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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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wiener volksstncke

wehmütig der schönen Jugendzeit in dem verschwundenen Alt-Wien. In scharfem
Gegensatz dazu steht der moderne Emporkömmling von dunkler Vergangenheit,
seine träge, verschwenderische Frau, eine herzlose Tochter, denn die Jüngeren
aus kleinbürgerlichein Haus, die sich von diesem falschen Glanz blenden und
ans ihrem Kreise hinauslocken lassen. Zuletzt geht freilich alles gut aus, der
reiche Schwindler wird entlarvt, in dem Jüngern siegt der von den Eltern
ererbte tüchtige Sinn.

Die "Fran Svpherl von Naschmarkt" ist eine Schöpfung des gemüt¬
vollen Wiener Humoristen Chiavacei. Die Höckerinnen vom Naschmarkt sind
durch Schlagfertigkeit und Grobheit vou jeher berühmt gewesen. Frau Svpherl
besitzt uicht nur diese Eigenschaften in höchstem Grade, sie zeichnet sich auch
durch einen scharfen Blick für Menschen und Verhältnisse und dnrch ein leb¬
haftes Interesse für die kleinen Angelegenheiten ihrer Nachbarn wie für die
großen der Stadt und des Staates, ja ganz Europas aus. Ihrer Gesinnung
nach ist sie altösterreichisch und konservativ, daher allem Fremden und Neuen
gegenüber mißtrauisch. "Was glanbens denu -- sagt sie zu einer ihrer Kun¬
dinnen --, wie lang is denn her, daß i den Kaiser Wilhelm anerkenn? I hab aller-
wcil nur Köni von Preißen gsagt! Und mit. 'n Vismarck is das nämliche.
Für mi war er allerweil nur der Herr von Bismnrck. Na, weils aber her¬
nach so brav waren und in Frieden verhalten hab'n und nacher habn's gar
mit uns die Allians gschlvsfen, na so hob i mer denkt: erkennst er 's an! Mir
schadt's nix, und ihnen machts a Freud." Standesunterschiede, alten Brauch
und Sitte will Frau Svpherl erhaltet? Nüssen, aber gegen Vornehmthuerei
und Überhebung öffnet sie alle Schleusen ihrer furchtbaren Beredsamkeit.

Chiavacei hat das Wiener Publikum mit dieser Gestalt zuerst durch eine
Reihe kleiner Feuilletons in einer hiesigen Zeitung -- es erschien jahrelang
allwöchentlich eines -- vertraut gemacht, ehe er sie auf die Bühne brachte.
Damit hatte er bereits einen großen Vorteil, etwa wie ein Dichter, der all¬
bekannte Sageustoffe behandelt: jedermann wollte Frau Sopherl nun auch von
Angesicht sehen und reden hören. Auf die Handlung des Stückes kam anch
hier sehr wenig an, übrigens ist sie gar nicht schlecht erfunden. In dem
Gemüsekorb der Frau Svpherl liegt eines Tages ein kleines Kind: ein armes
verführtes Mädchen hat es, auf die Gutmütigkeit der Alten bauend, hinein¬
gelegt. Frau Sopherl nimmt das Kind zu sich, und ihrem Scharfsinn gelingt
es, nicht nnr die Mutter, sondern auch den Vater, den jungen Herrn von
Pflanz, zu ermitteln. Sie nimmt um, wie sie sich ausdrückt "die Geschichte
in die Hand": der Verführer wird von ihr moralisch gezwungen, sein Unrecht
gut zu machen, d. h. die Verlassene zu heiraten. Eine Reihe von prächtigen
Gestalten umgiebt Frau Sopherl: ihre Tochter, die "Sau," die in einem
kritischen Augenblick die Mutterschaft jenes Findelkindes mutig auf sich nimmt,
obwohl sie dadurch den Bruch mit ihrem Geliebten herbeiführt -- sie stellt


wiener volksstncke

wehmütig der schönen Jugendzeit in dem verschwundenen Alt-Wien. In scharfem
Gegensatz dazu steht der moderne Emporkömmling von dunkler Vergangenheit,
seine träge, verschwenderische Frau, eine herzlose Tochter, denn die Jüngeren
aus kleinbürgerlichein Haus, die sich von diesem falschen Glanz blenden und
ans ihrem Kreise hinauslocken lassen. Zuletzt geht freilich alles gut aus, der
reiche Schwindler wird entlarvt, in dem Jüngern siegt der von den Eltern
ererbte tüchtige Sinn.

Die „Fran Svpherl von Naschmarkt" ist eine Schöpfung des gemüt¬
vollen Wiener Humoristen Chiavacei. Die Höckerinnen vom Naschmarkt sind
durch Schlagfertigkeit und Grobheit vou jeher berühmt gewesen. Frau Svpherl
besitzt uicht nur diese Eigenschaften in höchstem Grade, sie zeichnet sich auch
durch einen scharfen Blick für Menschen und Verhältnisse und dnrch ein leb¬
haftes Interesse für die kleinen Angelegenheiten ihrer Nachbarn wie für die
großen der Stadt und des Staates, ja ganz Europas aus. Ihrer Gesinnung
nach ist sie altösterreichisch und konservativ, daher allem Fremden und Neuen
gegenüber mißtrauisch. „Was glanbens denu — sagt sie zu einer ihrer Kun¬
dinnen —, wie lang is denn her, daß i den Kaiser Wilhelm anerkenn? I hab aller-
wcil nur Köni von Preißen gsagt! Und mit. 'n Vismarck is das nämliche.
Für mi war er allerweil nur der Herr von Bismnrck. Na, weils aber her¬
nach so brav waren und in Frieden verhalten hab'n und nacher habn's gar
mit uns die Allians gschlvsfen, na so hob i mer denkt: erkennst er 's an! Mir
schadt's nix, und ihnen machts a Freud." Standesunterschiede, alten Brauch
und Sitte will Frau Svpherl erhaltet? Nüssen, aber gegen Vornehmthuerei
und Überhebung öffnet sie alle Schleusen ihrer furchtbaren Beredsamkeit.

