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Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr.

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Nach den Reichstcigswahlen

um so Viel billiger verkaufen, und mithin stand die Gesetzgebung vor der
Zwangswahl, die deutsche Landwirtschaft entweder zu Grunde gehen zu lassen
oder durch Zölle zu schützen. Da nun der Untergang der deutschen Land¬
wirtschaft den Untergang von 25 Millionen Konsumenten für die Industrie
bedeutete, der einzigen sichern Konsumenten, die die Industrie überhaupt hat,
so konnte auch vom Standpunkte der Industrie aus der vernünftige Gesetzgeber
nichts andres thun, als Zölle auflegen.

Das Schicksal der Lohnarbeit an sich aber wird von diesen Zöllen nicht
nur nicht geschädigt, sondern gar nicht berührt. Denn wie wir aus dem
früher erwähnten ehernen Lohngesetze von Rieardv wissen, das, wie gesagt,
der Ausgangspunkt und die Stütze der gesamten gegenwärtigen sozialen Be¬
wegung ist, deckt der Lohn im Durchschnitt immer nnr den landesüblichen
notdürftigen Lebensunterhalt, sei dieser nun hoch, wie z. B. in großen Städten,
oder niedrig, wie z. B. in entlegenen Dörfern. Steigt der Durchschnitt dieses
Unterhaltes, so steigt der Durchschnitt des Lohnes, fällt er, so fällt auch
dieser. Es gehört deshalb zu deu nichtswürdigen Pfiffen des Gewerbes der
sozialdemokratischen Agitatoren, wenn sie im geraden Gegensatze zu ihren eignen
Grundlehren die Arbeiter jetzt aufzureizen suchen mit dem Geschrei, Zölle und
indirekte Steuern gingen auf ihre Kosten.

Wenn ^ durchaus nicht gegen die Zeit vor Erlaß der Getreidezölle,
Wohl aber gegenüber dem niedrigsten Stande, den sie vor zwei Jahren und
ziemlich im ganzen Jahrhundert einnahmen -- heute die Getreidepreise etwas
höher siud, find es nicht auch die Löhne? Sind diese nicht in noch höherm
Grade gestiegen? Welche andre Ursache für den allgemeinen wirtschaftlichen
Aufschwung einschließlich der Lohnsteigerung in Deutschland giebt es denn, als
""sie Schutzzollpolitik?

Ich spreche vom Durchschnitt. Daß der allgemeinste und beste Geschäfts¬
gang stets örtliche Ausnahmen ausweist, weiß jeder. Ich beklage einige vber-
^rzgebirgische Distrikte, die für Brot mehr zahlen sollen, ohne schon ein dem
wirtschaftlichen Aufschwünge teilzunehmen; aber gerade für sie würde die Auf¬
hebung der Zölle das größte Unglück sein. Sie würden das Brot nicht viel
billiger erhalten, aber infolge der dann eintretenden allgemeinen wirtschaftlichen
Krisis einem Lvhndrucke verfallen, wie er in unsrer Zeit noch nicht erlebt
worden ist.

So viel über den Sozialismus, wie er uns aus der Politik der Regie¬
rung entgegentritt. Aus den Parteien weht freilich ein ganz andrer Geist, und
den will ich jetzt nachweisen.

Die Bestrebungen der Parteien gehen -- ganz abgesehen von den Polen,
Dänen, Elsäsfern und Welsen, die das Reich überhaupt nicht wollen -- durch¬
aus nicht dahin, die Partei, also das Sonderinteresse, zur Dienerin des Staates,
pudern umgekehrt dahin, den Staat zum Diener der Partei, des Sonder-


Nach den Reichstcigswahlen

um so Viel billiger verkaufen, und mithin stand die Gesetzgebung vor der
Zwangswahl, die deutsche Landwirtschaft entweder zu Grunde gehen zu lassen
oder durch Zölle zu schützen. Da nun der Untergang der deutschen Land¬
wirtschaft den Untergang von 25 Millionen Konsumenten für die Industrie
bedeutete, der einzigen sichern Konsumenten, die die Industrie überhaupt hat,
so konnte auch vom Standpunkte der Industrie aus der vernünftige Gesetzgeber
nichts andres thun, als Zölle auflegen.

Das Schicksal der Lohnarbeit an sich aber wird von diesen Zöllen nicht
nur nicht geschädigt, sondern gar nicht berührt. Denn wie wir aus dem
früher erwähnten ehernen Lohngesetze von Rieardv wissen, das, wie gesagt,
der Ausgangspunkt und die Stütze der gesamten gegenwärtigen sozialen Be¬
wegung ist, deckt der Lohn im Durchschnitt immer nnr den landesüblichen
notdürftigen Lebensunterhalt, sei dieser nun hoch, wie z. B. in großen Städten,
oder niedrig, wie z. B. in entlegenen Dörfern. Steigt der Durchschnitt dieses
Unterhaltes, so steigt der Durchschnitt des Lohnes, fällt er, so fällt auch
dieser. Es gehört deshalb zu deu nichtswürdigen Pfiffen des Gewerbes der
sozialdemokratischen Agitatoren, wenn sie im geraden Gegensatze zu ihren eignen
Grundlehren die Arbeiter jetzt aufzureizen suchen mit dem Geschrei, Zölle und
indirekte Steuern gingen auf ihre Kosten.

