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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der verein für Schulreform

Überbürdung führt, und anderseits in dem weit über das Bedürfnis hinaus¬
gehenden Andrang zu den gelehrten Berufen. Von dem gesunden Sinne der
Bevölkerung sei in diesem Falle eine Besserung nicht zu erwarten, "denn der
Einzelne fragt zuerst nach seinem persönlichen Wunsch und Vorteil," ebenso
wenig von einer Verkümmerung der Berechtigungen des Realgymnasiums,
"denn die Schuld und der Weg der Abwehr dagegen kann nicht wohl gesucht
werden in dem, was noch nicht ist, sondern zunächst und vor allem in
dem, was bisher gewesen ist." Thatsache sei, daß "etwa sieben Achtel
aller die Gymnasien besuchenden Schüler um eines Achtels (der Philo¬
logen, Theologen und etwa auch der Juristen) willen eine zu einseitige und
daher unzweckmäßige Schulbildung erhalten." Ehrgeiz aber und Rücksicht auf
äußere Vorteile treiben die Schüler an, gegen ihre Natur und Bestimmung in
einem Lehrgange auszuharren, der nur für eine Minderheit von Berufszweigen
passend ist. Dieser Übelstand wird noch dadurch verschärft, daß die verschiednen
Ministerien der allgemeinen Überschätzung der Gymncisialbilduug Folge leisten
und sie für Beamtenkreise fordern, die nicht einmal das Latein zur vollkommnen
Ausübung ihres Berufes brauchen.

Zuletzt wird die Stellung der Gemeinden zum höhern Schulwesen in
Betracht gezogen. Wenn eine Stadtgemeinde eine höhere Schule für ihre
männliche Jngend gründen will, so wird sie aus denselben Gründen, die den
einzelnen Vater bestimmen, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken, sich für
diese vollberechtigte Anstalt entscheiden, umso mehr, als doch die Bürger, die
ihren Söhnen eine höhere Laufbahn offen halten wollen, den leitenden Kreisen
angehören. Darum hat Preußen nur 55 lateinlose höhere Schulen (höhere
Bürgerschulen oder Realschulen ohne Latein), aber 480 Gymnasien und Real¬
gymnasien, und nahezu 300 Städte haben nur eine höhere Schule, Gym¬
nasium oder Realgymnasium. Die Errichtung höherer Bürgerschulen oder
Realschulen ohne Latein wird so lange auf die größten Schwierigkeiten stoßen,
als der Übergang von diesen Anstalten zu den Gymnasien nicht ermöglicht ist,
schon darum, weil die Eltern ihre Söhne so lange als möglich im Vaterhause
haben wollen und dies nur dann können, wenn sie ein Gymnasium am Orte
haben. Kein Wunder, wenn selbst der kleinste Marktflecken sein Gymnasium
haben will.

Alle diese Gründe sind, wenn man genauer zusieht, sekundäre, rein prak¬
tische, aus dem unmittelbaren Bedürfnis des Berufslebens abgeleitete, sie
rühren nicht im entferntesten an den Grundbau unsers Erziehungswesens, an
das Schulbankhocken, an die übermüßig ausgedehnte Schulzeit, an die alther¬
gebrachte historisch-grammatische Methode, an die Überlastung mit Lehrstoff,
an die Vernachlässigung der besondern Begabung und der körperlichen Ausbildung,
und doch reichen sie hin, um die tiefe Kluft zu erleuchten, die das wirkliche
Leben von der Schulbildung trennt.


Der verein für Schulreform

Überbürdung führt, und anderseits in dem weit über das Bedürfnis hinaus¬
gehenden Andrang zu den gelehrten Berufen. Von dem gesunden Sinne der
Bevölkerung sei in diesem Falle eine Besserung nicht zu erwarten, „denn der
Einzelne fragt zuerst nach seinem persönlichen Wunsch und Vorteil," ebenso
wenig von einer Verkümmerung der Berechtigungen des Realgymnasiums,
„denn die Schuld und der Weg der Abwehr dagegen kann nicht wohl gesucht
werden in dem, was noch nicht ist, sondern zunächst und vor allem in
dem, was bisher gewesen ist." Thatsache sei, daß „etwa sieben Achtel
aller die Gymnasien besuchenden Schüler um eines Achtels (der Philo¬
logen, Theologen und etwa auch der Juristen) willen eine zu einseitige und
daher unzweckmäßige Schulbildung erhalten." Ehrgeiz aber und Rücksicht auf
äußere Vorteile treiben die Schüler an, gegen ihre Natur und Bestimmung in
einem Lehrgange auszuharren, der nur für eine Minderheit von Berufszweigen
passend ist. Dieser Übelstand wird noch dadurch verschärft, daß die verschiednen
Ministerien der allgemeinen Überschätzung der Gymncisialbilduug Folge leisten
und sie für Beamtenkreise fordern, die nicht einmal das Latein zur vollkommnen
Ausübung ihres Berufes brauchen.

