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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der verein für Schulreform

näher steht als das Lateinische. Dieser an sich schon geringere ungünstige
Einfluß kann noch vermindert werden, wenn das Französische in den untern
Klassen mehr als lebende Sprache behandelt, das heißt zu sprech- und freien
Schreibübuugen verwandt wird." Das sind freilich nur Entschuldigungen, die
ein tieferes Bedenken gegen unsre Verfrühung und Häufung des fremdsprach¬
lichen Unterrichtes nicht zu heben vermögen. Wie das Französische von An¬
fang an zu reichlich bedacht ist, so erscheint das Englische in seiner Anlage
verkümmert. Nachdem es in drei Mittelklassen neben Französisch und Latein
in knapper Stundenzahl von allen Schülern getrieben worden ist, wird es
fakultativ, jeder Schulmann weiß aber, daß fakultative Unterrichtsgegen-
stünde in unsre Massenerziehung, so festgerannt, wie sie einmal ist, nicht
passen, weil sie Interesse, Zeit und Arbeitskraft zersplittern und das allge¬
meine Endziel verschieben. Wie dem auch sei, unser Verein hat keine Be¬
denken. Er beruft sich immer von neuem auf das Realgymnasium in Altona,
wo die Hinaufschiebnng des Latein bis zur Untertertia ohne Schaden für die
endlichen Leistungen durchgeführt ist, und bittet den Minister siegesgewiß, nur
mehr dergleichen Versuchsanstalten zu dulden, dann werde die neue Theorie
glänzend die Probe bestehen. Dabei ist nur übersehen, daß das Altonaer
Realgymnasium nur den Unterricht im Lateinischen verlegt hat, alles andre
aber in der alten Weise betreibt.

Der fruchtbarste Gedanke in den Bestrebungen des Vereins ist die Ver¬
legung der alten Sprachen ans höhere Altersstufen, und die Verwirklichung
dieses Gedankens ist sicher nur eine Frage der Zeit. Welche Wohlthat für
Eltern und Kinder! Der Kursus des Gymnasiums und des Realgymnasiums
wird thatsächlich von einem neunjährigen uns einen sechsjährigen zurückgeführt,
die Knaben können, wenn sie in den Verband des höhern Schulwesens ein¬
treten, drei Jahre lang eine lateinlvse Schule besuchen, und in dieser Zeit wird
es sich ausweisen, ob sie zum Universitätsstudium und zu der höhern Beamten-
laufbahn hinreichend befähigt find oder nicht. Demgemäß wird ihnen der Rat
gegeben werden, in eine der beiden Gymnastalanstalten einzutreten oder die
lnteinlose Schule weiter zu besuchen und sich nach Erlangung des Freiwilligen-
zeuguisses dem praktischen Leben zuzuwenden. Im Gymnasium selbst aber
wird man zuletzt doch wohl auch zu einer Beschränkung des jetzigen Zieles,
wenigstens im Griechischen, weiter schreiten müssen. Und warum nicht? Wenn
man einen Teil der griechischen Studien ans die Universität verlegte, so würde
das Gymnasium den modernen Wissenschaften mehr Rechnung tragen können,
als jetzt, und die Studenten einiger Fakultäten würden gezwungen sein, die
allgemeinen Studien nicht des Brotstudiums wegen ganz zu vernachlässigen,
wie es jetzt meist der Fall ist. Es würde mehr Kenner des Griechentums
geben als heute, da doch trotz der unsäglichen Anstrengungen die Schüler ein
recht kleines Maß des Griechischen vom Gymnasium wegbringen. Durch unser


Der verein für Schulreform

näher steht als das Lateinische. Dieser an sich schon geringere ungünstige
Einfluß kann noch vermindert werden, wenn das Französische in den untern
Klassen mehr als lebende Sprache behandelt, das heißt zu sprech- und freien
Schreibübuugen verwandt wird." Das sind freilich nur Entschuldigungen, die
ein tieferes Bedenken gegen unsre Verfrühung und Häufung des fremdsprach¬
lichen Unterrichtes nicht zu heben vermögen. Wie das Französische von An¬
fang an zu reichlich bedacht ist, so erscheint das Englische in seiner Anlage
verkümmert. Nachdem es in drei Mittelklassen neben Französisch und Latein
in knapper Stundenzahl von allen Schülern getrieben worden ist, wird es
fakultativ, jeder Schulmann weiß aber, daß fakultative Unterrichtsgegen-
stünde in unsre Massenerziehung, so festgerannt, wie sie einmal ist, nicht
passen, weil sie Interesse, Zeit und Arbeitskraft zersplittern und das allge¬
meine Endziel verschieben. Wie dem auch sei, unser Verein hat keine Be¬
denken. Er beruft sich immer von neuem auf das Realgymnasium in Altona,
wo die Hinaufschiebnng des Latein bis zur Untertertia ohne Schaden für die
endlichen Leistungen durchgeführt ist, und bittet den Minister siegesgewiß, nur
mehr dergleichen Versuchsanstalten zu dulden, dann werde die neue Theorie
glänzend die Probe bestehen. Dabei ist nur übersehen, daß das Altonaer
Realgymnasium nur den Unterricht im Lateinischen verlegt hat, alles andre
aber in der alten Weise betreibt.

