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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

Quälerei oder gar in unfreiwilliger Komik. Ibsen, der Verfechter der schranken¬
losen individuellen Freiheit, gründet hier auf ein Stückchen längst verbrauchter
Näuberromantit, ans die geheimnisvolle Nötigung durch einen bloßen Blick,
ferner auf eine wundersame Wirkung aus der Ferne, die mit den Spiritisten¬
scherzen von der vierten Dimension eine verzweifelte Ähnlichkeit hat, einen drama¬
tischen Konflikt! Daß ein Fremder noch immer Gewalt besitzt über Ellidas Gemüt,
nachdem sie sich seit Jahren in ihren Manu ganz eingelebt hat, ihn wirklich hat
lieben lernen, das ist einfach ein psychologisches Unding. Selbst zugegeben, sie
hube ihr Kind in geistigem Ehebruch empfangen, so ist diesem Fehler die fort¬
wirkende Kraft benommen, seit sie in aufrichtigster Zuneigung ihrem Gatten und
nur noch diesem angehören will. Man vergleiche Ibsens gekünstelte Darstellung
mit der herrlichen psychologischen Vertiefung eines ganz ähnlichen Konflikts in
Goethes Dichtung "Der Gott und die Bajadere." Hier die erschütternde, er¬
hebende Lösung nach dem unvergänglichen Grundsatz aller echten Sittlichkeit,
daß für menschliche Vergehen eine sühnende Kraft ans der Reinigung der Ge¬
sinnung erblühe, dort eine hyperkritische Diftelei, die gleichwohl den gesetzten Zwie¬
spalt nicht anders aufzulösen vermag, als daß Wnngel erklärt, jene unheimliche
Behauptung über die Augen des Kindes "müsse die reine Einbildung sein!"

Noch würde Ellidas Verhältnis zu ihren Stieftöchtern, die Technik des
Stückes in Bezug auf Verwendung von Nebenpersonen zu manchen Be¬
merkungen herausfordern. Ganz besonders macht die Form, unter der Bolette,
die ältere Tochter, sich mit dem Oberlehrer Amboin verlobt, einen widerlichen
Eindruck. Nachdem schon die ganze lange Szene in das unbestimmte Dämmer¬
licht eines haltlosen Schwankens gerückt gewesen ist, giebt das Mädchen sein
endlich mit den Worten: "Ja, ich fange an zu -- ich glaube im Grunde --
daß es gehen wird!" Und dann giebt sie sofort ihrer Befriedigung Ausdruck
über die auf diese Weise gewonnene Versorgung und die angenehme Aussicht,
daß sie uun von dem einförmigen Leben um heimatlichen Fjord hinweg einen
^tick in die große Welt werde werfen können. Nur deshalb will sie ihm
folgen, und sie nimmt ihn auf dieses Versprechen hin ausdrücklich beim Worte.
Kein einziger, nicht der leiseste Herzenston klingt hinein in diese schmähliche
Marktszene. Es soll wahrscheinlich "realistisch" sein, daß Amboin ihr nicht
sofort den Rücken kehrt, der doch zum Überfluß als ein feinfühliger Ehreu-
Mcimi geschildert ist! Ibsen ist übrigens seiner eigentümlichen Liebhaberei für
pathologische Gebilde auch in diesem Stücke tren geblieben. Der "Kraals"
^ soll heißen Brustübel --, den der junge Lyngstrcmd früher einmal weg¬
kommen hat und der immer und immer wieder erwähnt wird, hat doch mit
°e>n wahren Realismus gar nichts zu thun; ebenso wenig der Gruß an die
Hebamme, den Mangels jüngere Tochter ausrichten läßt!

Das ganze Werk macht einen höchst unerquicklichen, weil völlig ungeklärten
Eindruck. Der Dichter wollte das Drama von der "eignen Verantwortlich-


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Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

Quälerei oder gar in unfreiwilliger Komik. Ibsen, der Verfechter der schranken¬
losen individuellen Freiheit, gründet hier auf ein Stückchen längst verbrauchter
Näuberromantit, ans die geheimnisvolle Nötigung durch einen bloßen Blick,
ferner auf eine wundersame Wirkung aus der Ferne, die mit den Spiritisten¬
scherzen von der vierten Dimension eine verzweifelte Ähnlichkeit hat, einen drama¬
tischen Konflikt! Daß ein Fremder noch immer Gewalt besitzt über Ellidas Gemüt,
nachdem sie sich seit Jahren in ihren Manu ganz eingelebt hat, ihn wirklich hat
lieben lernen, das ist einfach ein psychologisches Unding. Selbst zugegeben, sie
hube ihr Kind in geistigem Ehebruch empfangen, so ist diesem Fehler die fort¬
wirkende Kraft benommen, seit sie in aufrichtigster Zuneigung ihrem Gatten und
nur noch diesem angehören will. Man vergleiche Ibsens gekünstelte Darstellung
mit der herrlichen psychologischen Vertiefung eines ganz ähnlichen Konflikts in
Goethes Dichtung „Der Gott und die Bajadere." Hier die erschütternde, er¬
hebende Lösung nach dem unvergänglichen Grundsatz aller echten Sittlichkeit,
daß für menschliche Vergehen eine sühnende Kraft ans der Reinigung der Ge¬
sinnung erblühe, dort eine hyperkritische Diftelei, die gleichwohl den gesetzten Zwie¬
spalt nicht anders aufzulösen vermag, als daß Wnngel erklärt, jene unheimliche
Behauptung über die Augen des Kindes „müsse die reine Einbildung sein!"

