Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Nach den Reichstagswahlen

die Not als Acker für ihre Kirche. Die Kirche war ihnen nicht für die Not¬
leidenden, sondern umgekehrt die Notleidenden waren ihnen für ihre Kirche
da. Im Interesse der Kirche wollen sie aber auch den Staat nicht zu wirksam
werden lassen. Wider jede Stärkung der zivilisatorischer Staatsgewalt finden
wir Herrn Windthorst auf dem Platze, damit das Kliqueumeseu, worin er und
sein Anhang neben und Wider den Staat schmarotzt, lustig weiter gedeihen könne.

Aber auch unter deu Konservativen fanden sich, und zwar gerade unter
den reichen Großgrundbesitzern, Gegner genug, die freilich mit aller Redekunst
niemand darüber zu täuschen wuszteu, daß ihr Widerstand die Folge des
Widerwillens gegen die auch dem Großgrundbesitz angesonnenen Lasten war.

Die allerhäßlichste Erscheinung war jedoch die Ablehnung der Vorlage
bei deu elf aus den Taschen der Arbeiter bezahlten gewerbmäßigen sozial-
demokratischen Agitatoren! Sie bewiesen damit jedem Unbefangenen, daß ihnen
die Aufreizung der Massen ein Gewerbe wie jedes andre Gewerbe ist; teils
leben sie gänzlich davon, teils stillen sie damit wenigstens ihre Sucht nach
öffentlicher Geltung. Wenn es ihnen wirklich um die Notleidenden zu thun
war und nicht um ihr Gewerbe, warum nahmen sie nicht wenigstens die 200
bis 250 Millionen Mark im Jahre, die sie jetzt erhalten konnten? Wer hinderte
sie denn, alles daran zu setzen, daß die Zuwendung alsbald erhöht wurde? Aber
ihr Gewerbe braucht nicht den denkenden, sondern den hungernden Arbeiter,
darum sollte die Not konservirt werden!

Und hier komme ich nun zum Doktor Eisenbart, zur Sozialdemokratie
überhaupt.

Die richtige Behandlung der sozialen Frage setzt die richtige Erkenntnis
der Natur und Aufgabe einerseits des Staates und anderseits des einzelnen
Menschen voraus.

Der Staat ist zunächst der Inbegriff aller seiner einzelnen Angehörigen,
aber nur ihrer Macht, selbstverständlich nicht der Art, wie diese Macht im
Einzelnen erscheint. Wenn sich hundert Menschen auf einen Haufen stellen,
werden sie nicht hundertmal klüger oder sittlicher, wohl aber hundertmal
mächtiger als der Einzelne. In dem Inbegriff dieser Macht geht die Macht
des einzelnen Menschen restlos unter. Denn das ist das Wesen der Macht,
daß die kleinere in der größer" von selbst erlischt, wie der Zoll in der Elle,
das Pfund im Zentner.

Das Einzelwesen ist das Ding, wodurch Macht in gewisser Art oder Be¬
schaffenheit erscheint. In der Seele des einzelnen Menschen erscheint sie als
die Beschaffenheit Liebe, Haß, Begierde und Denken. Was der Mensch hiervon
hat, das ist vom Staate ganz unabhängig, das kann ihm der Staat weder
nehmen noch geben, das bezieht er lediglich von der Natur, oder vielmehr das
ist die Natur selbst. Am einzelnen Menschen müssen also sorgfältig zwei Seiten
unterschieden werden. Nur als Macht, abgezogen von aller Eigenschaft betrachtet,


Nach den Reichstagswahlen

die Not als Acker für ihre Kirche. Die Kirche war ihnen nicht für die Not¬
leidenden, sondern umgekehrt die Notleidenden waren ihnen für ihre Kirche
da. Im Interesse der Kirche wollen sie aber auch den Staat nicht zu wirksam
werden lassen. Wider jede Stärkung der zivilisatorischer Staatsgewalt finden
wir Herrn Windthorst auf dem Platze, damit das Kliqueumeseu, worin er und
sein Anhang neben und Wider den Staat schmarotzt, lustig weiter gedeihen könne.

Aber auch unter deu Konservativen fanden sich, und zwar gerade unter
den reichen Großgrundbesitzern, Gegner genug, die freilich mit aller Redekunst
niemand darüber zu täuschen wuszteu, daß ihr Widerstand die Folge des
Widerwillens gegen die auch dem Großgrundbesitz angesonnenen Lasten war.

