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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Der verein fiir Schulreform

schule, um so das vielgestaltige Nebeneinander unsers höhern Schulwesens in
ein einheitliches Übereinander zu verwandeln. Der Gedanke ist verlockend, und
es ist wohl der Mühe wert, ihm näher zu treten.

In den Satzungen des Vereins für Schulreform (beschlossen in der "kon-
stituirenden" Versammlung am 4. April 1889) drückt § 1 das Ziel dieser Be¬
strebungen kurz und bündig so aus: "Der Verein für Schulreform bezweckt
mit Hilfe einer über das Reich verbreiteten Organisation durch Rede und
Schrift in deu gebildeten Kreisen des Volkes zunächst das Verständnis für die
Reform der höhern Schulen und die Notwendigkeit einer einheitlichen Mittel¬
schule zu fördern und alles zu thun, was zur Verwirklichung dieser Idee führen
könnte. Unter der einheitlichen Mittelschule ist eine sechsklassigc Schule mit
einem den Bedürfnissen der Gegenwart und dem praktischen Leben angepaßten
Lehrplan zu verstehen, welche die entsprechenden Klassen der Volksschule oder
eine dreiklassigc Vorschule zur Voraussetzung hat und zugleich die gemeinsame
Vorstufe für die obern Klaffen der jetzigen neunklassigen Schulen -- Gymnasium,
Realgymnasium, Oberrealschule -- darstellt."

In den Mitteilungen des Vereins, herausgegeben von Dr. Friedrich Lange
in Berlin (Ur. 2, vom 17. Oktober 1889) ist eine Eingabe abgedruckt, die der
Verein am 3. Oktober vorigen Jahres, mit 23 000 Unterschriften versehen, an
den preußischen Kultusminister, Herrn von Goßler, abgesandt hat. Darin sind
die Gründe angegeben, warum der Verein eine Änderung des Schulwesens in
seinem Sinne für notwendig hält. "Jeder Vater der gebildeten oder wohl¬
habenden Stände, lautet der erste Grund, wünscht für seinen Sohn eine Schule,
welche diesem die Möglichkeit freier Wahl unter den höhern Berufen nach
Maßgabe seiner Fähigkeiten bietet." Nach den äußern Bedingungen, den so¬
genannten Berechtigungen, gewähren nur die Gymnasien diese Möglichkeit.
Daher ist der Andrang zu den Gymnasien so groß! Die Eltern, außerstande,
sich im zehnten Lebensjahre ihrer Söhne ein Urteil über deren Neigungen und
Fähigkeiten zu bilden, glauben in solcher Verlegenheit ihre Pflicht am besten
zu erfüllen, wenn sie diese in die meistbegünstigten Schulen, in die Gymnasien
schicken.

Der zweite Grund nimmt die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen¬
dienste zum Ausgangspunkte. Die Erwerbung dieses wichtigen Rechtes mit
der Reife für Obersekunda teilt die Schulen, die darüber hinausgehen, geradezu
in zwei Teile, ohne daß der Unterrichtsplan auf diese Zweiteilung Rücksicht
nähme. Dennoch ist es Thatsache, daß mindestens drei Viertel aller Schüler
der höhern Lehranstalten aus Untersekunda abgehen, mithin eine ungenügende,
ja meist verfehlte Schulbildung erhalten.

Drittens wird auf die Gefahr hingewiesen, die einerseits in dem Bestreben
liegt, die auf das klassische Altertum zugeschnittene Gymnasialbildung mit dem
modernen Wissen in Einklang zu setzen, einem Bestreben, das notwendig zur


Der verein fiir Schulreform

schule, um so das vielgestaltige Nebeneinander unsers höhern Schulwesens in
ein einheitliches Übereinander zu verwandeln. Der Gedanke ist verlockend, und
es ist wohl der Mühe wert, ihm näher zu treten.

In den Satzungen des Vereins für Schulreform (beschlossen in der „kon-
stituirenden" Versammlung am 4. April 1889) drückt § 1 das Ziel dieser Be¬
strebungen kurz und bündig so aus: „Der Verein für Schulreform bezweckt
mit Hilfe einer über das Reich verbreiteten Organisation durch Rede und
Schrift in deu gebildeten Kreisen des Volkes zunächst das Verständnis für die
Reform der höhern Schulen und die Notwendigkeit einer einheitlichen Mittel¬
schule zu fördern und alles zu thun, was zur Verwirklichung dieser Idee führen
könnte. Unter der einheitlichen Mittelschule ist eine sechsklassigc Schule mit
einem den Bedürfnissen der Gegenwart und dem praktischen Leben angepaßten
Lehrplan zu verstehen, welche die entsprechenden Klassen der Volksschule oder
eine dreiklassigc Vorschule zur Voraussetzung hat und zugleich die gemeinsame
Vorstufe für die obern Klaffen der jetzigen neunklassigen Schulen — Gymnasium,
Realgymnasium, Oberrealschule — darstellt."

