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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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befremden müssen, als sich in den wenigen Jahren sonst nicht sonderlich viel
geändert hat. Der Grund dürfte sein, daß die Mehrzahl der Menschen in
unsrer hastigen Zeit stärker von der Angenblicksstimmung und -Meinung
abhängt, als sie ahnt, und die Wahl 1387 unter regierungsgünstigeren Ver¬
hältnissen erfolgte als die beiden andern. Daß in einem stetigen Entwicklungs¬
gange so Wesentliches, ja fast das Wichtigste nicht von solchen Zufälligkeiten
abhängen sollte, liegt ans der Hand; ebenso wie gefährlich, ja unwürdig es
ist, die Regierung zu zwingen, Wahlen womöglich unter Umständen, die ihr
günstig sind, abhalten zu lassen, sie gewissermaßen zu einer Partei hinabzn-
drücken. Die Wahlen von 1884 ergaben einen Reichstag, der entschieden nicht
die wahre Meinung des deutschen Volkes zum Ausdruck brachte, sondern das
Erzeugnis der Parteien war. Die regierungsfeindlichen erdrückten die regierungs¬
freundlichen. 1884 einigten sich die Katholisch-Kirchlichen mit Fortschritt,
Demokratie und Sozialdemokratie, um keinen Liberalen oder Konservativen ins
Parlament zu lassen. 18R) waren diese mehr gewitzigt und schlössen ein
"Kartell," erlagen aber doch oft dem vielseitigen Ansturme. Nun kann man
doktrinär sagen, so gut wie Liberale und .Konservative ein Kartell schlössen,
können es auch die andern Parteien thun, oder thatsächlich darnach handeln.
Das ist aber ein falscher Schluß. Liberale und Konservative, mit den Frei-
kvnservativeu in der Mitte, stehen einander innerlich nahe, sind bei den augen¬
blicklichen Verhältnissen uur Abweichungen von derselben Gesammtfarbe. Ganz
anders die Gegner: das einzige, was sie verbindet, ist der Widerspruch gegen
Regierungsvorlagen. Was hat ein Pole mit einen, Dänen oder Elsässer
gemein? Gar nichts. Was das Zentrum mit denn Fortschritt? Das eine
ist eine Kirchenpartei, das andre eine kirchenfeindliche. Ja was der Fortschritt
mit den Sozialdemokraten? Der Fortschritt wurzelt im Bürgerstande auf
stark semitischer Grundlage; die Sozialdemokraten sind Arbeiterpartei und
erklären dem Besitz, der gerade im Fortschritt herrscht, den Krieg. Wie un¬
vergleichlich näher in der Gesinnung stehen sich das katholisch-kirchliche Zentrum
und die vielfach evangelisch-kirchlichen Konservativen: beide Teile werden ge¬
wählt wesentlich von der Landbevölkerung. Oder die Liberalen und der Fort¬
schritt: beide beruhen auf dem Bürgerstande der Städte und bestanden, als das
semitentum anch die Liberalen zersetzte, eine Zeit lang als Schattirungen
neben einander. Wie die Dinge liegen, sind ja die Bündnisse der größten
Gegensätze für die betreffenden Parteien sehr praktisch, für das politische
und soziale Empfinden des deutschen Volkes aber sinnverwirrend und tief
unsittlich.

Ist das aber vom Standpunkte der innern Gesundheit schwer beklagens¬
wert, so nicht minder vom praktisch-politischen. Die Volksvertretung ist keine
wirkliche, sondern nur eine scheinbare, sie entspricht nicht dem Stimmenver¬
hältnis. 1884 würde z. B. in Württemberg ohne Unterstützung der Katholiken


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befremden müssen, als sich in den wenigen Jahren sonst nicht sonderlich viel
geändert hat. Der Grund dürfte sein, daß die Mehrzahl der Menschen in
unsrer hastigen Zeit stärker von der Angenblicksstimmung und -Meinung
abhängt, als sie ahnt, und die Wahl 1387 unter regierungsgünstigeren Ver¬
hältnissen erfolgte als die beiden andern. Daß in einem stetigen Entwicklungs¬
gange so Wesentliches, ja fast das Wichtigste nicht von solchen Zufälligkeiten
abhängen sollte, liegt ans der Hand; ebenso wie gefährlich, ja unwürdig es
ist, die Regierung zu zwingen, Wahlen womöglich unter Umständen, die ihr
günstig sind, abhalten zu lassen, sie gewissermaßen zu einer Partei hinabzn-
drücken. Die Wahlen von 1884 ergaben einen Reichstag, der entschieden nicht
die wahre Meinung des deutschen Volkes zum Ausdruck brachte, sondern das
Erzeugnis der Parteien war. Die regierungsfeindlichen erdrückten die regierungs¬
freundlichen. 1884 einigten sich die Katholisch-Kirchlichen mit Fortschritt,
Demokratie und Sozialdemokratie, um keinen Liberalen oder Konservativen ins
Parlament zu lassen. 18R) waren diese mehr gewitzigt und schlössen ein
„Kartell," erlagen aber doch oft dem vielseitigen Ansturme. Nun kann man
doktrinär sagen, so gut wie Liberale und .Konservative ein Kartell schlössen,
können es auch die andern Parteien thun, oder thatsächlich darnach handeln.
Das ist aber ein falscher Schluß. Liberale und Konservative, mit den Frei-
kvnservativeu in der Mitte, stehen einander innerlich nahe, sind bei den augen¬
blicklichen Verhältnissen uur Abweichungen von derselben Gesammtfarbe. Ganz
anders die Gegner: das einzige, was sie verbindet, ist der Widerspruch gegen
Regierungsvorlagen. Was hat ein Pole mit einen, Dänen oder Elsässer
gemein? Gar nichts. Was das Zentrum mit denn Fortschritt? Das eine
ist eine Kirchenpartei, das andre eine kirchenfeindliche. Ja was der Fortschritt
mit den Sozialdemokraten? Der Fortschritt wurzelt im Bürgerstande auf
stark semitischer Grundlage; die Sozialdemokraten sind Arbeiterpartei und
erklären dem Besitz, der gerade im Fortschritt herrscht, den Krieg. Wie un¬
vergleichlich näher in der Gesinnung stehen sich das katholisch-kirchliche Zentrum
und die vielfach evangelisch-kirchlichen Konservativen: beide Teile werden ge¬
wählt wesentlich von der Landbevölkerung. Oder die Liberalen und der Fort¬
schritt: beide beruhen auf dem Bürgerstande der Städte und bestanden, als das
semitentum anch die Liberalen zersetzte, eine Zeit lang als Schattirungen
neben einander. Wie die Dinge liegen, sind ja die Bündnisse der größten
Gegensätze für die betreffenden Parteien sehr praktisch, für das politische
und soziale Empfinden des deutschen Volkes aber sinnverwirrend und tief
unsittlich.

Ist das aber vom Standpunkte der innern Gesundheit schwer beklagens¬
wert, so nicht minder vom praktisch-politischen. Die Volksvertretung ist keine
wirkliche, sondern nur eine scheinbare, sie entspricht nicht dem Stimmenver¬
hältnis. 1884 würde z. B. in Württemberg ohne Unterstützung der Katholiken


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/13>, abgerufen am 22.07.2024.