Die allerhäßlichste Erscheinung war jedoch die Ablehnung der Vorlage
bei deu elf aus den Taschen der Arbeiter bezahlten gewerbmäßigen sozial-
demokratischen Agitatoren! Sie bewiesen damit jedem Unbefangenen, daß ihnen
die Aufreizung der Massen ein Gewerbe wie jedes andre Gewerbe ist; teils
leben sie gänzlich davon, teils stillen sie damit wenigstens ihre Sucht nach
öffentlicher Geltung. Wenn es ihnen wirklich um die Notleidenden zu thun
war und nicht um ihr Gewerbe, warum nahmen sie nicht wenigstens die 200
bis 250 Millionen Mark im Jahre, die sie jetzt erhalten konnten? Wer hinderte
sie denn, alles daran zu setzen, daß die Zuwendung alsbald erhöht wurde? Aber
ihr Gewerbe braucht nicht den denkenden, sondern den hungernden Arbeiter,
darum sollte die Not konservirt werden!

Und hier komme ich nun zum Doktor Eisenbart, zur Sozialdemokratie
überhaupt.

Die richtige Behandlung der sozialen Frage setzt die richtige Erkenntnis
der Natur und Aufgabe einerseits des Staates und anderseits des einzelnen
Menschen voraus.

Der Staat ist zunächst der Inbegriff aller seiner einzelnen Angehörigen,
aber nur ihrer Macht, selbstverständlich nicht der Art, wie diese Macht im
Einzelnen erscheint. Wenn sich hundert Menschen auf einen Haufen stellen,
werden sie nicht hundertmal klüger oder sittlicher, wohl aber hundertmal
mächtiger als der Einzelne. In dem Inbegriff dieser Macht geht die Macht
des einzelnen Menschen restlos unter. Denn das ist das Wesen der Macht,
daß die kleinere in der größer» von selbst erlischt, wie der Zoll in der Elle,
das Pfund im Zentner.

Das Einzelwesen ist das Ding, wodurch Macht in gewisser Art oder Be¬
schaffenheit erscheint. In der Seele des einzelnen Menschen erscheint sie als
die Beschaffenheit Liebe, Haß, Begierde und Denken. Was der Mensch hiervon
hat, das ist vom Staate ganz unabhängig, das kann ihm der Staat weder
nehmen noch geben, das bezieht er lediglich von der Natur, oder vielmehr das
ist die Natur selbst. Am einzelnen Menschen müssen also sorgfältig zwei Seiten
unterschieden werden. Nur als Macht, abgezogen von aller Eigenschaft betrachtet,


