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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der Verein für Schulreform

Wie glaubt nun der Verein dem praktischen Bedürfnis genügen zu können?
Er will den Anfang des Unterrichtes nu Lateinischen und Griechischen auf
eine höhere Altersstufe hinausschieben, um die sechsklassige Mittelschule zur
Vorschule des Gymnasiums zu machen und so eine einheitliche höhere Schule
herzustellen. Angenommen also, daß die Schüler, wie es in Preußen durch¬
gängig der Fall ist, mit dem neunten Jahre in die höhere Schule eintreten,
so sollen sie erst im vierten Schuljahre, also mit zwölf Jahren, das Latein,
und im sechsten, also mit vierzehn Jahren, das Griechische beginnen, dafür
aber beide Sprachen in den obern Klassen in einer größern Stundenzahl und
mit größerer Energie als bisher betreiben. Dadurch soll Raum gewonnen
werden für das Französische und das Englische. Das Französische soll von der
untersten Klasse an in abnehmender Stundenzahl (acht in der untersten und
eine in der obersten) betrieben werden, der Unterricht im Englischen soll sich
in mäßiger Stundenzahl (vier und drei) auf drei Mittelklasse!? (Quarta, Unter-
und Obertertia) beschränken. Die übrigen Lehrfächer sollen in der Hauptsache
die Allsdehnung behalten, die sie jetzt haben. Es handelt sich also im wesent¬
lichen um eine Reform des Gymnasiums und auch hierbei nicht um eine Ver¬
minderung der Leistungen in den alten Sprachen, sondern nur um eine Zu¬
sammenschiebung des Unterrichtes darin auf die höher" Altersstufen, damit
auf den untern und mittlern Raum für die neuern Sprachen gewonnen werde.
Das Realgymnasium folgt dem reformirten Gymnasium in der Verschiebung
des Latein, bleibt aber im übrigen, wie es war. Von der lateinlosen höhern
Bürgerschule oder Realschule ist weiter nicht die Rede, und wie sie einen Platz
in diesem neuen "einheitlichen" Organismus des höhern Schulwesens finden
soll, ist nicht abzusehen. Wahrscheinlich wird angenommen, daß schon viel
gewonnen wäre, wenn die lateinlose höhere Schule mit ihren Unterklassen, also
zur Hälfte in der Richtung des Gymnasiums läge. Ebenso wenig ist erklärlich,
wie Gymnasium und Realgymnasium in dieser veränderten Gestalt nach Zurück¬
legung der Untersekunda, also mit der Erlangung des Freiwilligenzeugnisses,
eine auch nur annähernd abgerundete Bildung gewähren können. Drei Jahre
Latein und ein Jahr Griechisch können doch unmöglich zu einem gewissen Ab¬
schluß der Bildung führen, man müßte denn beide Fächer fakultativ machen.
Es bleibt eben alles beim Alten, und die Verschiebung des Lateinischen und
des Griechischen trägt nicht einmal den Bedürfnissen des Publikums Rechnung,
die der Verein selbst aufs schärfste betont.

Wenn demnach der Verein die Erwartungen täuscht, die er selbst erst
rege macht, so ist das allerdings seltsam, zeigt aber auch, auf welche Schwierig¬
keiten jeder Reformversuch in unserm vielfach zusammengesetzten, fast ver¬
wickelten Erziehungswesen stößt. Doch bleiben, trotz aller Täuschungen, zwei
feste Punkte in den Bestrebungen des Vereins: die Befreiung der Unterklassen
des Gymnasiums vom Latein, sowie der Mittelklassen vom Griechischen und


Der Verein für Schulreform

Wie glaubt nun der Verein dem praktischen Bedürfnis genügen zu können?
Er will den Anfang des Unterrichtes nu Lateinischen und Griechischen auf
eine höhere Altersstufe hinausschieben, um die sechsklassige Mittelschule zur
Vorschule des Gymnasiums zu machen und so eine einheitliche höhere Schule
herzustellen. Angenommen also, daß die Schüler, wie es in Preußen durch¬
gängig der Fall ist, mit dem neunten Jahre in die höhere Schule eintreten,
so sollen sie erst im vierten Schuljahre, also mit zwölf Jahren, das Latein,
und im sechsten, also mit vierzehn Jahren, das Griechische beginnen, dafür
aber beide Sprachen in den obern Klassen in einer größern Stundenzahl und
mit größerer Energie als bisher betreiben. Dadurch soll Raum gewonnen
werden für das Französische und das Englische. Das Französische soll von der
untersten Klasse an in abnehmender Stundenzahl (acht in der untersten und
eine in der obersten) betrieben werden, der Unterricht im Englischen soll sich
in mäßiger Stundenzahl (vier und drei) auf drei Mittelklasse!? (Quarta, Unter-
und Obertertia) beschränken. Die übrigen Lehrfächer sollen in der Hauptsache
die Allsdehnung behalten, die sie jetzt haben. Es handelt sich also im wesent¬
lichen um eine Reform des Gymnasiums und auch hierbei nicht um eine Ver¬
minderung der Leistungen in den alten Sprachen, sondern nur um eine Zu¬
sammenschiebung des Unterrichtes darin auf die höher» Altersstufen, damit
auf den untern und mittlern Raum für die neuern Sprachen gewonnen werde.
Das Realgymnasium folgt dem reformirten Gymnasium in der Verschiebung
des Latein, bleibt aber im übrigen, wie es war. Von der lateinlosen höhern
Bürgerschule oder Realschule ist weiter nicht die Rede, und wie sie einen Platz
in diesem neuen „einheitlichen" Organismus des höhern Schulwesens finden
soll, ist nicht abzusehen. Wahrscheinlich wird angenommen, daß schon viel
gewonnen wäre, wenn die lateinlose höhere Schule mit ihren Unterklassen, also
zur Hälfte in der Richtung des Gymnasiums läge. Ebenso wenig ist erklärlich,
wie Gymnasium und Realgymnasium in dieser veränderten Gestalt nach Zurück¬
legung der Untersekunda, also mit der Erlangung des Freiwilligenzeugnisses,
eine auch nur annähernd abgerundete Bildung gewähren können. Drei Jahre
Latein und ein Jahr Griechisch können doch unmöglich zu einem gewissen Ab¬
schluß der Bildung führen, man müßte denn beide Fächer fakultativ machen.
Es bleibt eben alles beim Alten, und die Verschiebung des Lateinischen und
des Griechischen trägt nicht einmal den Bedürfnissen des Publikums Rechnung,
die der Verein selbst aufs schärfste betont.