Chiavacei hat das Wiener Publikum mit dieser Gestalt zuerst durch eine
Reihe kleiner Feuilletons in einer hiesigen Zeitung — es erschien jahrelang
allwöchentlich eines — vertraut gemacht, ehe er sie auf die Bühne brachte.
Damit hatte er bereits einen großen Vorteil, etwa wie ein Dichter, der all¬
bekannte Sageustoffe behandelt: jedermann wollte Frau Sopherl nun auch von
Angesicht sehen und reden hören. Auf die Handlung des Stückes kam anch
hier sehr wenig an, übrigens ist sie gar nicht schlecht erfunden. In dem
Gemüsekorb der Frau Svpherl liegt eines Tages ein kleines Kind: ein armes
verführtes Mädchen hat es, auf die Gutmütigkeit der Alten bauend, hinein¬
gelegt. Frau Sopherl nimmt das Kind zu sich, und ihrem Scharfsinn gelingt
es, nicht nnr die Mutter, sondern auch den Vater, den jungen Herrn von
Pflanz, zu ermitteln. Sie nimmt um, wie sie sich ausdrückt „die Geschichte
in die Hand": der Verführer wird von ihr moralisch gezwungen, sein Unrecht
gut zu machen, d. h. die Verlassene zu heiraten. Eine Reihe von prächtigen
Gestalten umgiebt Frau Sopherl: ihre Tochter, die „Sau," die in einem
kritischen Augenblick die Mutterschaft jenes Findelkindes mutig auf sich nimmt,
obwohl sie dadurch den Bruch mit ihrem Geliebten herbeiführt — sie stellt


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[0573] wiener volksstncke wehmütig der schönen Jugendzeit in dem verschwundenen Alt-Wien. In scharfem Gegensatz dazu steht der moderne Emporkömmling von dunkler Vergangenheit, seine träge, verschwenderische Frau, eine herzlose Tochter, denn die Jüngeren aus kleinbürgerlichein Haus, die sich von diesem falschen Glanz blenden und ans ihrem Kreise hinauslocken lassen. Zuletzt geht freilich alles gut aus, der reiche Schwindler wird entlarvt, in dem Jüngern siegt der von den Eltern ererbte tüchtige Sinn. Die „Fran Svpherl von Naschmarkt" ist eine Schöpfung des gemüt¬ vollen Wiener Humoristen Chiavacei. Die Höckerinnen vom Naschmarkt sind durch Schlagfertigkeit und Grobheit vou jeher berühmt gewesen. Frau Svpherl besitzt uicht nur diese Eigenschaften in höchstem Grade, sie zeichnet sich auch durch einen scharfen Blick für Menschen und Verhältnisse und dnrch ein leb¬ haftes Interesse für die kleinen Angelegenheiten ihrer Nachbarn wie für die großen der Stadt und des Staates, ja ganz Europas aus. Ihrer Gesinnung nach ist sie altösterreichisch und konservativ, daher allem Fremden und Neuen gegenüber mißtrauisch. „Was glanbens denu — sagt sie zu einer ihrer Kun¬ dinnen —, wie lang is denn her, daß i den Kaiser Wilhelm anerkenn? I hab aller- wcil nur Köni von Preißen gsagt! Und mit. 'n Vismarck is das nämliche. Für mi war er allerweil nur der Herr von Bismnrck. Na, weils aber her¬ nach so brav waren und in Frieden verhalten hab'n und nacher habn's gar mit uns die Allians gschlvsfen, na so hob i mer denkt: erkennst er 's an! Mir schadt's nix, und ihnen machts a Freud." Standesunterschiede, alten Brauch und Sitte will Frau Svpherl erhaltet? Nüssen, aber gegen Vornehmthuerei und Überhebung öffnet sie alle Schleusen ihrer furchtbaren Beredsamkeit. Chiavacei hat das Wiener Publikum mit dieser Gestalt zuerst durch eine Reihe kleiner Feuilletons in einer hiesigen Zeitung — es erschien jahrelang allwöchentlich eines — vertraut gemacht, ehe er sie auf die Bühne brachte. Damit hatte er bereits einen großen Vorteil, etwa wie ein Dichter, der all¬ bekannte Sageustoffe behandelt: jedermann wollte Frau Sopherl nun auch von Angesicht sehen und reden hören. Auf die Handlung des Stückes kam anch hier sehr wenig an, übrigens ist sie gar nicht schlecht erfunden. In dem Gemüsekorb der Frau Svpherl liegt eines Tages ein kleines Kind: ein armes verführtes Mädchen hat es, auf die Gutmütigkeit der Alten bauend, hinein¬ gelegt. Frau Sopherl nimmt das Kind zu sich, und ihrem Scharfsinn gelingt es, nicht nnr die Mutter, sondern auch den Vater, den jungen Herrn von Pflanz, zu ermitteln. Sie nimmt um, wie sie sich ausdrückt „die Geschichte in die Hand": der Verführer wird von ihr moralisch gezwungen, sein Unrecht gut zu machen, d. h. die Verlassene zu heiraten. Eine Reihe von prächtigen Gestalten umgiebt Frau Sopherl: ihre Tochter, die „Sau," die in einem kritischen Augenblick die Mutterschaft jenes Findelkindes mutig auf sich nimmt, obwohl sie dadurch den Bruch mit ihrem Geliebten herbeiführt — sie stellt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/573>, abgerufen am 25.08.2024.