In den Mitteilungen des Vereins, herausgegeben von Dr. Friedrich Lange
in Berlin (Ur. 2, vom 17. Oktober 1889) ist eine Eingabe abgedruckt, die der
Verein am 3. Oktober vorigen Jahres, mit 23 000 Unterschriften versehen, an
den preußischen Kultusminister, Herrn von Goßler, abgesandt hat. Darin sind
die Gründe angegeben, warum der Verein eine Änderung des Schulwesens in
seinem Sinne für notwendig hält. „Jeder Vater der gebildeten oder wohl¬
habenden Stände, lautet der erste Grund, wünscht für seinen Sohn eine Schule,
welche diesem die Möglichkeit freier Wahl unter den höhern Berufen nach
Maßgabe seiner Fähigkeiten bietet." Nach den äußern Bedingungen, den so¬
genannten Berechtigungen, gewähren nur die Gymnasien diese Möglichkeit.
Daher ist der Andrang zu den Gymnasien so groß! Die Eltern, außerstande,
sich im zehnten Lebensjahre ihrer Söhne ein Urteil über deren Neigungen und
Fähigkeiten zu bilden, glauben in solcher Verlegenheit ihre Pflicht am besten
zu erfüllen, wenn sie diese in die meistbegünstigten Schulen, in die Gymnasien
schicken.

Der zweite Grund nimmt die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen¬
dienste zum Ausgangspunkte. Die Erwerbung dieses wichtigen Rechtes mit
der Reife für Obersekunda teilt die Schulen, die darüber hinausgehen, geradezu
in zwei Teile, ohne daß der Unterrichtsplan auf diese Zweiteilung Rücksicht
nähme. Dennoch ist es Thatsache, daß mindestens drei Viertel aller Schüler
der höhern Lehranstalten aus Untersekunda abgehen, mithin eine ungenügende,
ja meist verfehlte Schulbildung erhalten.

Drittens wird auf die Gefahr hingewiesen, die einerseits in dem Bestreben
liegt, die auf das klassische Altertum zugeschnittene Gymnasialbildung mit dem
modernen Wissen in Einklang zu setzen, einem Bestreben, das notwendig zur


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[0603] Der verein fiir Schulreform schule, um so das vielgestaltige Nebeneinander unsers höhern Schulwesens in ein einheitliches Übereinander zu verwandeln. Der Gedanke ist verlockend, und es ist wohl der Mühe wert, ihm näher zu treten. In den Satzungen des Vereins für Schulreform (beschlossen in der „kon- stituirenden" Versammlung am 4. April 1889) drückt § 1 das Ziel dieser Be¬ strebungen kurz und bündig so aus: „Der Verein für Schulreform bezweckt mit Hilfe einer über das Reich verbreiteten Organisation durch Rede und Schrift in deu gebildeten Kreisen des Volkes zunächst das Verständnis für die Reform der höhern Schulen und die Notwendigkeit einer einheitlichen Mittel¬ schule zu fördern und alles zu thun, was zur Verwirklichung dieser Idee führen könnte. Unter der einheitlichen Mittelschule ist eine sechsklassigc Schule mit einem den Bedürfnissen der Gegenwart und dem praktischen Leben angepaßten Lehrplan zu verstehen, welche die entsprechenden Klassen der Volksschule oder eine dreiklassigc Vorschule zur Voraussetzung hat und zugleich die gemeinsame Vorstufe für die obern Klaffen der jetzigen neunklassigen Schulen — Gymnasium, Realgymnasium, Oberrealschule — darstellt." In den Mitteilungen des Vereins, herausgegeben von Dr. Friedrich Lange in Berlin (Ur. 2, vom 17. Oktober 1889) ist eine Eingabe abgedruckt, die der Verein am 3. Oktober vorigen Jahres, mit 23 000 Unterschriften versehen, an den preußischen Kultusminister, Herrn von Goßler, abgesandt hat. Darin sind die Gründe angegeben, warum der Verein eine Änderung des Schulwesens in seinem Sinne für notwendig hält. „Jeder Vater der gebildeten oder wohl¬ habenden Stände, lautet der erste Grund, wünscht für seinen Sohn eine Schule, welche diesem die Möglichkeit freier Wahl unter den höhern Berufen nach Maßgabe seiner Fähigkeiten bietet." Nach den äußern Bedingungen, den so¬ genannten Berechtigungen, gewähren nur die Gymnasien diese Möglichkeit. Daher ist der Andrang zu den Gymnasien so groß! Die Eltern, außerstande, sich im zehnten Lebensjahre ihrer Söhne ein Urteil über deren Neigungen und Fähigkeiten zu bilden, glauben in solcher Verlegenheit ihre Pflicht am besten zu erfüllen, wenn sie diese in die meistbegünstigten Schulen, in die Gymnasien schicken. Der zweite Grund nimmt die Berechtigung zum Einjährig-Freiwilligen¬ dienste zum Ausgangspunkte. Die Erwerbung dieses wichtigen Rechtes mit der Reife für Obersekunda teilt die Schulen, die darüber hinausgehen, geradezu in zwei Teile, ohne daß der Unterrichtsplan auf diese Zweiteilung Rücksicht nähme. Dennoch ist es Thatsache, daß mindestens drei Viertel aller Schüler der höhern Lehranstalten aus Untersekunda abgehen, mithin eine ungenügende, ja meist verfehlte Schulbildung erhalten. Drittens wird auf die Gefahr hingewiesen, die einerseits in dem Bestreben liegt, die auf das klassische Altertum zugeschnittene Gymnasialbildung mit dem modernen Wissen in Einklang zu setzen, einem Bestreben, das notwendig zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/603>, abgerufen am 23.07.2024.