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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr.

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Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

aufgeworfen worden. Er läßt den Arzt von dem Augenblick an, wo er der
Gesamtheit gegenübertritt, sich nnr in den rohesten Beleidigungen ergehn.
Diese gipfeln einmal in nichts Geringeren als in der Vergleichung seiner Mit¬
bürger mit "gemeinen Bauernkötern," und als ihm einer zuruft: "Wir sind
keine Tiere!" antwortet Stockmann: "Doch, doch, mein Wertester!" Dies alles,
ehe er auch nur einen Versuch gemacht hat, der Bürgerschaft mit Umgehung
seines Bruders, eines voreingenommenen Vermittlers, seine Ideen durch das
lebendige Wort, oder wenn ihm dieses abgeschnitten wird, durch eine Schrift
darzulegen. Sollte unsrer Teilnahme für den Helden kein schwerer Abbruch
geschehen, so mußte der Dichter schildern, wie dieser zuerst alle Mittel der
Überredung erschöpft, statt daß er als maßloser Polterer von vornherein jede
Verständigung abschneidet. schroff abgewendet von bestehenden "realen" Ver¬
hältnissen, beansprucht er die Rolle und Würde eines Reformators; aber die
"verflachte kompakte Majorität" hat ganz Recht, wenn ihr vor jenen Welt¬
verbesserern graut, die ihre Rezepte hoch hernb aus dem Wolkenkukuksheim
anspruchsvoller Theorien holen, um sie uach einer nnr ans Schlagwörter ein¬
geschulten Diagnose bei dem leidenden sozialen Körper anzuwenden. Solche
Leute bringen, wenn sie wirklich ans Ruder kommen, nur Unglück in die Welt
statt der so siegesgewiß verkündigten Besserung. Daß Stockmann ganz zu
dieser gefährlichen Sorte gehört, ergiebt sich noch mehr aus der unreifen
Folgewidrigst in seinen Anschauungen, wie er sie im Verlaufe der Handlung
zum besten giebt. Im Anfange jubelt er und brüstet sich damit, daß er die
große Mehrheit hinter sich habe; er erachtet dies als einen großen Segen für
jeden, der in der Öffentlichkeit wirken will. Bald darauf spricht er uur noch
von einer "verfluchten kompakten Majorität," da sie ja "das Recht nie auf
ihrer Seite habe!" Stvckmnnu nennt es eine herrliche Zeit, worin wir jetzt
leben. Er freut sich der Intelligenz seiner Mitbürger, die "Leben, Bewegung,
Fortentwicklung in ihre Angelegenheiten bringen," aber in seiner großen Rede
spricht er von der "ganz außerordentlichen Dummheit der Behörde"," und stellt
diese zum "geistig unkultivirten Pöbel." Er erklärt, daß er "leitende Männer
in der Seele nicht ausstehen" könne, weil sie "überall Schaden anrichten"; fast
gleichzeitig aber ruft er: "Die Menge ist bloß der rohe Stoff, aus dem wir,
die Bessern, ein Volk erst bilden sollen!" Endlich stellt er auch einen Unter¬
schied zwischen Liberalismus und Freisinnigkeit auf, flucht dem erstern, den
er eben noch als seinen unwiderstehlichen Rückhalt gepriesen hat, dagegen findet
er nun Freisinnigkeit gleichbedeutend mit Sittlichkeit, und da nur die Vornehmen
die wahrhaft Freisinnigen sind, so sind sie auch die wahrhaft Sittlichen. Und
das alles unmittelbar, nachdem er seinen Bruder und die leitenden Vornehmen
der planmüßigen Vergiftung des sozialen Körpers geziehen hat!

So dehnt sich eine Flut von Widersprüchen schon in der Person des
Helden vor uns aus. Aber auch die Charaktere der Nebenpersonen zeigen an


Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen

aufgeworfen worden. Er läßt den Arzt von dem Augenblick an, wo er der
Gesamtheit gegenübertritt, sich nnr in den rohesten Beleidigungen ergehn.
Diese gipfeln einmal in nichts Geringeren als in der Vergleichung seiner Mit¬
bürger mit „gemeinen Bauernkötern," und als ihm einer zuruft: „Wir sind
keine Tiere!" antwortet Stockmann: „Doch, doch, mein Wertester!" Dies alles,
ehe er auch nur einen Versuch gemacht hat, der Bürgerschaft mit Umgehung
seines Bruders, eines voreingenommenen Vermittlers, seine Ideen durch das
lebendige Wort, oder wenn ihm dieses abgeschnitten wird, durch eine Schrift
darzulegen. Sollte unsrer Teilnahme für den Helden kein schwerer Abbruch
geschehen, so mußte der Dichter schildern, wie dieser zuerst alle Mittel der
Überredung erschöpft, statt daß er als maßloser Polterer von vornherein jede
Verständigung abschneidet. schroff abgewendet von bestehenden „realen" Ver¬
hältnissen, beansprucht er die Rolle und Würde eines Reformators; aber die
„verflachte kompakte Majorität" hat ganz Recht, wenn ihr vor jenen Welt¬
verbesserern graut, die ihre Rezepte hoch hernb aus dem Wolkenkukuksheim
anspruchsvoller Theorien holen, um sie uach einer nnr ans Schlagwörter ein¬
geschulten Diagnose bei dem leidenden sozialen Körper anzuwenden. Solche
Leute bringen, wenn sie wirklich ans Ruder kommen, nur Unglück in die Welt
statt der so siegesgewiß verkündigten Besserung. Daß Stockmann ganz zu
dieser gefährlichen Sorte gehört, ergiebt sich noch mehr aus der unreifen
Folgewidrigst in seinen Anschauungen, wie er sie im Verlaufe der Handlung
zum besten giebt. Im Anfange jubelt er und brüstet sich damit, daß er die
große Mehrheit hinter sich habe; er erachtet dies als einen großen Segen für
jeden, der in der Öffentlichkeit wirken will. Bald darauf spricht er uur noch
von einer „verfluchten kompakten Majorität," da sie ja „das Recht nie auf
ihrer Seite habe!" Stvckmnnu nennt es eine herrliche Zeit, worin wir jetzt
leben. Er freut sich der Intelligenz seiner Mitbürger, die „Leben, Bewegung,
Fortentwicklung in ihre Angelegenheiten bringen," aber in seiner großen Rede
spricht er von der „ganz außerordentlichen Dummheit der Behörde«," und stellt
diese zum „geistig unkultivirten Pöbel." Er erklärt, daß er „leitende Männer
in der Seele nicht ausstehen" könne, weil sie „überall Schaden anrichten"; fast
gleichzeitig aber ruft er: „Die Menge ist bloß der rohe Stoff, aus dem wir,
die Bessern, ein Volk erst bilden sollen!" Endlich stellt er auch einen Unter¬
schied zwischen Liberalismus und Freisinnigkeit auf, flucht dem erstern, den
er eben noch als seinen unwiderstehlichen Rückhalt gepriesen hat, dagegen findet
er nun Freisinnigkeit gleichbedeutend mit Sittlichkeit, und da nur die Vornehmen
die wahrhaft Freisinnigen sind, so sind sie auch die wahrhaft Sittlichen. Und
das alles unmittelbar, nachdem er seinen Bruder und die leitenden Vornehmen
der planmüßigen Vergiftung des sozialen Körpers geziehen hat!