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0552" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/207197"/>
          <fw type="header" place="top"> Nach den Reichstagswahlen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1569" prev="#ID_1568"> die Not als Acker für ihre Kirche. Die Kirche war ihnen nicht für die Not¬<lb/>
leidenden, sondern umgekehrt die Notleidenden waren ihnen für ihre Kirche<lb/>
da. Im Interesse der Kirche wollen sie aber auch den Staat nicht zu wirksam<lb/>
werden lassen. Wider jede Stärkung der zivilisatorischer Staatsgewalt finden<lb/>
wir Herrn Windthorst auf dem Platze, damit das Kliqueumeseu, worin er und<lb/>
sein Anhang neben und Wider den Staat schmarotzt, lustig weiter gedeihen könne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1570"> Aber auch unter deu Konservativen fanden sich, und zwar gerade unter<lb/>
den reichen Großgrundbesitzern, Gegner genug, die freilich mit aller Redekunst<lb/>
niemand darüber zu täuschen wuszteu, daß ihr Widerstand die Folge des<lb/>
Widerwillens gegen die auch dem Großgrundbesitz angesonnenen Lasten war.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1571"> Die allerhäßlichste Erscheinung war jedoch die Ablehnung der Vorlage<lb/>
bei deu elf aus den Taschen der Arbeiter bezahlten gewerbmäßigen sozial-<lb/>
demokratischen Agitatoren! Sie bewiesen damit jedem Unbefangenen, daß ihnen<lb/>
die Aufreizung der Massen ein Gewerbe wie jedes andre Gewerbe ist; teils<lb/>
leben sie gänzlich davon, teils stillen sie damit wenigstens ihre Sucht nach<lb/>
öffentlicher Geltung. Wenn es ihnen wirklich um die Notleidenden zu thun<lb/>
war und nicht um ihr Gewerbe, warum nahmen sie nicht wenigstens die 200<lb/>
bis 250 Millionen Mark im Jahre, die sie jetzt erhalten konnten? Wer hinderte<lb/>
sie denn, alles daran zu setzen, daß die Zuwendung alsbald erhöht wurde? Aber<lb/>
ihr Gewerbe braucht nicht den denkenden, sondern den hungernden Arbeiter,<lb/>
darum sollte die Not konservirt werden!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1572"> Und hier komme ich nun zum Doktor Eisenbart, zur Sozialdemokratie<lb/>
überhaupt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1573"> Die richtige Behandlung der sozialen Frage setzt die richtige Erkenntnis<lb/>
der Natur und Aufgabe einerseits des Staates und anderseits des einzelnen<lb/>
Menschen voraus.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1574"> Der Staat ist zunächst der Inbegriff aller seiner einzelnen Angehörigen,<lb/>
aber nur ihrer Macht, selbstverständlich nicht der Art, wie diese Macht im<lb/>
Einzelnen erscheint. Wenn sich hundert Menschen auf einen Haufen stellen,<lb/>
werden sie nicht hundertmal klüger oder sittlicher, wohl aber hundertmal<lb/>
mächtiger als der Einzelne. In dem Inbegriff dieser Macht geht die Macht<lb/>
des einzelnen Menschen restlos unter. Denn das ist das Wesen der Macht,<lb/>
daß die kleinere in der größer» von selbst erlischt, wie der Zoll in der Elle,<lb/>
das Pfund im Zentner.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1575" next="#ID_1576"> Das Einzelwesen ist das Ding, wodurch Macht in gewisser Art oder Be¬<lb/>
schaffenheit erscheint. In der Seele des einzelnen Menschen erscheint sie als<lb/>
die Beschaffenheit Liebe, Haß, Begierde und Denken. Was der Mensch hiervon<lb/>
hat, das ist vom Staate ganz unabhängig, das kann ihm der Staat weder<lb/>
nehmen noch geben, das bezieht er lediglich von der Natur, oder vielmehr das<lb/>
ist die Natur selbst. Am einzelnen Menschen müssen also sorgfältig zwei Seiten<lb/>
unterschieden werden. Nur als Macht, abgezogen von aller Eigenschaft betrachtet,</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0552] Nach den Reichstagswahlen die Not als Acker für ihre Kirche. Die Kirche war ihnen nicht für die Not¬ leidenden, sondern umgekehrt die Notleidenden waren ihnen für ihre Kirche da. Im Interesse der Kirche wollen sie aber auch den Staat nicht zu wirksam werden lassen. Wider jede Stärkung der zivilisatorischer Staatsgewalt finden wir Herrn Windthorst auf dem Platze, damit das Kliqueumeseu, worin er und sein Anhang neben und Wider den Staat schmarotzt, lustig weiter gedeihen könne. Aber auch unter deu Konservativen fanden sich, und zwar gerade unter den reichen Großgrundbesitzern, Gegner genug, die freilich mit aller Redekunst niemand darüber zu täuschen wuszteu, daß ihr Widerstand die Folge des Widerwillens gegen die auch dem Großgrundbesitz angesonnenen Lasten war. Die allerhäßlichste Erscheinung war jedoch die Ablehnung der Vorlage bei deu elf aus den Taschen der Arbeiter bezahlten gewerbmäßigen sozial- demokratischen Agitatoren! Sie bewiesen damit jedem Unbefangenen, daß ihnen die Aufreizung der Massen ein Gewerbe wie jedes andre Gewerbe ist; teils leben sie gänzlich davon, teils stillen sie damit wenigstens ihre Sucht nach öffentlicher Geltung. Wenn es ihnen wirklich um die Notleidenden zu thun war und nicht um ihr Gewerbe, warum nahmen sie nicht wenigstens die 200 bis 250 Millionen Mark im Jahre, die sie jetzt erhalten konnten? Wer hinderte sie denn, alles daran zu setzen, daß die Zuwendung alsbald erhöht wurde? Aber ihr Gewerbe braucht nicht den denkenden, sondern den hungernden Arbeiter, darum sollte die Not konservirt werden! Und hier komme ich nun zum Doktor Eisenbart, zur Sozialdemokratie überhaupt. Die richtige Behandlung der sozialen Frage setzt die richtige Erkenntnis der Natur und Aufgabe einerseits des Staates und anderseits des einzelnen Menschen voraus. Der Staat ist zunächst der Inbegriff aller seiner einzelnen Angehörigen, aber nur ihrer Macht, selbstverständlich nicht der Art, wie diese Macht im Einzelnen erscheint. Wenn sich hundert Menschen auf einen Haufen stellen, werden sie nicht hundertmal klüger oder sittlicher, wohl aber hundertmal mächtiger als der Einzelne. In dem Inbegriff dieser Macht geht die Macht des einzelnen Menschen restlos unter. Denn das ist das Wesen der Macht, daß die kleinere in der größer» von selbst erlischt, wie der Zoll in der Elle, das Pfund im Zentner. Das Einzelwesen ist das Ding, wodurch Macht in gewisser Art oder Be¬ schaffenheit erscheint. In der Seele des einzelnen Menschen erscheint sie als die Beschaffenheit Liebe, Haß, Begierde und Denken. Was der Mensch hiervon hat, das ist vom Staate ganz unabhängig, das kann ihm der Staat weder nehmen noch geben, das bezieht er lediglich von der Natur, oder vielmehr das ist die Natur selbst. Am einzelnen Menschen müssen also sorgfältig zwei Seiten unterschieden werden. Nur als Macht, abgezogen von aller Eigenschaft betrachtet,

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/552
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/552>, abgerufen am 23.07.2024.