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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Das Nationcilgefiihl

Durch Stein war es möglich geworden, ein Volksheer zu bilden, den
Volkskrieg zu wagen. Und Scharnhorst war es (auch einer der großen Nicht¬
Preußen), der den Drang und die Kraft, die im Volke nach Waffen und Be¬
freiung riefen, zusammenfaßte und ausarbeitete zu dem Gedanken, der heute die
Runde um den Erdball macht, zu dem preußischen Werke der gemeinsamen
Wehrpflicht, er hat das Volk zum Volke in Waffen gemacht. Dessen Führer
aber sollte der Mann werden, dessen schlichte Einfachheit ein so reiches, tiefes
Innere barg, der von all den Männern, denen wir im Befreiungskampfe be¬
gegnen, am unmittelbarsten das deutsche Volk verstanden hat und von diesem
verstanden worden ist: der Marschnll Vorwärts, der greise General Blücher
aus Rostock.

Soweit sind wir dem Vefreiungsdrang und dem Pflichtgefühl gefolgt,
der Preußens Volk erfüllte und von ihm ausging, aber auch überall dort von
ihm erwartet wurde, wo noch in deutschen Landen eine Hoffnung auf Abschüttelung
der Knechtschaft vorhanden war. Wie aber verband sich bei allen diesen nun
der Befreiuugswunsch mit den andern Bestandteilen der gemeinsamen Entwicklung
zum Nationalgefühl?

Da war es zunächst Fichte in Berlin, der die Feuerkraft und die Tiefe
seiner Reden an die deutsche Nation zu entfesseln begann, der, was Kant vor
einem Vierteljnhrhundert als Gelehrter für nicht Viele ausgesprochen hatte,
in gleichem Grundgedanken nun zu dichtgedrängten, begeisterten Zuhörern trug:
am letzten Ende sei doch der Staat der berufene Träger aller Kultur und
aller Idee, alles dessen, "was das Gemüt erfüllt, befriedigt und beseelt," und
darum berechtigt, jede Kraft des Einzelnen für sich zu fordern. Fichte hob
den Opfermut des Volkes ans die Grundlage der Gedanken und wandelte ihn
um zu unvergänglichen Gut. Und vor derselben geistigen Gemeinde kündeten
auch Schleiermachers tiefsinnige Predigten auf ganz anderm Wege den Ge¬
danken, wie sehr die Hingebung an die bürgerliche Vereinigung, zu der er
gehöre, des Menschen eigne Würde erhöhe, und daß ein Kampf bevorstehe
nicht allein um äußere Freiheit und äußeres Gut, sondern zugleich mir Gesinnung,
Religion und Geistesbildung des Deutschen, und zwar ein Kampf, den uicht
mehr die Könige allein, sondern die Völker gemeinsam mit ihren Königen
würden zu durchkämpfen haben. So ward durch die beiden großen Redner
vor allem die Verknüpfung des Vefreiungsdranges mit den geistigen Gittern
der klassischen Periode in weite Kreise getragen.

Und wen und wessen geistiges Gut wollte man retten, befreien? Die
Befreiung galt den Deutschen; gerade in ihrer völligen politischen Unzuläng¬
lichkeit hatte sich ja die Bezeichnung, die Empfindung "deutsch" erhalten
können und erhalten; nun war dies Wort durch die gemeinsame Not plötzlich
in den Vordergrund gerückt worden, und zwar sogleich über alle staatlichen
Grenzen hinweg, eben weil diese uieulals lnsher die Gedanken beschäftigt hatte";


Das Nationcilgefiihl

Durch Stein war es möglich geworden, ein Volksheer zu bilden, den
Volkskrieg zu wagen. Und Scharnhorst war es (auch einer der großen Nicht¬
Preußen), der den Drang und die Kraft, die im Volke nach Waffen und Be¬
freiung riefen, zusammenfaßte und ausarbeitete zu dem Gedanken, der heute die
Runde um den Erdball macht, zu dem preußischen Werke der gemeinsamen
Wehrpflicht, er hat das Volk zum Volke in Waffen gemacht. Dessen Führer
aber sollte der Mann werden, dessen schlichte Einfachheit ein so reiches, tiefes
Innere barg, der von all den Männern, denen wir im Befreiungskampfe be¬
gegnen, am unmittelbarsten das deutsche Volk verstanden hat und von diesem
verstanden worden ist: der Marschnll Vorwärts, der greise General Blücher
aus Rostock.

Soweit sind wir dem Vefreiungsdrang und dem Pflichtgefühl gefolgt,
der Preußens Volk erfüllte und von ihm ausging, aber auch überall dort von
ihm erwartet wurde, wo noch in deutschen Landen eine Hoffnung auf Abschüttelung
der Knechtschaft vorhanden war. Wie aber verband sich bei allen diesen nun
der Befreiuugswunsch mit den andern Bestandteilen der gemeinsamen Entwicklung
zum Nationalgefühl?