So dehnt sich eine Flut von Widersprüchen schon in der Person des
Helden vor uns aus. Aber auch die Charaktere der Nebenpersonen zeigen an


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[0132] Zwei Schauspiele von Henrik Ibsen aufgeworfen worden. Er läßt den Arzt von dem Augenblick an, wo er der Gesamtheit gegenübertritt, sich nnr in den rohesten Beleidigungen ergehn. Diese gipfeln einmal in nichts Geringeren als in der Vergleichung seiner Mit¬ bürger mit „gemeinen Bauernkötern," und als ihm einer zuruft: „Wir sind keine Tiere!" antwortet Stockmann: „Doch, doch, mein Wertester!" Dies alles, ehe er auch nur einen Versuch gemacht hat, der Bürgerschaft mit Umgehung seines Bruders, eines voreingenommenen Vermittlers, seine Ideen durch das lebendige Wort, oder wenn ihm dieses abgeschnitten wird, durch eine Schrift darzulegen. Sollte unsrer Teilnahme für den Helden kein schwerer Abbruch geschehen, so mußte der Dichter schildern, wie dieser zuerst alle Mittel der Überredung erschöpft, statt daß er als maßloser Polterer von vornherein jede Verständigung abschneidet. schroff abgewendet von bestehenden „realen" Ver¬ hältnissen, beansprucht er die Rolle und Würde eines Reformators; aber die „verflachte kompakte Majorität" hat ganz Recht, wenn ihr vor jenen Welt¬ verbesserern graut, die ihre Rezepte hoch hernb aus dem Wolkenkukuksheim anspruchsvoller Theorien holen, um sie uach einer nnr ans Schlagwörter ein¬ geschulten Diagnose bei dem leidenden sozialen Körper anzuwenden. Solche Leute bringen, wenn sie wirklich ans Ruder kommen, nur Unglück in die Welt statt der so siegesgewiß verkündigten Besserung. Daß Stockmann ganz zu dieser gefährlichen Sorte gehört, ergiebt sich noch mehr aus der unreifen Folgewidrigst in seinen Anschauungen, wie er sie im Verlaufe der Handlung zum besten giebt. Im Anfange jubelt er und brüstet sich damit, daß er die große Mehrheit hinter sich habe; er erachtet dies als einen großen Segen für jeden, der in der Öffentlichkeit wirken will. Bald darauf spricht er uur noch von einer „verfluchten kompakten Majorität," da sie ja „das Recht nie auf ihrer Seite habe!" Stvckmnnu nennt es eine herrliche Zeit, worin wir jetzt leben. Er freut sich der Intelligenz seiner Mitbürger, die „Leben, Bewegung, Fortentwicklung in ihre Angelegenheiten bringen," aber in seiner großen Rede spricht er von der „ganz außerordentlichen Dummheit der Behörde«," und stellt diese zum „geistig unkultivirten Pöbel." Er erklärt, daß er „leitende Männer in der Seele nicht ausstehen" könne, weil sie „überall Schaden anrichten"; fast gleichzeitig aber ruft er: „Die Menge ist bloß der rohe Stoff, aus dem wir, die Bessern, ein Volk erst bilden sollen!" Endlich stellt er auch einen Unter¬ schied zwischen Liberalismus und Freisinnigkeit auf, flucht dem erstern, den er eben noch als seinen unwiderstehlichen Rückhalt gepriesen hat, dagegen findet er nun Freisinnigkeit gleichbedeutend mit Sittlichkeit, und da nur die Vornehmen die wahrhaft Freisinnigen sind, so sind sie auch die wahrhaft Sittlichen. Und das alles unmittelbar, nachdem er seinen Bruder und die leitenden Vornehmen der planmüßigen Vergiftung des sozialen Körpers geziehen hat! So dehnt sich eine Flut von Widersprüchen schon in der Person des Helden vor uns aus. Aber auch die Charaktere der Nebenpersonen zeigen an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Zweites Vieteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_207294/132>, abgerufen am 22.07.2024.