Zuletzt wird die Stellung der Gemeinden zum höhern Schulwesen in
Betracht gezogen. Wenn eine Stadtgemeinde eine höhere Schule für ihre
männliche Jngend gründen will, so wird sie aus denselben Gründen, die den
einzelnen Vater bestimmen, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken, sich für
diese vollberechtigte Anstalt entscheiden, umso mehr, als doch die Bürger, die
ihren Söhnen eine höhere Laufbahn offen halten wollen, den leitenden Kreisen
angehören. Darum hat Preußen nur 55 lateinlose höhere Schulen (höhere
Bürgerschulen oder Realschulen ohne Latein), aber 480 Gymnasien und Real¬
gymnasien, und nahezu 300 Städte haben nur eine höhere Schule, Gym¬
nasium oder Realgymnasium. Die Errichtung höherer Bürgerschulen oder
Realschulen ohne Latein wird so lange auf die größten Schwierigkeiten stoßen,
als der Übergang von diesen Anstalten zu den Gymnasien nicht ermöglicht ist,
schon darum, weil die Eltern ihre Söhne so lange als möglich im Vaterhause
haben wollen und dies nur dann können, wenn sie ein Gymnasium am Orte
haben. Kein Wunder, wenn selbst der kleinste Marktflecken sein Gymnasium
haben will.

Alle diese Gründe sind, wenn man genauer zusieht, sekundäre, rein prak¬
tische, aus dem unmittelbaren Bedürfnis des Berufslebens abgeleitete, sie
rühren nicht im entferntesten an den Grundbau unsers Erziehungswesens, an
das Schulbankhocken, an die übermüßig ausgedehnte Schulzeit, an die alther¬
gebrachte historisch-grammatische Methode, an die Überlastung mit Lehrstoff,
an die Vernachlässigung der besondern Begabung und der körperlichen Ausbildung,
und doch reichen sie hin, um die tiefe Kluft zu erleuchten, die das wirkliche
Leben von der Schulbildung trennt.


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[0604] Der verein für Schulreform Überbürdung führt, und anderseits in dem weit über das Bedürfnis hinaus¬ gehenden Andrang zu den gelehrten Berufen. Von dem gesunden Sinne der Bevölkerung sei in diesem Falle eine Besserung nicht zu erwarten, „denn der Einzelne fragt zuerst nach seinem persönlichen Wunsch und Vorteil," ebenso wenig von einer Verkümmerung der Berechtigungen des Realgymnasiums, „denn die Schuld und der Weg der Abwehr dagegen kann nicht wohl gesucht werden in dem, was noch nicht ist, sondern zunächst und vor allem in dem, was bisher gewesen ist." Thatsache sei, daß „etwa sieben Achtel aller die Gymnasien besuchenden Schüler um eines Achtels (der Philo¬ logen, Theologen und etwa auch der Juristen) willen eine zu einseitige und daher unzweckmäßige Schulbildung erhalten." Ehrgeiz aber und Rücksicht auf äußere Vorteile treiben die Schüler an, gegen ihre Natur und Bestimmung in einem Lehrgange auszuharren, der nur für eine Minderheit von Berufszweigen passend ist. Dieser Übelstand wird noch dadurch verschärft, daß die verschiednen Ministerien der allgemeinen Überschätzung der Gymncisialbilduug Folge leisten und sie für Beamtenkreise fordern, die nicht einmal das Latein zur vollkommnen Ausübung ihres Berufes brauchen. Zuletzt wird die Stellung der Gemeinden zum höhern Schulwesen in Betracht gezogen. Wenn eine Stadtgemeinde eine höhere Schule für ihre männliche Jngend gründen will, so wird sie aus denselben Gründen, die den einzelnen Vater bestimmen, seinen Sohn ins Gymnasium zu schicken, sich für diese vollberechtigte Anstalt entscheiden, umso mehr, als doch die Bürger, die ihren Söhnen eine höhere Laufbahn offen halten wollen, den leitenden Kreisen angehören. Darum hat Preußen nur 55 lateinlose höhere Schulen (höhere Bürgerschulen oder Realschulen ohne Latein), aber 480 Gymnasien und Real¬ gymnasien, und nahezu 300 Städte haben nur eine höhere Schule, Gym¬ nasium oder Realgymnasium. Die Errichtung höherer Bürgerschulen oder Realschulen ohne Latein wird so lange auf die größten Schwierigkeiten stoßen, als der Übergang von diesen Anstalten zu den Gymnasien nicht ermöglicht ist, schon darum, weil die Eltern ihre Söhne so lange als möglich im Vaterhause haben wollen und dies nur dann können, wenn sie ein Gymnasium am Orte haben. Kein Wunder, wenn selbst der kleinste Marktflecken sein Gymnasium haben will. Alle diese Gründe sind, wenn man genauer zusieht, sekundäre, rein prak¬ tische, aus dem unmittelbaren Bedürfnis des Berufslebens abgeleitete, sie rühren nicht im entferntesten an den Grundbau unsers Erziehungswesens, an das Schulbankhocken, an die übermüßig ausgedehnte Schulzeit, an die alther¬ gebrachte historisch-grammatische Methode, an die Überlastung mit Lehrstoff, an die Vernachlässigung der besondern Begabung und der körperlichen Ausbildung, und doch reichen sie hin, um die tiefe Kluft zu erleuchten, die das wirkliche Leben von der Schulbildung trennt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/604>, abgerufen am 23.07.2024.