Da war es zunächst Fichte in Berlin, der die Feuerkraft und die Tiefe
seiner Reden an die deutsche Nation zu entfesseln begann, der, was Kant vor
einem Vierteljnhrhundert als Gelehrter für nicht Viele ausgesprochen hatte,
in gleichem Grundgedanken nun zu dichtgedrängten, begeisterten Zuhörern trug:
am letzten Ende sei doch der Staat der berufene Träger aller Kultur und
aller Idee, alles dessen, „was das Gemüt erfüllt, befriedigt und beseelt," und
darum berechtigt, jede Kraft des Einzelnen für sich zu fordern. Fichte hob
den Opfermut des Volkes ans die Grundlage der Gedanken und wandelte ihn
um zu unvergänglichen Gut. Und vor derselben geistigen Gemeinde kündeten
auch Schleiermachers tiefsinnige Predigten auf ganz anderm Wege den Ge¬
danken, wie sehr die Hingebung an die bürgerliche Vereinigung, zu der er
gehöre, des Menschen eigne Würde erhöhe, und daß ein Kampf bevorstehe
nicht allein um äußere Freiheit und äußeres Gut, sondern zugleich mir Gesinnung,
Religion und Geistesbildung des Deutschen, und zwar ein Kampf, den uicht
mehr die Könige allein, sondern die Völker gemeinsam mit ihren Königen
würden zu durchkämpfen haben. So ward durch die beiden großen Redner
vor allem die Verknüpfung des Vefreiungsdranges mit den geistigen Gittern
der klassischen Periode in weite Kreise getragen.

Und wen und wessen geistiges Gut wollte man retten, befreien? Die
Befreiung galt den Deutschen; gerade in ihrer völligen politischen Unzuläng¬
lichkeit hatte sich ja die Bezeichnung, die Empfindung „deutsch" erhalten
können und erhalten; nun war dies Wort durch die gemeinsame Not plötzlich
in den Vordergrund gerückt worden, und zwar sogleich über alle staatlichen
Grenzen hinweg, eben weil diese uieulals lnsher die Gedanken beschäftigt hatte»;


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[0080] Das Nationcilgefiihl Durch Stein war es möglich geworden, ein Volksheer zu bilden, den Volkskrieg zu wagen. Und Scharnhorst war es (auch einer der großen Nicht¬ Preußen), der den Drang und die Kraft, die im Volke nach Waffen und Be¬ freiung riefen, zusammenfaßte und ausarbeitete zu dem Gedanken, der heute die Runde um den Erdball macht, zu dem preußischen Werke der gemeinsamen Wehrpflicht, er hat das Volk zum Volke in Waffen gemacht. Dessen Führer aber sollte der Mann werden, dessen schlichte Einfachheit ein so reiches, tiefes Innere barg, der von all den Männern, denen wir im Befreiungskampfe be¬ gegnen, am unmittelbarsten das deutsche Volk verstanden hat und von diesem verstanden worden ist: der Marschnll Vorwärts, der greise General Blücher aus Rostock. Soweit sind wir dem Vefreiungsdrang und dem Pflichtgefühl gefolgt, der Preußens Volk erfüllte und von ihm ausging, aber auch überall dort von ihm erwartet wurde, wo noch in deutschen Landen eine Hoffnung auf Abschüttelung der Knechtschaft vorhanden war. Wie aber verband sich bei allen diesen nun der Befreiuugswunsch mit den andern Bestandteilen der gemeinsamen Entwicklung zum Nationalgefühl? Da war es zunächst Fichte in Berlin, der die Feuerkraft und die Tiefe seiner Reden an die deutsche Nation zu entfesseln begann, der, was Kant vor einem Vierteljnhrhundert als Gelehrter für nicht Viele ausgesprochen hatte, in gleichem Grundgedanken nun zu dichtgedrängten, begeisterten Zuhörern trug: am letzten Ende sei doch der Staat der berufene Träger aller Kultur und aller Idee, alles dessen, „was das Gemüt erfüllt, befriedigt und beseelt," und darum berechtigt, jede Kraft des Einzelnen für sich zu fordern. Fichte hob den Opfermut des Volkes ans die Grundlage der Gedanken und wandelte ihn um zu unvergänglichen Gut. Und vor derselben geistigen Gemeinde kündeten auch Schleiermachers tiefsinnige Predigten auf ganz anderm Wege den Ge¬ danken, wie sehr die Hingebung an die bürgerliche Vereinigung, zu der er gehöre, des Menschen eigne Würde erhöhe, und daß ein Kampf bevorstehe nicht allein um äußere Freiheit und äußeres Gut, sondern zugleich mir Gesinnung, Religion und Geistesbildung des Deutschen, und zwar ein Kampf, den uicht mehr die Könige allein, sondern die Völker gemeinsam mit ihren Königen würden zu durchkämpfen haben. So ward durch die beiden großen Redner vor allem die Verknüpfung des Vefreiungsdranges mit den geistigen Gittern der klassischen Periode in weite Kreise getragen. Und wen und wessen geistiges Gut wollte man retten, befreien? Die Befreiung galt den Deutschen; gerade in ihrer völligen politischen Unzuläng¬ lichkeit hatte sich ja die Bezeichnung, die Empfindung „deutsch" erhalten können und erhalten; nun war dies Wort durch die gemeinsame Not plötzlich in den Vordergrund gerückt worden, und zwar sogleich über alle staatlichen Grenzen hinweg, eben weil diese uieulals lnsher die Gedanken beschäftigt hatte»;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/80>, abgerufen am 23.07.2024.