnige Ergebnisse
sind, herbeigeführt einerseits durch die verschiedne Znsammensetzung der Wahl¬
kreise, anderseits durch die Stichwahlen. Während Konservative und Zentrum,
wie gesagt, von verhältnismäßig einheitlicher Landbevölkerung getragen werden,
wurzeln die andern drei Parteien in den bunt zusauunengesetzten Bewohnern
der Städte mit ihren mannigfachen Gegensätzen. Daher hier starke Zersplitterung
und Stichwahlen, für die letzten Reichstagswahlen nicht weniger als 148 von
397, also mehr als ein Drittel. Von diese» Stichwahlen waren die National-
liberalen an 77 beteiligt, trotz ihrer großen Stimmenzahl hatten sie anfangs
nur etwas über ein Dutzend Sitze erlangt, nicht viel mehr die Deutsch freisiimigen,
und schließlich doch der klaffende Unterschied. Es kaun wohl keinen beredtem
Beweisgrund gegen die Stichwahlen geben, als diese einfachen Zahlen.
Nicht nur, daß sie die Nachteile erneuten Kampfes (bis zu viermal z. B. in
Hamm) mit seineu vielen Zufälligkeiten bieten, sie entstellen geradezu, weil
besondre Erwägungen, ja eine ganz kleine, ursprünglich nicht zur Sache ge¬
hörige Anzahl den Ausschlag giebt: in Leipzig z. B. bei Liberalen lind Sozial¬
demokraten die Antisemiten, deren Führer unmittelbar vor der Stichwahl er¬
klärte, beide Teile stünden seiner Partei gleich fern. An andern Orten, wo
Liberale und Freisinnige gegenüberstanden, lag die Entscheidung beim Zen¬
trum, wo Liberale und Ultramontane mit einander rangen, beim Freisinn,
und so fort. Mau sieht, es mag herauskommen, was da will, ein gesundes,
sachentsprccheudes Ergebnis findet sich nicht oder doch nur bisweilen. Die
Minderheiten, auch wenn sie noch so bedeutend sind, werden mundtot gemacht,
Stimmenzahl und Vertretung decken sich nicht. Die Mehrheiten sind Kunst¬
erzeugnisse, die Volksmeinung wird gefälscht. Kann es größern Widersinn
geben, als wenn die reichsten Städte Deutschlands, wenn Hamburg und
Frankfurt, die erste Handelsstadt des Kontinents und eine der ersten Finnnzstädte,
durch Sozialdemokraten vertreten sind, wenn alle drei Hansestädte Sozialisten
in den Reichstag schicken, was zugleich bedeutet, daß einer der wichtigsten Zweige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/14>, abgerufen am 27.12.2024.