Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite

hängig entscheiden zu können, welchem von beiden sie fortan angehören wolle.
Und als Mangel dies gewährt, erleidet sie die plötzliche Wandlung, daß der
Fremde jede Anziehungskraft für sie verliert und daß sie nun zu einem wahren
Herzensbund ihrem. Gatten an die Brust sinkt.

Ibsen spannt in diesem Drama die sittlichen Triebfedern vielleicht straffer
als in irgend einem andern, aber er überspannt sie bis zur Lähmung. Wir
bewegen uns in einer Welt von Widersprüchen. Es ist schon außerordentlich
bezeichnend, daß durch das ganze Stück in unaufhörlicher Wiederholung sich
Ausdrücke ziehen wie: Wahnsinn, unbegreiflich, so gewissermaßen, das ist ver¬
rückt, sozusagen, unerklärlich, gleichsam wie eine Art Wunder. Eine entsprechende
Stimmung bemächtigt sich auch des Lesers; man sucht nach einer greifbaren
realen Grundlage des ganzen Konfliktes, aber unbegreiflich bleibt alles. Es
wird in keiner Weise klar, warum sich die Töchter so außerordentlich feindselig
gegen ihre Stiefmutter stellen; Mangel selbst ist doch stets des Lobes voll über
seine zweite Gattin und preist sein Glück an ihrer Seite. Ellida erwirbt bald
nach der Abreise Johnstons mutig ihre innere Freiheit zurück, indem sie wieder¬
holt und mit steigender Schärfe ihm brieflich erklärt, daß zwischen ihnen alles
aus sein müsse. Hat sie doch überhaupt seine Forderung nur ganz willenlos
über sich ergehen lassen! Dann spricht sie es im Laufe des Stückes wiederholt
aus, daß sie an Mangel mit aufrichtiger Liebe hänge, und zwar in sittlich¬
freiem Anschluß, wenn sie ihm auch einst der Versorgung halber gefolgt sei. Und
dann doch dieser haltlose Rückfall in eine seit Jahren überwundene Stimmung!
Dem Verlobten gegenüber hat sie ohne alle Umstände die vom Dichter so gern
betonte Befreiung ihres Ichs geübt, vom Gatten erfleht sie diese in sklavischer
Gebundenheit und Ergebung. In dem letztern Falle treibt sie wirklich nur
ein Spiel mit Worten, denn die verlangte Freiheit kann sie sich jeden Augen¬
blick selbst geben. Wie handelt doch Nora? Auch diese ist Gattin; aber sie
achtet den Einspruch des Gemahls für nichts und geht ohne Rücksicht ihrer
Wege. Wie kann Ellida nach jener ans ihrem Innersten kommenden Absage
an Johnston den Sohn Mangels noch in einem geistigen Ehebruch empfangen!
Und als Johnston uun plötzlich erscheint, begrüßt sie ihn in einem Atem als
den "ersehnten Liebsten" und fragt ihn gleich darauf: "Wer sind Sie?" Soll
das eine psychologische Feinheit sein, so wohnt ihr jedenfalls ein ganz elemen¬
tarer Lachreiz inne. Johnston beruft sich darauf, Ellida habe ihm fest ver¬
sprochen, zu warten, bis er wiederkommen würde, und erklärt gleich nachher,
daß "Gelöbnisse niemand binden, weder Mann noch Weib!" Das sind krasse
Widersprüche. Durch ihren Ausruf: "Mangel, rette mich vor mir selbst!" wird
eine seelische Unfreiheit der Heldin hingestellt und mit dem Hinweis auf das
Geheimnisvolle im Blick des Fremden begründet, das ihre sittliche Verant¬
wortlichkeit aufheben muß. Aber dadurch wird der Charakter undramatisch,
und die weitere Entwicklung wirkt auf den Zuschauer nur noch als nutzlose


hängig entscheiden zu können, welchem von beiden sie fortan angehören wolle.
