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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der verein für Schulreform

ferner die grundsätzliche Anerkennung der lnteinlosen höhern Bürgerschule als
erster und wesentlicher Stufe der höhern Schulbildung überhaupt. Auf die
Verlegung des Latein und des Griechischen auf höhere Altersstufen kommen
die Kundgebungen des Vereins immer und immer wieder zurück. In der An¬
lage ^. zu der erwähnten Eingabe an den Kultusminister wird auf die psycho¬
logischen und pädagogischen Mängel der jetzigen Einrichtung hingewiesen. "Die
neunjährigen Knaben sind noch nicht fest genug in ihrer Muttersprache und
erleiden durch das Lateinische schweren Schaden in ihrer Fähigkeit, sich kor¬
rekt und fließend deutsch auszudrücken." "Das Lateinische ist für die neun¬
jährigen Knaben zu schwer; sie brauchen zu lange Zeit, um die Elemente zu
bewältigen, die sie sich, wie viele Beispiele zeigen, in einem höhern Alter mit
größerer Leichtigkeit aneignen würden." "Das Lateinische wirkt zum Teil
wegen des zu frühen Beginnes und der daraus folgenden großen Schwierig¬
keiten beim Erlernen, zum Teil wegen der langen Dauer des Unterrichts und
der gegenüber andern Fächern außerordentlich großen Stundenzahl ermüdend,
und das umso mehr, einen je breitern Raum die Grammatik einnimmt und je
weniger Mannichfaltigkeit in der Lektüre herrscht." "Die übrigen Fächer
kommen auf keiner Stufe voll zur Geltung, und selbst im Lateinischen wird
oft über geringe Leistungen geklagt." Dem gegenüber werden die Vorteile der
neuen Organisation hervorgehoben. "Durch die Hinaufschiebung des Latei¬
nischen um drei, des Griechischen um zwei Jahre wird die bestehende Zer¬
splitterung bedeutend gemildert. Die untern und mittlern Klaffen erhalten
ihren natürlichen Mittelpunkt in deu neuern Sprachen und in den mathematisch¬
naturwissenschaftlichen Fächern, Sekunda und Prima des Gymnasiums werden
hauptsächlich den alten Sprachen gewidmet. In den untern und mittlern ge¬
meinsamen Klassen erhalten die Schüler ihre Vorbildung für das Leben, in
den obern Klassen besonders für die Hochschulstudien." Dem Lateinischen soll
das Französische vorangehen und zwar, wie der in der Anlage L gegebene
Lehrplan ausweist, mit hoher Stundenzahl (acht in Sexta, acht in Quinta, sechs
in Quarta). Die Ansicht, daß das Französische auf deu Unterricht im Latei¬
nischen ebenso gut vorbereite, wie das Lateinische auf den Unterricht im Fran¬
zösischen, ist nicht neu. Es ist die Ostendorfsche These, der sich nicht viel
entgegensetzen läßt. Daß aber neunjährige Knaben mit acht Stunden Fran¬
zösisch gequält werden sollen, ist ebenso unvernünftig, wie acht Stunden Latein
in diesem Alter, und man könnte mit Recht fragen, ob denn neunjährige Knaben
in der Muttersprache fest genug seien, um nicht durch das Französische schweren
Schaden in ihrer Fähigkeit, sich korrekt deutsch auszudrücken, zu erleiden, und
ob nicht überhaupt eine fremde Sprache für dieses Alter zu schwer sei. Die
Eingabe erwartet diesen Einwurf und antwortet: "Ein ungünstiger Einfluß
auf das Deutsche ist vom Französischen viel weniger zu erwarten, weil das
Französische als moderne Knltursprache dem Deutschen in jeder Beziehung viel


Der verein für Schulreform

ferner die grundsätzliche Anerkennung der lnteinlosen höhern Bürgerschule als
erster und wesentlicher Stufe der höhern Schulbildung überhaupt. Auf die
Verlegung des Latein und des Griechischen auf höhere Altersstufen kommen
die Kundgebungen des Vereins immer und immer wieder zurück. In der An¬
lage ^. zu der erwähnten Eingabe an den Kultusminister wird auf die psycho¬
logischen und pädagogischen Mängel der jetzigen Einrichtung hingewiesen. „Die
neunjährigen Knaben sind noch nicht fest genug in ihrer Muttersprache und
erleiden durch das Lateinische schweren Schaden in ihrer Fähigkeit, sich kor¬
rekt und fließend deutsch auszudrücken." „Das Lateinische ist für die neun¬
jährigen Knaben zu schwer; sie brauchen zu lange Zeit, um die Elemente zu
bewältigen, die sie sich, wie viele Beispiele zeigen, in einem höhern Alter mit
größerer Leichtigkeit aneignen würden." „Das Lateinische wirkt zum Teil
wegen des zu frühen Beginnes und der daraus folgenden großen Schwierig¬
keiten beim Erlernen, zum Teil wegen der langen Dauer des Unterrichts und
der gegenüber andern Fächern außerordentlich großen Stundenzahl ermüdend,
und das umso mehr, einen je breitern Raum die Grammatik einnimmt und je
weniger Mannichfaltigkeit in der Lektüre herrscht." „Die übrigen Fächer
kommen auf keiner Stufe voll zur Geltung, und selbst im Lateinischen wird
oft über geringe Leistungen geklagt." Dem gegenüber werden die Vorteile der
neuen Organisation hervorgehoben. „Durch die Hinaufschiebung des Latei¬
nischen um drei, des Griechischen um zwei Jahre wird die bestehende Zer¬
splitterung bedeutend gemildert. Die untern und mittlern Klaffen erhalten
ihren natürlichen Mittelpunkt in deu neuern Sprachen und in den mathematisch¬
naturwissenschaftlichen Fächern, Sekunda und Prima des Gymnasiums werden
hauptsächlich den alten Sprachen gewidmet. In den untern und mittlern ge¬
meinsamen Klassen erhalten die Schüler ihre Vorbildung für das Leben, in
den obern Klassen besonders für die Hochschulstudien." Dem Lateinischen soll
das Französische vorangehen und zwar, wie der in der Anlage L gegebene
Lehrplan ausweist, mit hoher Stundenzahl (acht in Sexta, acht in Quinta, sechs
in Quarta). Die Ansicht, daß das Französische auf deu Unterricht im Latei¬
nischen ebenso gut vorbereite, wie das Lateinische auf den Unterricht im Fran¬
zösischen, ist nicht neu. Es ist die Ostendorfsche These, der sich nicht viel
entgegensetzen läßt. Daß aber neunjährige Knaben mit acht Stunden Fran¬
zösisch gequält werden sollen, ist ebenso unvernünftig, wie acht Stunden Latein
in diesem Alter, und man könnte mit Recht fragen, ob denn neunjährige Knaben
in der Muttersprache fest genug seien, um nicht durch das Französische schweren
Schaden in ihrer Fähigkeit, sich korrekt deutsch auszudrücken, zu erleiden, und
ob nicht überhaupt eine fremde Sprache für dieses Alter zu schwer sei. Die
Eingabe erwartet diesen Einwurf und antwortet: „Ein ungünstiger Einfluß
auf das Deutsche ist vom Französischen viel weniger zu erwarten, weil das
Französische als moderne Knltursprache dem Deutschen in jeder Beziehung viel


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/606>, abgerufen am 23.07.2024.