Noch würde Ellidas Verhältnis zu ihren Stieftöchtern, die Technik des
Stückes in Bezug auf Verwendung von Nebenpersonen zu manchen Be¬
merkungen herausfordern. Ganz besonders macht die Form, unter der Bolette,
die ältere Tochter, sich mit dem Oberlehrer Amboin verlobt, einen widerlichen
Eindruck. Nachdem schon die ganze lange Szene in das unbestimmte Dämmer¬
licht eines haltlosen Schwankens gerückt gewesen ist, giebt das Mädchen sein
endlich mit den Worten: „Ja, ich fange an zu — ich glaube im Grunde —
daß es gehen wird!" Und dann giebt sie sofort ihrer Befriedigung Ausdruck
über die auf diese Weise gewonnene Versorgung und die angenehme Aussicht,
daß sie uun von dem einförmigen Leben um heimatlichen Fjord hinweg einen
^tick in die große Welt werde werfen können. Nur deshalb will sie ihm
folgen, und sie nimmt ihn auf dieses Versprechen hin ausdrücklich beim Worte.
Kein einziger, nicht der leiseste Herzenston klingt hinein in diese schmähliche
Marktszene. Es soll wahrscheinlich „realistisch" sein, daß Amboin ihr nicht
sofort den Rücken kehrt, der doch zum Überfluß als ein feinfühliger Ehreu-
Mcimi geschildert ist! Ibsen ist übrigens seiner eigentümlichen Liebhaberei für
pathologische Gebilde auch in diesem Stücke tren geblieben. Der „Kraals"
^ soll heißen Brustübel —, den der junge Lyngstrcmd früher einmal weg¬
kommen hat und der immer und immer wieder erwähnt wird, hat doch mit
°e>n wahren Realismus gar nichts zu thun; ebenso wenig der Gruß an die
Hebamme, den Mangels jüngere Tochter ausrichten läßt!

Das ganze Werk macht einen höchst unerquicklichen, weil völlig ungeklärten
Eindruck. Der Dichter wollte das Drama von der „eignen Verantwortlich-


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[0137] Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen Quälerei oder gar in unfreiwilliger Komik. Ibsen, der Verfechter der schranken¬ losen individuellen Freiheit, gründet hier auf ein Stückchen längst verbrauchter Näuberromantit, ans die geheimnisvolle Nötigung durch einen bloßen Blick, ferner auf eine wundersame Wirkung aus der Ferne, die mit den Spiritisten¬ scherzen von der vierten Dimension eine verzweifelte Ähnlichkeit hat, einen drama¬ tischen Konflikt! Daß ein Fremder noch immer Gewalt besitzt über Ellidas Gemüt, nachdem sie sich seit Jahren in ihren Manu ganz eingelebt hat, ihn wirklich hat lieben lernen, das ist einfach ein psychologisches Unding. Selbst zugegeben, sie hube ihr Kind in geistigem Ehebruch empfangen, so ist diesem Fehler die fort¬ wirkende Kraft benommen, seit sie in aufrichtigster Zuneigung ihrem Gatten und nur noch diesem angehören will. Man vergleiche Ibsens gekünstelte Darstellung mit der herrlichen psychologischen Vertiefung eines ganz ähnlichen Konflikts in Goethes Dichtung „Der Gott und die Bajadere." Hier die erschütternde, er¬ hebende Lösung nach dem unvergänglichen Grundsatz aller echten Sittlichkeit, daß für menschliche Vergehen eine sühnende Kraft ans der Reinigung der Ge¬ sinnung erblühe, dort eine hyperkritische Diftelei, die gleichwohl den gesetzten Zwie¬ spalt nicht anders aufzulösen vermag, als daß Wnngel erklärt, jene unheimliche Behauptung über die Augen des Kindes „müsse die reine Einbildung sein!" Noch würde Ellidas Verhältnis zu ihren Stieftöchtern, die Technik des Stückes in Bezug auf Verwendung von Nebenpersonen zu manchen Be¬ merkungen herausfordern. Ganz besonders macht die Form, unter der Bolette, die ältere Tochter, sich mit dem Oberlehrer Amboin verlobt, einen widerlichen Eindruck. Nachdem schon die ganze lange Szene in das unbestimmte Dämmer¬ licht eines haltlosen Schwankens gerückt gewesen ist, giebt das Mädchen sein endlich mit den Worten: „Ja, ich fange an zu — ich glaube im Grunde — daß es gehen wird!" Und dann giebt sie sofort ihrer Befriedigung Ausdruck über die auf diese Weise gewonnene Versorgung und die angenehme Aussicht, daß sie uun von dem einförmigen Leben um heimatlichen Fjord hinweg einen ^tick in die große Welt werde werfen können. Nur deshalb will sie ihm folgen, und sie nimmt ihn auf dieses Versprechen hin ausdrücklich beim Worte. Kein einziger, nicht der leiseste Herzenston klingt hinein in diese schmähliche Marktszene. Es soll wahrscheinlich „realistisch" sein, daß Amboin ihr nicht sofort den Rücken kehrt, der doch zum Überfluß als ein feinfühliger Ehreu- Mcimi geschildert ist! Ibsen ist übrigens seiner eigentümlichen Liebhaberei für pathologische Gebilde auch in diesem Stücke tren geblieben. Der „Kraals" ^ soll heißen Brustübel —, den der junge Lyngstrcmd früher einmal weg¬ kommen hat und der immer und immer wieder erwähnt wird, hat doch mit °e>n wahren Realismus gar nichts zu thun; ebenso wenig der Gruß an die Hebamme, den Mangels jüngere Tochter ausrichten läßt! Das ganze Werk macht einen höchst unerquicklichen, weil völlig ungeklärten Eindruck. Der Dichter wollte das Drama von der „eignen Verantwortlich- Grenzbvten II 1»»<) 17

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/137>, abgerufen am 22.07.2024.