Und als Mangel dies gewährt, erleidet sie die plötzliche Wandlung, daß der
Fremde jede Anziehungskraft für sie verliert und daß sie nun zu einem wahren
Herzensbund ihrem. Gatten an die Brust sinkt.

Ibsen spannt in diesem Drama die sittlichen Triebfedern vielleicht straffer
als in irgend einem andern, aber er überspannt sie bis zur Lähmung. Wir
bewegen uns in einer Welt von Widersprüchen. Es ist schon außerordentlich
bezeichnend, daß durch das ganze Stück in unaufhörlicher Wiederholung sich
Ausdrücke ziehen wie: Wahnsinn, unbegreiflich, so gewissermaßen, das ist ver¬
rückt, sozusagen, unerklärlich, gleichsam wie eine Art Wunder. Eine entsprechende
Stimmung bemächtigt sich auch des Lesers; man sucht nach einer greifbaren
realen Grundlage des ganzen Konfliktes, aber unbegreiflich bleibt alles. Es
wird in keiner Weise klar, warum sich die Töchter so außerordentlich feindselig
gegen ihre Stiefmutter stellen; Mangel selbst ist doch stets des Lobes voll über
seine zweite Gattin und preist sein Glück an ihrer Seite. Ellida erwirbt bald
nach der Abreise Johnstons mutig ihre innere Freiheit zurück, indem sie wieder¬
holt und mit steigender Schärfe ihm brieflich erklärt, daß zwischen ihnen alles
aus sein müsse. Hat sie doch überhaupt seine Forderung nur ganz willenlos
über sich ergehen lassen! Dann spricht sie es im Laufe des Stückes wiederholt
aus, daß sie an Mangel mit aufrichtiger Liebe hänge, und zwar in sittlich¬
freiem Anschluß, wenn sie ihm auch einst der Versorgung halber gefolgt sei. Und
dann doch dieser haltlose Rückfall in eine seit Jahren überwundene Stimmung!
Dem Verlobten gegenüber hat sie ohne alle Umstände die vom Dichter so gern
betonte Befreiung ihres Ichs geübt, vom Gatten erfleht sie diese in sklavischer
Gebundenheit und Ergebung. In dem letztern Falle treibt sie wirklich nur
ein Spiel mit Worten, denn die verlangte Freiheit kann sie sich jeden Augen¬
blick selbst geben. Wie handelt doch Nora? Auch diese ist Gattin; aber sie
achtet den Einspruch des Gemahls für nichts und geht ohne Rücksicht ihrer
Wege. Wie kann Ellida nach jener ans ihrem Innersten kommenden Absage
an Johnston den Sohn Mangels noch in einem geistigen Ehebruch empfangen!
Und als Johnston uun plötzlich erscheint, begrüßt sie ihn in einem Atem als
den „ersehnten Liebsten" und fragt ihn gleich darauf: „Wer sind Sie?" Soll
das eine psychologische Feinheit sein, so wohnt ihr jedenfalls ein ganz elemen¬
tarer Lachreiz inne. Johnston beruft sich darauf, Ellida habe ihm fest ver¬
sprochen, zu warten, bis er wiederkommen würde, und erklärt gleich nachher,
daß „Gelöbnisse niemand binden, weder Mann noch Weib!" Das sind krasse
Widersprüche. Durch ihren Ausruf: „Mangel, rette mich vor mir selbst!" wird
eine seelische Unfreiheit der Heldin hingestellt und mit dem Hinweis auf das
Geheimnisvolle im Blick des Fremden begründet, das ihre sittliche Verant¬
wortlichkeit aufheben muß. Aber dadurch wird der Charakter undramatisch,
und die weitere Entwicklung wirkt auf den Zuschauer nur noch als nutzlose


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0136" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207431"/>
          <fw type="header" place="top"/><lb/>
          <p xml:id="ID_371" prev="#ID_370"> hängig entscheiden zu können, welchem von beiden sie fortan angehören wolle.<lb/>