Der fruchtbarste Gedanke in den Bestrebungen des Vereins ist die Ver¬
legung der alten Sprachen ans höhere Altersstufen, und die Verwirklichung
dieses Gedankens ist sicher nur eine Frage der Zeit. Welche Wohlthat für
Eltern und Kinder! Der Kursus des Gymnasiums und des Realgymnasiums
wird thatsächlich von einem neunjährigen uns einen sechsjährigen zurückgeführt,
die Knaben können, wenn sie in den Verband des höhern Schulwesens ein¬
treten, drei Jahre lang eine lateinlvse Schule besuchen, und in dieser Zeit wird
es sich ausweisen, ob sie zum Universitätsstudium und zu der höhern Beamten-
laufbahn hinreichend befähigt find oder nicht. Demgemäß wird ihnen der Rat
gegeben werden, in eine der beiden Gymnastalanstalten einzutreten oder die
lnteinlose Schule weiter zu besuchen und sich nach Erlangung des Freiwilligen-
zeuguisses dem praktischen Leben zuzuwenden. Im Gymnasium selbst aber
wird man zuletzt doch wohl auch zu einer Beschränkung des jetzigen Zieles,
wenigstens im Griechischen, weiter schreiten müssen. Und warum nicht? Wenn
man einen Teil der griechischen Studien ans die Universität verlegte, so würde
das Gymnasium den modernen Wissenschaften mehr Rechnung tragen können,
als jetzt, und die Studenten einiger Fakultäten würden gezwungen sein, die
allgemeinen Studien nicht des Brotstudiums wegen ganz zu vernachlässigen,
wie es jetzt meist der Fall ist. Es würde mehr Kenner des Griechentums
geben als heute, da doch trotz der unsäglichen Anstrengungen die Schüler ein
recht kleines Maß des Griechischen vom Gymnasium wegbringen. Durch unser


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[0607] Der verein für Schulreform näher steht als das Lateinische. Dieser an sich schon geringere ungünstige Einfluß kann noch vermindert werden, wenn das Französische in den untern Klassen mehr als lebende Sprache behandelt, das heißt zu sprech- und freien Schreibübuugen verwandt wird." Das sind freilich nur Entschuldigungen, die ein tieferes Bedenken gegen unsre Verfrühung und Häufung des fremdsprach¬ lichen Unterrichtes nicht zu heben vermögen. Wie das Französische von An¬ fang an zu reichlich bedacht ist, so erscheint das Englische in seiner Anlage verkümmert. Nachdem es in drei Mittelklassen neben Französisch und Latein in knapper Stundenzahl von allen Schülern getrieben worden ist, wird es fakultativ, jeder Schulmann weiß aber, daß fakultative Unterrichtsgegen- stünde in unsre Massenerziehung, so festgerannt, wie sie einmal ist, nicht passen, weil sie Interesse, Zeit und Arbeitskraft zersplittern und das allge¬ meine Endziel verschieben. Wie dem auch sei, unser Verein hat keine Be¬ denken. Er beruft sich immer von neuem auf das Realgymnasium in Altona, wo die Hinaufschiebnng des Latein bis zur Untertertia ohne Schaden für die endlichen Leistungen durchgeführt ist, und bittet den Minister siegesgewiß, nur mehr dergleichen Versuchsanstalten zu dulden, dann werde die neue Theorie glänzend die Probe bestehen. Dabei ist nur übersehen, daß das Altonaer Realgymnasium nur den Unterricht im Lateinischen verlegt hat, alles andre aber in der alten Weise betreibt. Der fruchtbarste Gedanke in den Bestrebungen des Vereins ist die Ver¬ legung der alten Sprachen ans höhere Altersstufen, und die Verwirklichung dieses Gedankens ist sicher nur eine Frage der Zeit. Welche Wohlthat für Eltern und Kinder! Der Kursus des Gymnasiums und des Realgymnasiums wird thatsächlich von einem neunjährigen uns einen sechsjährigen zurückgeführt, die Knaben können, wenn sie in den Verband des höhern Schulwesens ein¬ treten, drei Jahre lang eine lateinlvse Schule besuchen, und in dieser Zeit wird es sich ausweisen, ob sie zum Universitätsstudium und zu der höhern Beamten- laufbahn hinreichend befähigt find oder nicht. Demgemäß wird ihnen der Rat gegeben werden, in eine der beiden Gymnastalanstalten einzutreten oder die lnteinlose Schule weiter zu besuchen und sich nach Erlangung des Freiwilligen- zeuguisses dem praktischen Leben zuzuwenden. Im Gymnasium selbst aber wird man zuletzt doch wohl auch zu einer Beschränkung des jetzigen Zieles, wenigstens im Griechischen, weiter schreiten müssen. Und warum nicht? Wenn man einen Teil der griechischen Studien ans die Universität verlegte, so würde das Gymnasium den modernen Wissenschaften mehr Rechnung tragen können, als jetzt, und die Studenten einiger Fakultäten würden gezwungen sein, die allgemeinen Studien nicht des Brotstudiums wegen ganz zu vernachlässigen, wie es jetzt meist der Fall ist. Es würde mehr Kenner des Griechentums geben als heute, da doch trotz der unsäglichen Anstrengungen die Schüler ein recht kleines Maß des Griechischen vom Gymnasium wegbringen. Durch unser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/607>, abgerufen am 23.07.2024.