Wenn demnach der Verein die Erwartungen täuscht, die er selbst erst
rege macht, so ist das allerdings seltsam, zeigt aber auch, auf welche Schwierig¬
keiten jeder Reformversuch in unserm vielfach zusammengesetzten, fast ver¬
wickelten Erziehungswesen stößt. Doch bleiben, trotz aller Täuschungen, zwei
feste Punkte in den Bestrebungen des Vereins: die Befreiung der Unterklassen
des Gymnasiums vom Latein, sowie der Mittelklassen vom Griechischen und


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[0605] Der Verein für Schulreform Wie glaubt nun der Verein dem praktischen Bedürfnis genügen zu können? Er will den Anfang des Unterrichtes nu Lateinischen und Griechischen auf eine höhere Altersstufe hinausschieben, um die sechsklassige Mittelschule zur Vorschule des Gymnasiums zu machen und so eine einheitliche höhere Schule herzustellen. Angenommen also, daß die Schüler, wie es in Preußen durch¬ gängig der Fall ist, mit dem neunten Jahre in die höhere Schule eintreten, so sollen sie erst im vierten Schuljahre, also mit zwölf Jahren, das Latein, und im sechsten, also mit vierzehn Jahren, das Griechische beginnen, dafür aber beide Sprachen in den obern Klassen in einer größern Stundenzahl und mit größerer Energie als bisher betreiben. Dadurch soll Raum gewonnen werden für das Französische und das Englische. Das Französische soll von der untersten Klasse an in abnehmender Stundenzahl (acht in der untersten und eine in der obersten) betrieben werden, der Unterricht im Englischen soll sich in mäßiger Stundenzahl (vier und drei) auf drei Mittelklasse!? (Quarta, Unter- und Obertertia) beschränken. Die übrigen Lehrfächer sollen in der Hauptsache die Allsdehnung behalten, die sie jetzt haben. Es handelt sich also im wesent¬ lichen um eine Reform des Gymnasiums und auch hierbei nicht um eine Ver¬ minderung der Leistungen in den alten Sprachen, sondern nur um eine Zu¬ sammenschiebung des Unterrichtes darin auf die höher» Altersstufen, damit auf den untern und mittlern Raum für die neuern Sprachen gewonnen werde. Das Realgymnasium folgt dem reformirten Gymnasium in der Verschiebung des Latein, bleibt aber im übrigen, wie es war. Von der lateinlosen höhern Bürgerschule oder Realschule ist weiter nicht die Rede, und wie sie einen Platz in diesem neuen „einheitlichen" Organismus des höhern Schulwesens finden soll, ist nicht abzusehen. Wahrscheinlich wird angenommen, daß schon viel gewonnen wäre, wenn die lateinlose höhere Schule mit ihren Unterklassen, also zur Hälfte in der Richtung des Gymnasiums läge. Ebenso wenig ist erklärlich, wie Gymnasium und Realgymnasium in dieser veränderten Gestalt nach Zurück¬ legung der Untersekunda, also mit der Erlangung des Freiwilligenzeugnisses, eine auch nur annähernd abgerundete Bildung gewähren können. Drei Jahre Latein und ein Jahr Griechisch können doch unmöglich zu einem gewissen Ab¬ schluß der Bildung führen, man müßte denn beide Fächer fakultativ machen. Es bleibt eben alles beim Alten, und die Verschiebung des Lateinischen und des Griechischen trägt nicht einmal den Bedürfnissen des Publikums Rechnung, die der Verein selbst aufs schärfste betont. Wenn demnach der Verein die Erwartungen täuscht, die er selbst erst rege macht, so ist das allerdings seltsam, zeigt aber auch, auf welche Schwierig¬ keiten jeder Reformversuch in unserm vielfach zusammengesetzten, fast ver¬ wickelten Erziehungswesen stößt. Doch bleiben, trotz aller Täuschungen, zwei feste Punkte in den Bestrebungen des Vereins: die Befreiung der Unterklassen des Gymnasiums vom Latein, sowie der Mittelklassen vom Griechischen und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/605>, abgerufen am 23.07.2024.