Und als Mangel dies gewährt, erleidet sie die plötzliche Wandlung, daß der<lb/>
Fremde jede Anziehungskraft für sie verliert und daß sie nun zu einem wahren<lb/>
Herzensbund ihrem. Gatten an die Brust sinkt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_372" next="#ID_373"> Ibsen spannt in diesem Drama die sittlichen Triebfedern vielleicht straffer<lb/>
als in irgend einem andern, aber er überspannt sie bis zur Lähmung. Wir<lb/>
bewegen uns in einer Welt von Widersprüchen. Es ist schon außerordentlich<lb/>
bezeichnend, daß durch das ganze Stück in unaufhörlicher Wiederholung sich<lb/>
Ausdrücke ziehen wie: Wahnsinn, unbegreiflich, so gewissermaßen, das ist ver¬<lb/>
rückt, sozusagen, unerklärlich, gleichsam wie eine Art Wunder. Eine entsprechende<lb/>
Stimmung bemächtigt sich auch des Lesers; man sucht nach einer greifbaren<lb/>
realen Grundlage des ganzen Konfliktes, aber unbegreiflich bleibt alles. Es<lb/>
wird in keiner Weise klar, warum sich die Töchter so außerordentlich feindselig<lb/>
gegen ihre Stiefmutter stellen; Mangel selbst ist doch stets des Lobes voll über<lb/>
seine zweite Gattin und preist sein Glück an ihrer Seite. Ellida erwirbt bald<lb/>
nach der Abreise Johnstons mutig ihre innere Freiheit zurück, indem sie wieder¬<lb/>
holt und mit steigender Schärfe ihm brieflich erklärt, daß zwischen ihnen alles<lb/>
aus sein müsse. Hat sie doch überhaupt seine Forderung nur ganz willenlos<lb/>
über sich ergehen lassen! Dann spricht sie es im Laufe des Stückes wiederholt<lb/>
aus, daß sie an Mangel mit aufrichtiger Liebe hänge, und zwar in sittlich¬<lb/>
freiem Anschluß, wenn sie ihm auch einst der Versorgung halber gefolgt sei. Und<lb/>
dann doch dieser haltlose Rückfall in eine seit Jahren überwundene Stimmung!<lb/>
Dem Verlobten gegenüber hat sie ohne alle Umstände die vom Dichter so gern<lb/>
betonte Befreiung ihres Ichs geübt, vom Gatten erfleht sie diese in sklavischer<lb/>
Gebundenheit und Ergebung. In dem letztern Falle treibt sie wirklich nur<lb/>
ein Spiel mit Worten, denn die verlangte Freiheit kann sie sich jeden Augen¬<lb/>
blick selbst geben. Wie handelt doch Nora? Auch diese ist Gattin; aber sie<lb/>
achtet den Einspruch des Gemahls für nichts und geht ohne Rücksicht ihrer<lb/>
Wege. Wie kann Ellida nach jener ans ihrem Innersten kommenden Absage<lb/>
an Johnston den Sohn Mangels noch in einem geistigen Ehebruch empfangen!<lb/>
Und als Johnston uun plötzlich erscheint, begrüßt sie ihn in einem Atem als<lb/>
den &#x201E;ersehnten Liebsten" und fragt ihn gleich darauf: &#x201E;Wer sind Sie?" Soll<lb/>
das eine psychologische Feinheit sein, so wohnt ihr jedenfalls ein ganz elemen¬<lb/>
tarer Lachreiz inne. Johnston beruft sich darauf, Ellida habe ihm fest ver¬<lb/>
sprochen, zu warten, bis er wiederkommen würde, und erklärt gleich nachher,<lb/>
daß &#x201E;Gelöbnisse niemand binden, weder Mann noch Weib!" Das sind krasse<lb/>
Widersprüche. Durch ihren Ausruf: &#x201E;Mangel, rette mich vor mir selbst!" wird<lb/>
eine seelische Unfreiheit der Heldin hingestellt und mit dem Hinweis auf das<lb/>
Geheimnisvolle im Blick des Fremden begründet, das ihre sittliche Verant¬<lb/>
wortlichkeit aufheben muß. Aber dadurch wird der Charakter undramatisch,<lb/>
