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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nach den Reichstagswahlen

geworden. Der hat aber "lehr zu thun, als sich darum zu kümmern, daß es
seit ungefähr siebzig Jahren so etwas wie Sozialwissenschaft giebt, daß die
Massenarinnt Gegenstand der Verantwortung des Staates sein kann. Er hält
die Welt mit einer Anzahl politischer Freiheiten für erlöst und sieht nicht,
daß diese doch mir für den Reichen einen wirklichen Wert haben. Wirtschaftlich
will er das Walten des Stärkern vlirasv, und für diesen Stärkern
verlangt er den Schutz des Staates, damit er den Schwachen nach Belieben
unterdrücken könne, denn das Eigentum, also das Kennzeichen des wirtschaftlich
Stärkern -- ja Bauer, das ist ganz was andres! -- das will er vom Staate
geschützt wissen. Jede Fürsorge des Staates für deu wirtschaftlich Schwacher"
widerspricht aber seinem innersten Lebensgrundsatz. Wirtschaftlich würde der
Staat des Deutschfreisinns der Staat der Irokesen sein.

Wenn mir auf der Folterbank die Wahl zwischen dem deulschfreisinnigen
und dem sozialdemokratischen Unsinn aufgenötigt würde, so würde ich mich
gewiß für deu letztern erklären, denn hinter diesem steckt wenigstens etwas, was
unser höchstes Interesse beansprucht, nämlich die Armut des Volkes, hinter
dem deutschfreisiuuigen Unsinn steckt aber weiter nichts als der Geldsack, diese
Brutalität des neunzehnten Jahrhunderts. Und der Spaß dabei ist, daß die
meisten Bekenner, insbesondre die kleinern Blechschmiede im freisinnigen Fabrik-
vetrieb, gar keine Ahnung davon haben, was das für Fäden sind und von
wem sie gezogen werden, an denen sie als Marionetten zappeln. Die meisten
faseln und erhitzen sich aus einem unklaren niemals überdachten Freiheitsbegriff
heraus, sie sind schlechte Musikanten, aber gewöhnlich ganz gute Meuscheu.
Das kann ich bezeugen aus der Zeit, wo ich jung an Jahren, unreif an Wissen
und Erfahrung, in Chemnitz mit dein Freisinn -- das Ding wurde damals
Fortschritt genannt -- die Schafe hütete. Der jüngere Nachwuchs unterscheidet
sich unvorteilhaft von den Vätern nnr dadurch, daß er in dem Grade, worin
er keine eignen Ideen hat und die des Gegners nicht begreift und uicht zu
Widerlegen versteht, sich mit seinen Angrissen auf die Person wirft, was jeder
erfahren haben wird, der jemals einem solchen Staatsmann im Wahlkampfe
gegenübergestanden hat. Dieser Freisinn mit seinen wenigen Mitgliedern und
hinein wirtschaftlichen Anhang, dem Freihandel um jeden Preis, stimmte natürlich
Wider das Gesetz.

Schlimmer noch in deu Beweggründen war das Benehmen des größten
Teiles des Zentrums unter der Führung des Herrn Windthorst. Hier zeigte
sichs, daß diese Herren nicht, wie sie behaupte", die Vertreter der katholischen
Religion sind -- denn diese schreibt jn dem Staate vor allem Hilfe für die
Notleidenden vor --, sondern die Vertreter der menschlichen Selbst- und Herrsch¬
sucht, die sich innerhalb der katholischen Religion angesiedelt hat. Ihre Redner
sprachen es ungenirt aus, daß die Thränen nicht getrocknet werden dürfen,
um der Privatwohlthätigkeit den Stoff nicht zu entziehen. Sie forderten also


Nach den Reichstagswahlen

geworden. Der hat aber »lehr zu thun, als sich darum zu kümmern, daß es
seit ungefähr siebzig Jahren so etwas wie Sozialwissenschaft giebt, daß die
Massenarinnt Gegenstand der Verantwortung des Staates sein kann. Er hält
die Welt mit einer Anzahl politischer Freiheiten für erlöst und sieht nicht,
daß diese doch mir für den Reichen einen wirklichen Wert haben. Wirtschaftlich
will er das Walten des Stärkern vlirasv, und für diesen Stärkern
verlangt er den Schutz des Staates, damit er den Schwachen nach Belieben
unterdrücken könne, denn das Eigentum, also das Kennzeichen des wirtschaftlich
Stärkern — ja Bauer, das ist ganz was andres! — das will er vom Staate
geschützt wissen. Jede Fürsorge des Staates für deu wirtschaftlich Schwacher»
widerspricht aber seinem innersten Lebensgrundsatz. Wirtschaftlich würde der
Staat des Deutschfreisinns der Staat der Irokesen sein.

Wenn mir auf der Folterbank die Wahl zwischen dem deulschfreisinnigen
und dem sozialdemokratischen Unsinn aufgenötigt würde, so würde ich mich
gewiß für deu letztern erklären, denn hinter diesem steckt wenigstens etwas, was
unser höchstes Interesse beansprucht, nämlich die Armut des Volkes, hinter
dem deutschfreisiuuigen Unsinn steckt aber weiter nichts als der Geldsack, diese
Brutalität des neunzehnten Jahrhunderts. Und der Spaß dabei ist, daß die
meisten Bekenner, insbesondre die kleinern Blechschmiede im freisinnigen Fabrik-
vetrieb, gar keine Ahnung davon haben, was das für Fäden sind und von
wem sie gezogen werden, an denen sie als Marionetten zappeln. Die meisten
faseln und erhitzen sich aus einem unklaren niemals überdachten Freiheitsbegriff
heraus, sie sind schlechte Musikanten, aber gewöhnlich ganz gute Meuscheu.
Das kann ich bezeugen aus der Zeit, wo ich jung an Jahren, unreif an Wissen
und Erfahrung, in Chemnitz mit dein Freisinn — das Ding wurde damals
Fortschritt genannt — die Schafe hütete. Der jüngere Nachwuchs unterscheidet
sich unvorteilhaft von den Vätern nnr dadurch, daß er in dem Grade, worin
er keine eignen Ideen hat und die des Gegners nicht begreift und uicht zu
Widerlegen versteht, sich mit seinen Angrissen auf die Person wirft, was jeder
erfahren haben wird, der jemals einem solchen Staatsmann im Wahlkampfe
gegenübergestanden hat. Dieser Freisinn mit seinen wenigen Mitgliedern und
hinein wirtschaftlichen Anhang, dem Freihandel um jeden Preis, stimmte natürlich
Wider das Gesetz.

Schlimmer noch in deu Beweggründen war das Benehmen des größten
Teiles des Zentrums unter der Führung des Herrn Windthorst. Hier zeigte
sichs, daß diese Herren nicht, wie sie behaupte», die Vertreter der katholischen
Religion sind — denn diese schreibt jn dem Staate vor allem Hilfe für die
Notleidenden vor —, sondern die Vertreter der menschlichen Selbst- und Herrsch¬
sucht, die sich innerhalb der katholischen Religion angesiedelt hat. Ihre Redner
sprachen es ungenirt aus, daß die Thränen nicht getrocknet werden dürfen,
um der Privatwohlthätigkeit den Stoff nicht zu entziehen. Sie forderten also


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/551>, abgerufen am 23.07.2024.