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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Nationalgefühl

zu der eignen Kernnrt hinzu von diesem den Geist empfangen, der solche Ent¬
schlüsse reifen ließ; und jetzt macht sich in derselben Zeit, wie der einstige
Schüler, auch der Lehrer selbst, Fichte, der geborne sächsische Lausitzer, auf den
Weg und geht nach Berlin. Ihn, den energischsten Vertreter des Individua¬
lismus, der im Fluge der Gedanken die ganze Welt der Erscheinungen aus
dem freien Ich heraus aufgebaut hatte, deu verwegensten Idealisten, ihn hatte
die schwere Zeit der Tage von 180t> und 1807 wie mit einer Konversion
getroffen, und er ist es, der jetzt das Endziel der Kantischen Geschichtsauf¬
fassung persönlich auch auf sich übernimmt. Die in politisch-nationalem Wirken
eingreifendste Persönlichkeit aber von allen, die sich dem preußischen Staate in den
Tagen der Not freiwillig zugewandt, ist der Neichsfreiherr vom Stein. Er war im
Westen des Reiches, nahe am Rhein, auf dem Stein zu Nassau geboren zum Herrn
eines reichsunmittelbaren kleinen Gebiets, zählte also zum hohen Adel und hielt
sich wahrlich keinem der Nheinbundskönige geringer an Adel und Geschlecht. Dieser
Mann, der keinen Staat über sich gesehen hatte, der von sich aussprechen
konnte: "Ich habe nnr ein Vaterland, Deutschland," der in unterm Sinne zwar
als Fichte, aber in nicht mindern: Stolze der freieste Deutsche war, tritt
in deu Dienst des preußischen Königtums und wird der große Umbildner und
Neuerwccker der Monarchie. Steins Schöpfungen sind es, die das Werk
vollendet haben, das die Nachfolger Friedrichs des Großen bisher hatten ruhen
lassen; sie siud es, die es ermöglicht haben, den Geist der Befreiung, das
öffentlich gewordne politische Wollen in die breitesten, untersten Schichten zu
tragen, im besten Sinne volkstümlich zu machen. Es ist bekannt genug, auf
welchem Wege das geschah: indem Stein überall, in Stadt und Land, Rechte
gab, und so im preußischen Sinne zur Pflicht heranzog, vor allein durch die
Beseitigung der letzten Spuren bäuerlicher Erbabhängigkeit und Fronbelastnng
und durch die so bezweckte sittliche Selbsterhöhung dieses die Grundlage des
Staates bildenden Standes. Nun erst war der König auch ihr, der Befreite",
König unmittelbar geworden, nnn ballten sich, wenn man von neuen De¬
mütigungen und Knechtungen hörte, die Hände dieser, die bisher in stummem
Gleichmut alles ertragen hatten, nnn war ihnen allen die Befreiung des Vater¬
landes unendlich viel mehr wert geworden. Es konnte keine schnöde Lockung
"lehr sein, es tönte den Männern, wie ans der eignen tiefaufatinenden Brust,
wenn Schenkendorf dem Bauernstande zurief:


Zieh fröhlich, wenn erschallt das Horn,
Ein Sturm ans allen Wegen,
Und wirf ein heißes blaues Korn
Dem Räuber kühn entgegen.
Die Siegessaat, die Freiheitssaat,
Wie herrlich wird sie sprießen:
Du, Bauer, sollst fiir solche That
Die Ernten selbst genießen!

Das Nationalgefühl

zu der eignen Kernnrt hinzu von diesem den Geist empfangen, der solche Ent¬
schlüsse reifen ließ; und jetzt macht sich in derselben Zeit, wie der einstige
Schüler, auch der Lehrer selbst, Fichte, der geborne sächsische Lausitzer, auf den
Weg und geht nach Berlin. Ihn, den energischsten Vertreter des Individua¬
lismus, der im Fluge der Gedanken die ganze Welt der Erscheinungen aus
dem freien Ich heraus aufgebaut hatte, deu verwegensten Idealisten, ihn hatte
die schwere Zeit der Tage von 180t> und 1807 wie mit einer Konversion
getroffen, und er ist es, der jetzt das Endziel der Kantischen Geschichtsauf¬
fassung persönlich auch auf sich übernimmt. Die in politisch-nationalem Wirken
eingreifendste Persönlichkeit aber von allen, die sich dem preußischen Staate in den
Tagen der Not freiwillig zugewandt, ist der Neichsfreiherr vom Stein. Er war im
Westen des Reiches, nahe am Rhein, auf dem Stein zu Nassau geboren zum Herrn
eines reichsunmittelbaren kleinen Gebiets, zählte also zum hohen Adel und hielt
sich wahrlich keinem der Nheinbundskönige geringer an Adel und Geschlecht. Dieser
Mann, der keinen Staat über sich gesehen hatte, der von sich aussprechen
konnte: „Ich habe nnr ein Vaterland, Deutschland," der in unterm Sinne zwar
als Fichte, aber in nicht mindern: Stolze der freieste Deutsche war, tritt
in deu Dienst des preußischen Königtums und wird der große Umbildner und
Neuerwccker der Monarchie. Steins Schöpfungen sind es, die das Werk
vollendet haben, das die Nachfolger Friedrichs des Großen bisher hatten ruhen
lassen; sie siud es, die es ermöglicht haben, den Geist der Befreiung, das
öffentlich gewordne politische Wollen in die breitesten, untersten Schichten zu
tragen, im besten Sinne volkstümlich zu machen. Es ist bekannt genug, auf
welchem Wege das geschah: indem Stein überall, in Stadt und Land, Rechte
gab, und so im preußischen Sinne zur Pflicht heranzog, vor allein durch die
Beseitigung der letzten Spuren bäuerlicher Erbabhängigkeit und Fronbelastnng
und durch die so bezweckte sittliche Selbsterhöhung dieses die Grundlage des
Staates bildenden Standes. Nun erst war der König auch ihr, der Befreite»,
König unmittelbar geworden, nnn ballten sich, wenn man von neuen De¬
mütigungen und Knechtungen hörte, die Hände dieser, die bisher in stummem
Gleichmut alles ertragen hatten, nnn war ihnen allen die Befreiung des Vater¬
landes unendlich viel mehr wert geworden. Es konnte keine schnöde Lockung
«lehr sein, es tönte den Männern, wie ans der eignen tiefaufatinenden Brust,
wenn Schenkendorf dem Bauernstande zurief:


Zieh fröhlich, wenn erschallt das Horn,
Ein Sturm ans allen Wegen,
Und wirf ein heißes blaues Korn
Dem Räuber kühn entgegen.
Die Siegessaat, die Freiheitssaat,
Wie herrlich wird sie sprießen:
Du, Bauer, sollst fiir solche That
Die Ernten selbst genießen!

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[0079] Das Nationalgefühl zu der eignen Kernnrt hinzu von diesem den Geist empfangen, der solche Ent¬ schlüsse reifen ließ; und jetzt macht sich in derselben Zeit, wie der einstige Schüler, auch der Lehrer selbst, Fichte, der geborne sächsische Lausitzer, auf den Weg und geht nach Berlin. Ihn, den energischsten Vertreter des Individua¬ lismus, der im Fluge der Gedanken die ganze Welt der Erscheinungen aus dem freien Ich heraus aufgebaut hatte, deu verwegensten Idealisten, ihn hatte die schwere Zeit der Tage von 180t> und 1807 wie mit einer Konversion getroffen, und er ist es, der jetzt das Endziel der Kantischen Geschichtsauf¬ fassung persönlich auch auf sich übernimmt. Die in politisch-nationalem Wirken eingreifendste Persönlichkeit aber von allen, die sich dem preußischen Staate in den Tagen der Not freiwillig zugewandt, ist der Neichsfreiherr vom Stein. Er war im Westen des Reiches, nahe am Rhein, auf dem Stein zu Nassau geboren zum Herrn eines reichsunmittelbaren kleinen Gebiets, zählte also zum hohen Adel und hielt sich wahrlich keinem der Nheinbundskönige geringer an Adel und Geschlecht. Dieser Mann, der keinen Staat über sich gesehen hatte, der von sich aussprechen konnte: „Ich habe nnr ein Vaterland, Deutschland," der in unterm Sinne zwar als Fichte, aber in nicht mindern: Stolze der freieste Deutsche war, tritt in deu Dienst des preußischen Königtums und wird der große Umbildner und Neuerwccker der Monarchie. Steins Schöpfungen sind es, die das Werk vollendet haben, das die Nachfolger Friedrichs des Großen bisher hatten ruhen lassen; sie siud es, die es ermöglicht haben, den Geist der Befreiung, das öffentlich gewordne politische Wollen in die breitesten, untersten Schichten zu tragen, im besten Sinne volkstümlich zu machen. Es ist bekannt genug, auf welchem Wege das geschah: indem Stein überall, in Stadt und Land, Rechte gab, und so im preußischen Sinne zur Pflicht heranzog, vor allein durch die Beseitigung der letzten Spuren bäuerlicher Erbabhängigkeit und Fronbelastnng und durch die so bezweckte sittliche Selbsterhöhung dieses die Grundlage des Staates bildenden Standes. Nun erst war der König auch ihr, der Befreite», König unmittelbar geworden, nnn ballten sich, wenn man von neuen De¬ mütigungen und Knechtungen hörte, die Hände dieser, die bisher in stummem Gleichmut alles ertragen hatten, nnn war ihnen allen die Befreiung des Vater¬ landes unendlich viel mehr wert geworden. Es konnte keine schnöde Lockung «lehr sein, es tönte den Männern, wie ans der eignen tiefaufatinenden Brust, wenn Schenkendorf dem Bauernstande zurief: Zieh fröhlich, wenn erschallt das Horn, Ein Sturm ans allen Wegen, Und wirf ein heißes blaues Korn Dem Räuber kühn entgegen. Die Siegessaat, die Freiheitssaat, Wie herrlich wird sie sprießen: Du, Bauer, sollst fiir solche That Die Ernten selbst genießen!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/79>, abgerufen am 23.07.2024.