und die weitere Entwicklung wirkt auf den Zuschauer nur noch als nutzlose</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0136] hängig entscheiden zu können, welchem von beiden sie fortan angehören wolle. Und als Mangel dies gewährt, erleidet sie die plötzliche Wandlung, daß der Fremde jede Anziehungskraft für sie verliert und daß sie nun zu einem wahren Herzensbund ihrem. Gatten an die Brust sinkt. Ibsen spannt in diesem Drama die sittlichen Triebfedern vielleicht straffer als in irgend einem andern, aber er überspannt sie bis zur Lähmung. Wir bewegen uns in einer Welt von Widersprüchen. Es ist schon außerordentlich bezeichnend, daß durch das ganze Stück in unaufhörlicher Wiederholung sich Ausdrücke ziehen wie: Wahnsinn, unbegreiflich, so gewissermaßen, das ist ver¬ rückt, sozusagen, unerklärlich, gleichsam wie eine Art Wunder. Eine entsprechende Stimmung bemächtigt sich auch des Lesers; man sucht nach einer greifbaren realen Grundlage des ganzen Konfliktes, aber unbegreiflich bleibt alles. Es wird in keiner Weise klar, warum sich die Töchter so außerordentlich feindselig gegen ihre Stiefmutter stellen; Mangel selbst ist doch stets des Lobes voll über seine zweite Gattin und preist sein Glück an ihrer Seite. Ellida erwirbt bald nach der Abreise Johnstons mutig ihre innere Freiheit zurück, indem sie wieder¬ holt und mit steigender Schärfe ihm brieflich erklärt, daß zwischen ihnen alles aus sein müsse. Hat sie doch überhaupt seine Forderung nur ganz willenlos über sich ergehen lassen! Dann spricht sie es im Laufe des Stückes wiederholt aus, daß sie an Mangel mit aufrichtiger Liebe hänge, und zwar in sittlich¬ freiem Anschluß, wenn sie ihm auch einst der Versorgung halber gefolgt sei. Und dann doch dieser haltlose Rückfall in eine seit Jahren überwundene Stimmung! Dem Verlobten gegenüber hat sie ohne alle Umstände die vom Dichter so gern betonte Befreiung ihres Ichs geübt, vom Gatten erfleht sie diese in sklavischer Gebundenheit und Ergebung. In dem letztern Falle treibt sie wirklich nur ein Spiel mit Worten, denn die verlangte Freiheit kann sie sich jeden Augen¬ blick selbst geben. Wie handelt doch Nora? Auch diese ist Gattin; aber sie achtet den Einspruch des Gemahls für nichts und geht ohne Rücksicht ihrer Wege. Wie kann Ellida nach jener ans ihrem Innersten kommenden Absage an Johnston den Sohn Mangels noch in einem geistigen Ehebruch empfangen! Und als Johnston uun plötzlich erscheint, begrüßt sie ihn in einem Atem als den „ersehnten Liebsten" und fragt ihn gleich darauf: „Wer sind Sie?" Soll das eine psychologische Feinheit sein, so wohnt ihr jedenfalls ein ganz elemen¬ tarer Lachreiz inne. Johnston beruft sich darauf, Ellida habe ihm fest ver¬ sprochen, zu warten, bis er wiederkommen würde, und erklärt gleich nachher, daß „Gelöbnisse niemand binden, weder Mann noch Weib!" Das sind krasse Widersprüche. Durch ihren Ausruf: „Mangel, rette mich vor mir selbst!" wird eine seelische Unfreiheit der Heldin hingestellt und mit dem Hinweis auf das Geheimnisvolle im Blick des Fremden begründet, das ihre sittliche Verant¬ wortlichkeit aufheben muß. Aber dadurch wird der Charakter undramatisch, und die weitere Entwicklung wirkt auf den Zuschauer nur noch als nutzlose

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/136
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/136>, abgerufen am 22.07.2024.