Wenn ^ durchaus nicht gegen die Zeit vor Erlaß der Getreidezölle,
Wohl aber gegenüber dem niedrigsten Stande, den sie vor zwei Jahren und
ziemlich im ganzen Jahrhundert einnahmen — heute die Getreidepreise etwas
höher siud, find es nicht auch die Löhne? Sind diese nicht in noch höherm
Grade gestiegen? Welche andre Ursache für den allgemeinen wirtschaftlichen
Aufschwung einschließlich der Lohnsteigerung in Deutschland giebt es denn, als
""sie Schutzzollpolitik?

Ich spreche vom Durchschnitt. Daß der allgemeinste und beste Geschäfts¬
gang stets örtliche Ausnahmen ausweist, weiß jeder. Ich beklage einige vber-
^rzgebirgische Distrikte, die für Brot mehr zahlen sollen, ohne schon ein dem
wirtschaftlichen Aufschwünge teilzunehmen; aber gerade für sie würde die Auf¬
hebung der Zölle das größte Unglück sein. Sie würden das Brot nicht viel
billiger erhalten, aber infolge der dann eintretenden allgemeinen wirtschaftlichen
Krisis einem Lvhndrucke verfallen, wie er in unsrer Zeit noch nicht erlebt
worden ist.

So viel über den Sozialismus, wie er uns aus der Politik der Regie¬
rung entgegentritt. Aus den Parteien weht freilich ein ganz andrer Geist, und
den will ich jetzt nachweisen.

Die Bestrebungen der Parteien gehen — ganz abgesehen von den Polen,
Dänen, Elsäsfern und Welsen, die das Reich überhaupt nicht wollen — durch¬
aus nicht dahin, die Partei, also das Sonderinteresse, zur Dienerin des Staates,
pudern umgekehrt dahin, den Staat zum Diener der Partei, des Sonder-


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[0549] Nach den Reichstcigswahlen um so Viel billiger verkaufen, und mithin stand die Gesetzgebung vor der Zwangswahl, die deutsche Landwirtschaft entweder zu Grunde gehen zu lassen oder durch Zölle zu schützen. Da nun der Untergang der deutschen Land¬ wirtschaft den Untergang von 25 Millionen Konsumenten für die Industrie bedeutete, der einzigen sichern Konsumenten, die die Industrie überhaupt hat, so konnte auch vom Standpunkte der Industrie aus der vernünftige Gesetzgeber nichts andres thun, als Zölle auflegen. Das Schicksal der Lohnarbeit an sich aber wird von diesen Zöllen nicht nur nicht geschädigt, sondern gar nicht berührt. Denn wie wir aus dem früher erwähnten ehernen Lohngesetze von Rieardv wissen, das, wie gesagt, der Ausgangspunkt und die Stütze der gesamten gegenwärtigen sozialen Be¬ wegung ist, deckt der Lohn im Durchschnitt immer nnr den landesüblichen notdürftigen Lebensunterhalt, sei dieser nun hoch, wie z. B. in großen Städten, oder niedrig, wie z. B. in entlegenen Dörfern. Steigt der Durchschnitt dieses Unterhaltes, so steigt der Durchschnitt des Lohnes, fällt er, so fällt auch dieser. Es gehört deshalb zu deu nichtswürdigen Pfiffen des Gewerbes der sozialdemokratischen Agitatoren, wenn sie im geraden Gegensatze zu ihren eignen Grundlehren die Arbeiter jetzt aufzureizen suchen mit dem Geschrei, Zölle und indirekte Steuern gingen auf ihre Kosten. Wenn ^ durchaus nicht gegen die Zeit vor Erlaß der Getreidezölle, Wohl aber gegenüber dem niedrigsten Stande, den sie vor zwei Jahren und ziemlich im ganzen Jahrhundert einnahmen — heute die Getreidepreise etwas höher siud, find es nicht auch die Löhne? Sind diese nicht in noch höherm Grade gestiegen? Welche andre Ursache für den allgemeinen wirtschaftlichen Aufschwung einschließlich der Lohnsteigerung in Deutschland giebt es denn, als ""sie Schutzzollpolitik? Ich spreche vom Durchschnitt. Daß der allgemeinste und beste Geschäfts¬ gang stets örtliche Ausnahmen ausweist, weiß jeder. Ich beklage einige vber- ^rzgebirgische Distrikte, die für Brot mehr zahlen sollen, ohne schon ein dem wirtschaftlichen Aufschwünge teilzunehmen; aber gerade für sie würde die Auf¬ hebung der Zölle das größte Unglück sein. Sie würden das Brot nicht viel billiger erhalten, aber infolge der dann eintretenden allgemeinen wirtschaftlichen Krisis einem Lvhndrucke verfallen, wie er in unsrer Zeit noch nicht erlebt worden ist. So viel über den Sozialismus, wie er uns aus der Politik der Regie¬ rung entgegentritt. Aus den Parteien weht freilich ein ganz andrer Geist, und den will ich jetzt nachweisen. Die Bestrebungen der Parteien gehen — ganz abgesehen von den Polen, Dänen, Elsäsfern und Welsen, die das Reich überhaupt nicht wollen — durch¬ aus nicht dahin, die Partei, also das Sonderinteresse, zur Dienerin des Staates, pudern umgekehrt dahin, den Staat zum Diener der Partei, des Sonder-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 49, 1890, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341851_206644/549>, abgerufen am 23.07.2024.